Montag, 6. September 2010

Politische Bildung


Franz Josef Strauß wurde heute vor 95 Jahren geboren. Er war ein deutscher Politiker, der in Bayern auch heute noch seine Verehrer hat, und der in diesem Jahr zur großen Gaudi beim derbleck'n leibhaftig auf dem Nockherberg erschienen ist. Aber von den Kabarettisten abgesehen, werden sich die meisten heute nur noch ungern an ihn erinnern, weil er irgendwie die Verkörperung des hässlichen Deutschen war. Er war auch in beinahe jeden Skandal verwickelt, den die Adenauerrepublik zu bieten hatte. Diese Skandale hatten Namen wie ➱Starfighter, ➱HS 30, Fibag, Onkel Aloys. Und dann noch die Spiegel-Affäre. Danach war für ihn erst einmal politisch Schluss. Dass er sich in New York von einer Nutte seine Brieftasche hatte klauen lassen, hat ihm nicht weiter geschadet.

Ich habe Franz Josef Strauß ein einziges Mal erlebt, und es war für mich ein schreckliches Erlebnis, von dem ich keine Minute vergessen habe. Wir bekamen in der amerikanischen Enklave Bremen in der Nachkriegszeit im Zuge der re-education ja ein musterhaftes Demokratieideal an der Schule vermittelt (und überdurchschnittlich viele meiner Mitschüler sind Politiker geworden). Demokratisches Ideal gab es genug, aber irgendwie sah es, wenn man dem Spiegel glaubte (der damals noch ein ganz anderes Niveau hatte als heute), in Bonn doch etwas anders aus als in unserem Gemeinschaftskundeunterricht. Von daher gesehen, war der Auftritt von Herrn Dr. Strauß in meinem Heimatort geradezu eine lebendige Geschichtsstunde. Und so erzähle ich diese kleine Geschichte aus dem Anfang der sechziger Jahre an seinem Geburtstag gerne einmal.

Der Schauplatz ist die Strandlust in Bremen-Vegesack, ein großes Ausflugslokal und Hotel an der Weser, sozusagen das beste Haus am Ort. Hat auch einen riesigen Saal, der normalerweise als Tanzfläche für Bälle genutzt wird. ➱Abtanzbälle, Abibälle oder der Ball des örtlichen Rudervereins. Als der 1952 im Zweier mit Steuermann bei den Olympischen Spielen eine ➱Silbermedaille gewonnen hatte, war hier richtig was los. Ich bin heute, wie viele von meiner Schule, eigentlich wegen des Sensationellen da, nicht weil ich von Franz Josef Strauß etwas lernen möchte, obgleich er immer den besserwissenden Studienrat raushängen lässt.

So prollig wie er ist, muss er das wahrscheinlich immer betonen, dass er Doktor Strauß ist und Volllateiner (wird er auch an diesem Tag tun). Er ist jetzt Verteidigungsminister, aber von Skandalen schon schwer angeschlagen. Wenn es ihn nicht gäbe, hätte der Spiegel nichts zu schreiben. Heute redet er nun in der Strandlust. Die Bonner Republik kommt jetzt zu uns. Vorher war ➱Theodor Heuss einmal hier, um einen Seenotrettungskreuzer der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger auf seinen Namen zu taufen. ➱Adolf von Thadden wird auch hierher kommen. Der hat eine neue Partei, die NPD heißt. Da sind dann aber lediglich dreißig Leute in die Strandlust gekommen (das weiß ich, weil ich dabei war). Herr von Thadden wird nur deshalb in unseren Ort kommen, weil hier sein Geldgeber, der Ziegeleibesitzer Fritze Thielen, zu Hause ist. Der finanziert jetzt die neuen Nazis. Seine hübsche Tochter hat sich immer für den Vater geschämt. Die neuen Nazis werden auch in Bremen in die Bürgerschaft einziehen. Neonazi zu sein, ist offensichtlich fünfzehn Jahre nach dem Kriegsende schon wieder chic.

Als ich mit meinem Vater (der unbedingt einmal Strauß sehen wollte) zur Strandlust komme, ist die schon voll. Keine Chance mehr, da reinzukommen. Strauß ist noch nicht da, hat sich verspätet, sein Flugzeug ist in Oldenburg gelandet. Er verbindet den Wahlkampfauftritt in Vegesack mit einem nominellen Truppenbesuch in Oldenburg. Dass das ein Missbrauch von Steuergeldern ist, interessiert in der Adenauerrepublik niemanden. Strauß kommt mit der Fähre über die Weser.

