Montag, 26. April 2010

Roadkill


Das Buch war nicht an seiner Stelle. Das beunruhigte mich nicht sonderlich, mein eigenes Bibliotheksordnungsystem ist nicht das beste, und es sind einfach zu viele Bücher. Ich brauchte ja auch nur den Titel, den würde ich mit Google schon finden. Das Buch hatte mir mal ein Freund geschenkt, es war ein satirisch böses Buch. Es zeigte, schwarz-weiß im Schattenriss, plattgefahrene Tiere auf amerikanischen Highways. Also gab ich bei Google roadkill ein. Und merkte gleich, dass das ein Fehler war. Alles war vollgemüllt mit Helene Hegemann. Kennen Sie nicht? Deutschlands siebzehnjähriger shooting star, deren Roman Axolotl Roadkill von den Rezensenten in die Nähe von Ilias und Odyssee gerückt wurde, nur mit mehr F-Wörtern drin. Also gaaanz großartig. Nur leider überall geklaut. Aber das macht ja nix. Wenn die Heißluftmaschinen des Feuilletons erstmal angelaufen sind, dann wird alles großartig, Türme und  Feuchtgebiete. Wenn Sie wirklich mal lachen wollen, dann lesen Sie nicht, was Die Zeit über Deutschlands neuen Superstar gesagt hat, sondern das, was die 97 Rezensenten bei Amazon sagen, die dem Buch nur einen Stern gegeben haben.

Mein Gedicht heute handelt von toten Tieren. Die sind ja ein Thema der Dichtung, seit Thomas Gray eine Ode auf seine ➱Lieblingskatze geschrieben hat, die in einer chinesischen Vase ertrank. Und wir hatten hier in diesem Blog im Januar ja schon ➱Philip Larkins anrührendes kleines Gedicht über den Igel, den er mit seinem Rasenmäher totgefahren hatte. Mein Gedicht heute ist von William Stafford und heißt Traveling Through the Dark. Es ist das Titelgedicht einer Sammlung, für die Stafford 1963 den National Book Award erhielt.

Traveling through the dark I found a deer
dead on the edge of the Wilson River road.
It is usually best to roll them into the canyon:
that road is narrow; to swerve might make more dead.

By glow of the tail-light I stumbled back of the car
and stood by the heap, a doe, a recent killing;
she had stiffened already, almost cold.
I dragged her off, she was large in the belly.

My fingers touching her side brought me the reason -
her side was warm; her fawn lay there waiting,
alive, still, never to be born.
Beside that mountain road I hesitated.

The car aimed ahead its lowered parking lights;
under the hood purred the steady engine.
I stood in the glare of the warm exhaust turning red;
around our group I could hear the wilderness listen.

I thought hard for us all - my only swerving -,
then pushed her over the edge into the river.

Wir sind in Oregon, da wo Stafford jahrelang am Lewis and Clark College unterrichtet hat. Für die Situation, da man ein totes Tier auf der engen Gebirgsstrasse findet, scheint es klare Regeln zu geben: it is usually best to roll them into the canyon. Denn to swerve might make more dead. Klingt nur vernünftig. Die Regeln in der Natur werden heute vom Auto und vom Autofahrer gemacht. Aber hier zögert der Fahrer. Zwar ist die Hirschkuh tot, aber das Kitz in ihrem Bauch lebt noch. Was soll er tun? Kann er das Tier ins Auto laden? Gibt es einen Tierarzt in der Nähe? Das Auto will weiter, der Motor bekommt etwas Tierähnliches (under the hood purred the steady engine), die Natur scheint zu warten. Was wird er tun? Für den Dichter Richard Hugo, der die Sentimentalität des Gedichtes beklagte, ist alles klar: Stop thinking hard for us all, Bill, and get that damned deer off the road before somebody kills himself. Richard Hugo war Bombenschütze bei der U.S. Air Force im Zweiten Weltkrieg. Stafford hat den Kriegsdienst verweigert und Zivildienst geleistet, für ihn ist das nicht so einfach. Aber ist dies wirklich ein sentimentales Gedicht? Rod McKuens Thoughts on Capital Punishment, in dem er die Todesstrafe für Autofahrer fordert, die Katzen überfahren, ist ein sentimentales Gedicht. Deshalb verwenden es wahrscheinlich so viele amerikanische Lehrer im Unterricht. Da kann Alf, das liebenswerte Wesen vom Planeten Melmac, nur froh sein, dass McKuen nicht auch noch über ihn geschrieben hat. Wo er doch Katzen liebt, aber anders als Rod McKuen.

Aber im Ernst, William Staffords Gedicht ist ebenso wenig sentimental wie Philip Larkins The Mower. Es ist ein Gedicht voller Emotionen, aber es ist nicht sentimental. Es wirft uns nur in eine Situation, in der wir could hear the wilderness listen. In der wir uns klar werden, dass es noch eine andere Welt als die des Automobilverkehrs gibt, in der wir erkennen, wie weit wir uns von der Natur entfernt haben. Das Gedicht kommt einfach daher, so einfach wie die Gedichte von Robert Frost, mit dem Stafford häufig verglichen worden ist. Aber es täuscht uns ein wenig mit seiner Einfachheit, es ist sehr kunstvoll konstruiert mit seiner Balance zwischen Mitgefühl und Vernunft in einer world remade by Ford and General Motors. Stafford erinnert in seinen Gedichten immer wieder an die verloren gegangene Natur. So in Written on the Stub of the First Paycheck (1966):

Gasoline makes game scarce.
In Elko, Nevada, I remember a stuffed wildcat
someone had shot on Bing Crosby's ranch.
I stood in the filling station
breathing fumes and reading the snarl of a map.

Eine ausgestopfte Wildkatze in einer Tankstelle voller Benzingeruch und eine Autokarte, die das Geräusch eines wilden Tieres wiedergibt, verdichteter lässt sich der Konflikt zwischen Natur und Maschine kaum darstellen.

Auf der Seite www.roadkilltoys.com kann man Spielzeugtiere kaufen, die aussehen, als seien sie von einem Auto überfahren worden. Das ist schon pervers.

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