Sonntag, 4. April 2010

Touristen


Im Sommer 1819 beobachtet ein Engländer in Lausanne in einem Gasthaus eine Gruppe von Landsleuten: einen Gentleman in Begleitung von zwei Damen, sonnenverbrannt von einer Bergtour heimgekehrt. Der ihm unbekannte englische Gentleman am Nebentisch hält eine Brandrede gegen die Verschandelung der Bergwelt, nur weil alle Touristen jetzt mit den Kutschen überall hin fahren wollen, seien Natur und Tierwelt bedroht. Eine ökologisch völlig korrekte Klage. Dann springt er auf, geht zum Fenster und tadelt den Kellner, dass man ihn nicht früher davon benachrichtigt habe, dass seine Kutsche draußen vorgefahren sei. Die Engländer haben schon einen seltsamen Doppelstandard, entdecken den Alpentourismus und klagen dann über die Vernichtung der Natur. Der Gentleman von dem hier die Rede ist, ist kein anderer, als Englands Naturdichter Nummer Eins, Willliam Wordsworth. Edward Trelawny erzählt die Geschichte in seinen Erinnerungen an Shelley und Byron, aber leider ist Trelawny kein so ganz zuverlässiger Zeitzeuge, man hat ihn einmal als eine Kreuzung zwischen einem Byronic hero und dem Baron Münchhausen bezeichnet. Die Jahreszahl ist schon einmal falsch, es ist das Jahr 1820 nicht 1819, als Wordsworth mit seiner Frau und seiner Schwester in Lausanne ist. Aber es ist natürlich eine schöne Geschichte, si non vero è ben trovato.

Wir verdanken einer Kutsche eins seiner bekanntesten Gedichte. Nicht das mit den daffodils, da geht er mit seiner Schwester zu Fuß durch den Lake District. Dichter gehen ja immer zu Fuß, Hölderlin nach Bordeaux, Seume durch halb Europa. Der Dichterfürst Goethe geht nicht zu Fuß, der ist immer zu Pferde. Oder er ist mit seiner schwarz-gelben Kutsche unterwegs, die heute in Weimar steht. 1802 nimmt Wordsworth mit seiner Schwester die Kutsche, die Dover Coach, die morgens um halb sechs von Charing Cross abfährt und englische Touristen zur Kanalfähre befördert. Man kann als Engländer jetzt wieder nach Frankreich, der Friede von Amiens macht es möglich. Wordsworth will seine Tochter Caroline wiedersehen, die ist jetzt zehn. Das Kind aus einer Liaison mit Annette Vallon, damals als Wordsworth noch als Fan der Französischen Revolution in Frankreich unterwegs war.

Written on the roof of a coach, on my way to France September 1802 sei das Gedicht, so hat Wordy es Isabella Fenwick diktiert. Wirklich? Die Kutsche mit Wordsworth überquert die Westminster Bridge am 31. Juli 1802, und Wordsworth ist nicht der Typ, der während der Fahrt oben auf der Kutsche dichtet. Er braucht immer Zeit zum Nachdenken. Denn auch in I wandered lonely as a cloud heißt es in der letzten Strophe:

For oft, when on my couch I lie
in vacant or in pensive mood,
they flash upon my inward eye
which is the bliss of solitude;
And then my heart with pleasure fills,
and dances with the daffodils.

Unser Dichter auf der Couch, der die am See im Wind tanzenden daffodils heraufbeschwört, wird das Gedicht Composed upon Westminster Bridge Monate nach dem Julimorgen geschrieben haben.

Earth has not anything to show more fair:
Dull would he be of soul who could pass by
A sight so touching in its majesty:
This City now doth like a garment, wear

The beauty of the morning: silent, bare,
Ships, towers, domes, theatres, and temples lie
Open unto the fields, and to the sky:
All bright and glittering in the smokeless air.

Never did sun more beautifully steep
In his first splendour, valley, rock, or hill;
Ne'er saw I, never felt, a calm so deep!
The river glideth at his own sweet will:

Dear God! The very houses seem asleep;
And all that mighty heart is lying still!

Ein Gedicht wie eine Postkarte, einfach schön. Nix zu sehen vom Dreck der Industrial Revolution, vom London des Verbrechens. Bei William Blake sieht London anders aus. Und doch gibt es etwas Irritierendes: smokeless air. Dorothy Wordsworth notiert in ihrem Tagebuch: The houses were not overhung by their cloud of smoke. Muss der einzige Tag in London gewesen sein, wo es keinen Smog gab. Aber die romantischen Dichter sind schon Weltmeister im Ausblenden der Umweltverschmutzung durch die Industrial Revolution, das muss man ihnen lassen. Blaue Blumen, aber keine Fabriken. Keine dark Satanic mills, von denen Blake gesprochen hat.

Das Bild ganz oben zeigt die Westminster Bridge (mit ein klein bisschen smoke) im Jahre 1808. Das Bild hier zeigt Philippe Jacques de Loutherbourgs Coalbrookdale at Night (1801). Das ist jetzt das, was die Industrial Revolution aus der Natur nacht. Über die Fabriken hatte schon zuvor Anna Seward in einem Gedicht schon von wasted bloom, O, violated Colebrook geschrieben:

While red the countless fires,
With umber'd flames, bicker on all thy hills
Dark'ning the Summer's sun with columns large
of thick sulphureous smoke..

Gönnen wir unseren romantischen Frankreichreisenden den schönen Morgen in London. Über Coalbrookdale in Shropshire wird Wordsworth niemals ein Gedicht schreiben.

Aber es wird auch Touristen geben, die das Feuer und den Qualm von Coalbrookdale schön finden werden. Der neue ästhetische Begriff des sublime kann auch dazu benutzt werden, Eisenhütten schön zu finden. In zeitgenössischen Reiseführern finden sich Empfehlungen, diese dark Satanic mills bei Anbruch der Nacht zu besuchen. Dann seien sie besonders sublime. So wie auf den Bildern von Loutherbourg und Turner. Heute sind da wieder Touristen, auch tagsüber, da ist Coalbrookdale ein Museum, das an die vergangene industrielle Revolution erinnert, die an diesem Ort begonnen hat.

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