Steigt aus dem Auto aus und geht, von der Polizei begleitet, huldvoll lächelnd und von Zeit zu Zeit einen Arm hebend, die ➱Strandstraße (Bild) entlang. Hätte er zehn Jahre später nicht mehr gekonnt, dann wäre ihm das Gleiche passiert, was jetzt Tony B-liar in Irland passiert ist. Aber die sixties haben erst angefangen, jetzt ist noch alles gesittet und friedlich. Als die Polizei ihn durch den Seiteneingang vom Sommergarten in die Strandlust gebracht hat, sagt der Revierleiter der Vegesacker Polizei unten an der Fähre zu seinen Polizisten: Das war’s. Wir rücken ab. Ich höre seine Worte noch, als wäre es gestern gewesen. Ich kenne den Polizeioffizier, er ist der Vater eines Klassenkameraden, eigentlich ist er ein vernünftiger Mann. Aber jetzt hat er einen Fehler gemacht.

Denn kaum ist Strauß im Saal, und kaum ist die Polizei abgerückt (die auf dem Weg zur Wache erst noch im Fährhaus ein Bier trinken wird), werden im Saal zahlreiche Ladungen von Buttersäure geworfen. Den Geruch kennt man aus dem Chemieunterricht. Tausend Leute versuchen in Panik, aus der Strandlust zu entkommen. Und tausend Leute draußen versuchen jetzt, ihre Chance zu nutzen, um in die Strandlust zu kommen. Schichtwechsel der Besucher. Ich klettere mit meinem Vater über einen Tisch des Gartenrestaurants durch ein offenstehendes Fenster in die Strandlust. In dem allgemeinen Gewühl verliere ich ihn, aber ich mache mir deshalb keine Sorgen. Wenn ein seriöser Bürger, der auf die Fünfzig zugeht, über Gartentische durch ein Fenster klettert, dann wird er sich auch in dem Pandämonium des Strandlustsaales zurechtfinden. Ich finde einen Sitzplatz bei einigen Mitschülern. Meine halbe Schule ist da. Es stinkt fürchterlich. Was kannste bei Strauß anderes erwarten als Gestank? sagt ein Witzbold. Wir haben tränende Augen, halten uns Taschentücher vor die Nasen, aber das hilft auch nicht viel.

Die Veranstaltung beginnt mit einer Verspätung von einer Stunde. Der Saal wird etwas abgedunkelt, alles Licht ist jetzt auf dem kleinen Mann, der da vorne mit einem roten Kopf tobt und schreit. Dieser Mann soll Klassische Philologie studiert haben und rhetorisch gewandt sein? Er ist nur ein brüllender Gernegroß ohne Hals, der Hitler und Goebbels imitiert. Wir haben erst vor kurzem Erwin Leisers Mein Kampf in Bremen gesehen. War eine Pflichtvorführung für alle Bremer Schulen. Das Gegeifere von Hitler war nicht schlimmer als dies hier. Der Saal der Strandlust wird zum Bürgerbräukeller. Unser Biologielehrer Ernstaugust Michaelis, der mit einer Wortmeldung der kruden Argumentation des Altphilologen da vorne etwas entgegensetzen möchte, kriegt eine blutige Nase und wird von den Schlägern von Strauß aus dem Saal geschleppt. Große Kerle mit niedriger Stirn, buschigen Augenbrauen und bayrischer Trachtenverkleidung. Ernstaugust Michaelis ist am nächsten Tag der Held unserer Schule. Für Strauß wird es teuer, dass er am Anfang seines Gebrülls irgendwelche kleinen linken Parteien als Drahtzieher für die Buttersäureattacke benannt hat. Der Spiegel wird später mit leichter Süffisanz darüber berichten, dass er fünfstellige Summen an wohltätige Organisationen zahlen muß. Bei der Bundestagswahl 1961 wird wieder Konrad Adenauer Kanzler werden. Ich darf noch nicht wählen, weil man damals erst mit einundzwanzig das Wahlrecht bekommt. Aber ich weiß, wen ich niemals wählen werde.

Ein Jahr später gibt Strauß dem Militärattaché in Spanien, Oberst Achim Oster, den Befehl, den Spiegel Chefredakteur Conrad Ahlers durch die spanische Polizei verhaften zu lassen. Conrad Ahlers hatte den Artikel Bedingt abwehrbereit geschrieben. Strauß hatte hackevoll (fürs Protokoll: in einem Zustand der Übermüdung und allgemeiner physischer Überlastung) zwei Tage vorher bei einem Empfang in Schloss Brühl schon angekündigt, dass er etwas gegen den Spiegel unternehmen werde. Der Sohn des hingerichteten Widerstandshelden General Hans Oster, ein bayrischer Duz-Freund, führt diesen Befehl auch brav aus. Er hätte es nicht tun dürfen, aber vom Geist seines Vaters hat dieser Mann nichts an sich. Der CSU Mann Achim Oster wird dank seiner Parteizugehörigkeit noch General werden und sich für die Wiedereinführung des Arbeitsdienstes einsetzen. Konrad Adenauer sagte damals im Deutschen Bundestag Wir haben einen Abgrund von Landesverrat im Lande. Da ist die Spiegel-Affäre auf ihrem Höhepunkt. Von Juristen und Journalisten werden jetzt Parallelen zum Weltbühne-Prozess gezogen. Lernen wir jemals aus der Geschichte?

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