Dienstag, 26. Oktober 2010

Gustav Seitz


Gustav Seitz, sagte die junge Kunsthistorikerin, als sie den kleinen weißen Torso auf der schwarzen Lautsprecherbox in meinem Wohnzimmer zum ersten Mal sah. Nein, sagte ich, Onkel Karl. Aber Astrid hatte im Prinzip schon Recht, die Plastik könnte von Gustav Seitz sein. Obgleich man einen Torso bei ihm nicht so häufig findet: In meiner Arbeit kommt der Torso wenig vor. Dabei verstehe und teile ich die Liebe zum Fragment. Der Reiz des Unvollendeten ist in ähnlicher Weise verführerisch, wie die Zeichnung meistens unmittelbarer ist als das ausgeführte Werk. Jeder Kollege weiß, wie schwer es ist, die Freiheit und die Frische, die vielleicht dem Entwurf eigen sind, hinüberzuretten zu in die fertige Arbeit. Es findet sich im Anfang oft bereits das Große, das zum Schluß durch die Freude am Detail verdeckt werden kann.

Gustav Seitz, der heute vor einundvierzig Jahren gestorben ist, war einer der bedeutendsten deutschen Bildhauer der Nachkriegszeit. Und ein deutsch-deutscher Bildhauer, weil er sowohl in der Deutschen Demokratischen Republik als auch der Bundesrepublik tätig war. Er hat eine Ausbildung als Steinmetz abgeschlossen, bevor er in Karlsruhe und Berlin studierte, ist auch in den zwanziger Jahren in Paris gewesen und hat die Plastiken von Maillol bewundert (der sein Frühwerk stark beeinflusst hat). Er ist sowieso viel gereist. In Berlin, wo er ab 1925 wohnte, war Hugo Lederer einer seiner Lehrer. Den kennt zwar heute keiner mehr, aber sein Bismarck Denkmal, das kennt jeder Hamburger - und auch jeder Tourist. Mit den Nazis hat Seitz nichts im Sinn gehabt, er hat auch damals keine Aufträge bekommen oder angenommen (irgendeine Terrakotta für das Reichssportfeld mal ausgenommen). Von 1940 bis 1945 ist er Soldat gewesen. Als er nach kurzer amerikanischer Gefangenschaft nach Berlin zurückkehrte, lag sein Atelier in Schutt und Asche. Alle seine Arbeiten waren vernichtet.

1946 ist er Professor an der TU Berlin in Charlottenburg geworden. Aber da hat man ihn 1950 gefeuert, politisch untragbar, weil er den Nationalpreis der DDR für das Mahnmal gegen den Faschismus in Berlin-Weißensee bekommen hat. Und Mitglied der (Ost-) Berliner Akademie der Künste geworden war. Das darf man jetzt im Kalten Krieg nicht tun, ein Mahnmal gegen den Faschismus gestalten und in der falschen Akademie sein. Dabei ist die Deutsche Akademie der Künste der Rechtsnachfolger der Preußischen Akademie und nimmt für sich in Anspruch, für ganz Deutschland zu sprechen. Noch 1952 ist Gustav Seitz als Beauftragter der Akademie zum Berliner (West) Kultussenator Joachim Tiburtius gegangen, um mit ihm über den Status der Akademie zu verhandeln. Tiburtius hat ihn gar nicht erst empfangen. Gustav Seitz ist 1950 nach Ostberlin gezogen, wo er dann ein Meisteratelier an der Akademie der Künste bekam.

Mein Onkel Karl (hier sein Gorki) ist ihm als Meisterschüler von Berlin-West nach Berlin-Ost gefolgt. Er ist eine Generation jünger als sein Lehrer, war aber nach dem Abitur ebenso wie der von 1940 bis 1945 im Krieg. Nach dem Krieg wollte er erst einmal als Steinmetz arbeiten, hatte auch eine Stellenzusage für die Domhütte in Köln, bekam aber keine Zuzugsgenehmigung. Da hat er dann in Berlin studiert, zuerst an der TU Berlin und dann an der Hochschule für bildende Künste. Ist dann, zum Entsetzen der Familie, seinem Lehrer vom Westen in den Osten gefolgt. Ist freischaffender Künstler geworden, später auch Dozent an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee. Aber Karl Lemke hatte keine Rückfahrkarte gebucht wie Gustav Seitz, dem das Regime erlaubte, beliebig als Wanderer zwischen zwei Welten von Ost nach West zu pendeln. Seitz ist auch damals viel gereist, zum Beispiel nach China, von wo er Ideen für eindrucksvolle Plastiken mitgebracht hat.

Wie zum Beispiel Kim Ir-Gu von 1951. Natürlich ist er auch in Moskau und Leningrad gewesen (mein Onkel Karl auch), das ist ja damals für DDR Bildhauer de regueur. Aber so ganz geheuer war er den Machthabern wohl nicht. Sein Buch Studienblätter aus China mit dem Vorwort von Anna Seghers ist unmittelbar nach Erscheinen eingestampft worden. Schon vorher hatte er sehr laut und energisch Stellung bezogen, als ein gewisser linientreuer Kurt Magritz in der sogenannten Formalismusdebatte unter anderem den Bildhauer Ernst Barlach scharf angegriffen hatte. Und forderte, die in einem inhaltslosen Formalismus herabgesunkene und durch banale und niedrige Inhalte degenerierte Kunst wieder auf die Höhe der Einheit von Inhalt und Form, das heißt auf die Höhe der klassischen und harmonischen Schönheit zu heben. Seitz hat Magritz öffentlich einen Dilettanten genannt und vehement für Barlach Partei ergriffen. Er fand dabei die Zustimmung von Ernst Bloch, der ihm 1952 in einem Brief schrieb: Auf philosophischem Gebiet gibt es Parallelen zu diesem Magritz ... Der gleiche freche Größenwahn. Sie nehmen Rache am Geist, den sie nicht haben und kennen. Sie verwandeln die Künstler- und Gelehrtenrepublik in einen Polizeistaat.

Seitz hat 1958 die DDR verlassen (nachdem er schon 1953 erfolglose Berufungsverhandlungen in Kassel geführt hatte) und die Professur in Hamburg angenommen, die der zuvor verstorbene Edwin Scharff an der Hochschule für Bildende Künste innegehabt hatte. Das ist die Hochschule, die im Volksmund nur Li-La-Lerchenfeld heißt, und die dieses wunderbare Jugendstilfenster von Carl Otto Czeschka hat (worüber es ein schönes Buch von Bettina Berendes gibt).

Gustav Seitz ist nicht nur Bildhauer gewesen, er ist auch ein hervorragender Zeichner gewesen. Die Kunsthalle meiner Heimatstadt Bremen hatte schon 1951 eine Zeichnung von ihm gekauft und zwei Jahre später die Plastik Hope Foy. Insgesamt besitzt die Kunsthalle Bremen mehr als dreißig seiner Arbeiten. Da hat der Direktor Günter Busch mal auf das richtige Pferd gesetzt. Wenn Seitz 1958 nach Hamburg zieht, bleiben ihm noch zehn Jahre seines Lebens. Diese zehn Jahre bedeuten beinahe hundert Ausstellungen, documenta und Biennale, internationale Ehrungen. Sein zeichnerischer Stil (und davon gibt es unten eine Abbildung) erinnert manchmal etwas an Picasso, manchmal an den Dänen Björn Wiinblad. Ich persönlich finde dies kleine Bert Brecht Portrait sehr gelungen. Ist witziger als sein Letzter Brecht Kopf (oben).

Zwei Jahre, bevor er nach Hamburg ging, hatte es in seinem Geburtsort Mannheim eine große Ausstellung zu seinem fünfzigsten Geburtstag gegeben (die dann nach Bremen weiterwanderte). Und in der Nationalgalerie in Berlin (Ost) wurde ein Kabinett mit seinen Skulpturen eingerichtet. Er hat sich als Bildhauer bewusst nie - wie die meisten seiner Kollegen in der DDR - von der figürlichen Darstellung gelöst, eine abstrakte Moderne war nichts für ihn. Seine Plastiken, wie die Käthe Kollwitz Statue, die die Kollegin alt und müde, aber würdevoll zeigt, oder die Büste von Thomas Mann (die er selbst dem Jubilar zum 80. Geburtstag nach Zürich brachte) haben etwas Zeitloses, das jenseits der Mode ist. Obgleich man natürlich als Bildhauer mit solchen Dingen immer auf der richtigen Seite ist. Wobei ich allerdings gestehen muss, dass mein Urteil hier wenig gilt, weil ich nichts davon verstehe. Was ich allerdings sicher weiß (dank alter Ausstellungskataloge, in denen Onkel Karl vertreten ist), ist, dass die Bildhauerei in der DDR auf einem handwerklich und künstlerisch hohen Niveau ist. Auch wenn Namen wie Will Lammert, Heinrich Drake, Werner Stötzer, Wilfried Fitzenreiter, Lore Plietsch, Rolf Winkler und Margret Middell vielleicht nur dem Fachkundigen etwas bedeuten. Aber Bildhauer werden nun mal nicht so bekannt, wenn sie nicht gerade Rodin heißen. Bei Malern geht das leichter, da braucht man nur ein Bild falsch herum aufzuhängen und sich Baselitz zu nennen, schon ist man berühmt.

Ich habe mich in meinem ganzen Kunstgeschichtsstudium elegant um alle Lehrveranstaltungen gedrückt, die sich mit der Bildhauerkunst beschäftigten. Wenn überhaupt welche offeriert wurden, das Studium sah ja damals noch etwas anders aus. Es gab keinen Studienplan und keine Studienordnung, man besuchte alle Lehrveranstaltungen, die angeboten wurden. Zum Examen konnte man sich melden, wenn der Professor fand, dass man reif genug dafür sei. Das fand er bei manchen jungen Damen nie. Ich erinnere mich noch, wie eine große Blondine aus dem Dienstzimmer des Ordinarius stürmte, die Tür hinter sich zuwarf und durch die Bibliothek brüllte: Und jetzt lerne ich Kindlers Malerei Lexikon auswendig! Es gab in dem Fach damals viele hübsche junge Frauen, weil reiche Väter dies als das geeignete Bildungsfach für ihre Töchter empfanden, das sie so lange studieren konnte, bis sie heirateten. Es gab an der Uni, an der ich war, auch nur ganz wenig Studenten der Kunstgeschichte, nämlich ungefähr 28 (diese Zahl wird heute Professoren und Studenten des Faches Kunstgeschichte Tränen in die Augen treiben). Das bedeutete, dass bei einer Exkursion alle Studenten plus drei Professoren und einem Oberassistenten im Unibus Platz fanden. Ich habe damals sehr viel gelernt, aber ich weiß auch, dass man solche Studienbedingungen nicht wieder bekommen wird.

Wenn ich sage, dass ich nichts von Plastik verstehe, dann soll das nicht heißen, dass ich nicht einen Rodin, einen Maillol oder Moore (der Seitz 1960 in Hamburg im Lerchenfeld besuchte) auf einen Blick erkenne. So ist denn doch nicht. Aber jemand wie Louis Tuaillon (vor hundert Jahren in Bremen und Berlin hoch geschätzt) ist definitiv nichts für mich. Noch schlimmer wäre Wieland Förster zum Beispiel. Da wäre ich sogar bereit, den Bremer Bildhauer Emil Mrowetz gut zu finden, mit dem mein Vater befreundet war, und dessen Werke ich alle kenne, aber keineswegs mag. Obgleich ich mal bei ihm Zeichenunterricht gehabt habe und eine kleine Plastik von ihm besitze.

Wenn ich das da oben nicht schon einmal im Park des Schlosses Gottorf gesehen hätte, dann wüsste ich nicht, dass es die Flensburger Venus von Gustav Seitz ist. Die Astrid, die wüsste das schon, weil sie ein richtiger Profi auf dem Gebiet der Plastik ist und Ausstellungen organisiert und Kataloge schreibt. Und manchmal die Plastiken ihres Museums nach Frankreich, Italien und Amerika begleitet, wenn die dort ausgestellt werden. Da muss natürlich immer ein Fachmann beim Ausladen und Aufstellen dabei sein. Damit das nicht falsch herum aufgestellt wird. Also, die Flensburger Venus kriegt man nicht anders als so aufgestellt, aber es sind schon bei abstrakter Kunst, wo keiner weiß, wo unten und oben ist, seltsame Dinge vorgekommen. Wie zum Beispiel die Sache mit der Badewanne von Beuys.

Und ich habe einmal in einer Kunsthalle gesehen (wo ich mich sorgfältig im Nebenraum verbarg, weil der ganze Vorgang so komisch war), dass der Kustos der Kunsthalle ein modernes Holzkunstwerk, das in sich zusammenzufallen drohte, mit kleinen Nägeln und einem Hammer wieder zu einem intakten Kunstwerk machte. Vorher hatte er sich verstohlen nach allen Seiten umgesehen. Ich fand das sehr pragmatisch. Es ist ja das Schöne an der gegenständlichen Kunst, dass man weiß, wo oben und unten ist.

Auch wenn man manchmal nicht weiß, ob es Kunst ist. Wie Andy Warhol, der von Joseph Beuys ein Kunstwerk als Geschenk bekommen hat: Wir frühstückten mit Joseph Beuys. Er bestand darauf, dass ich in sein Haus komme und mir sein Atelier anschaue. Ich sollte sehen, wie er lebt, mit ihm Tee trinken und Kuchen essen. Es war sehr nett. Er schenkte mir ein Kunstwerk, das aus zwei Flaschen mit Sprudelwasser bestand. Sie explodierten in meinem Koffer und zerstörten alles, was ich mithatte. Ich kann den Koffer nicht aufmachen, weil ich nicht weiß, ob es sich noch um ein Kunstwerk handelt oder nur um zerbrochene Flaschen. Wenn er nach New York kommt, muss ich ihn dazu bringen, den Koffer zu signieren, denn sonst ist er zu nichts mehr zu gebrauchen.

Es gibt in Hamburg-Blankenese in dem ehemaligen Atelier des Künstlers eine Gustav Seitz Stiftung, die auch eine Internetpräsenz zeigt. Und es gibt seit dem Frühjahr 2010 ein Buch von Joist Grolle Gustav Seitz. Ein Bildhauer zwischen Ost und West. Der Autor Joist Grolle war einmal Präses der Hamburger Kultusbehörde. Das waren noch Zeiten. Jetzt haben die da jemanden namens Reinhard Stuth, für den sich halb Hamburg schämt. Und der, so schrieb die Süddeutsche Zeitung letztens, in die Geschichte eingehen wird als derjenige, der in vier Wochen mehr Schaden angerichtet haben wird als alle seine Vorgänger seit dem Krieg zusammen. Herr Stuth war noch nicht in der Hamburger Oper oder dem Schauspielhaus, und wer Gustav Seitz war, das wüsste er auch nicht. Wahrscheinlich war er auch noch nicht im Neuen Museum in Berlin, um die Goldlettern über dem Eingang zu lesen Artem non odit nisi ignarus. Wahrscheinlich kann er auch kein Latein.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen