Sonntag, 20. Februar 2011

Landpartie


Und an der leitenden Hand des Jünglinges hüpfte die Jungfrau
Furchtsam über die Steine, gelegt für die Schritte des Wanderers;
Trat auf den Steg, und hob das eine Füßchen mit Vorsicht
Über den hohen Zaun, enthüllt bis zur Blume des Zwickels,
Ordnete scheu ihr Gewand, und schwang sich dann eilend hinüber.
Mühsam stiegen sie nun durch Haselgebüsch den schrägen
Ausgeregneten Pfad, der zur Seite des Bergs sich herumschwang;
Und tiefathmend begann das rosenwangige Mägdlein:

Stehn Sie ein wenig still; mir pocht das Herz! Wie erfrischend
Ueber den See die Kühlung heraufweht! Und wie die Gegend
Ringsum lacht! Da hinab langstreifichte, dunkel- und hellgrün
Wallende Felder voll Korn, mit schimmernden Blumen gesprenkelt!
Dort das umbüschte Dorf, und der Thurm mit dem blinkenden Seiger!
Hier auf blumiger Wiese die röthlichen Küh', und der Hügel
Von Buchweizen umblüht; und der blaue See mit der Waldung!
Schaut doch umher, ihr Kinder, und freut euch!


Man erkennt die Gegend nicht gleich wieder, aber hier wandert man um den Plöner See, nachdem man ein Picknick im Grünen gemacht hat. Wir sind im 18. Jahrhundert, da ist man empfindsam. Und man begeistert man sich für die Natur. Die Sprache des Dichters ist ein wenig gewöhnungsbedürftig, ein so schönes elastisches Vermaß wie den Blankvers der Engländer hat das Deutsche nicht. In dieser Zeit, die sich dem Klassizismus verschreibt, verwendet man gerne alle möglichen Versmaße, die für die lateinische Sprache vielleicht angemessen waren. Und selbst wenn die Verse etwas schlichter daherkommen, die uns gestelzt vorkommende Sprache bleibt:

Schön ist die Flur, mit Perlen überhangen,
Worin das Bild der Sonne strahlt,
Schön ist das Volk der Blumen, deren Wangen
Die Abendröthe mahlt.

Schön ist das Thal, und die beblümte Weide,
Wo manche Wollenheerde geht,
Sobald der Tag, im purpurrothen Kleide,
Auf den Gebirgen steht.

Schön ist der Hayn, der einen grünen Schleyer
Von Dämmrung um die Hirtin zieht,
Wenn Sirius die Luft beherrscht und Feuer
Aus ofnem Schlunde sprüht.

Schön ist der Bach, der plätschernd durchs Gewimmel
Der Blümchen, das ihm Reize leyht,
Die Wellchen rollt, wenn ihn der Abendhimmel
Mit Purpur überstreut.


Die können ja nicht einfach Schafe sagen, diese Dichter. Das muss schon eine Wollenheerde sein. Da ist man für die röthlichen Küh' im Gedicht oben geradezu dankbar. William Wordsworth hat sich energisch gegen diese poetic diction gewandt. Der Dichter mit der Wollenheerde ist Ludwig Christoph Heinrich Hölty, er wird in unserem ersten Gedicht beklagend erwähnt:

Sie umschauten die weithin lachende Landschaft,
Plauderten viel, und sangen empfundene Lieder von Stolberg,
Bürger und Hagedorn, von Claudius, Gleim und Jacobi;
Auch, Freund Hölty, von dir, und beklagten dich, redlicher Jüngling!


Der erste Text ist von Johann Heinrich Voß, der heute vor 260 Jahren geboren wurde. Das Gedicht hat den Titel Luise. Ein ländliches Gedicht in drei Idyllen, und es ist erstaunlicherweise über hunderte von Jahren bei Lesepublikum beliebt gewesen. Die Illustrationen der Originalausgabe sind von Daniel Chodowiecki. Nachgestochen von Heinrich - man mag den Namen ja gar nicht mehr hinschreiben - Guttenberg. Diese Idylle ist jetzt eine neue Literaturform, eine Art von Klein-Epos. Das sind nicht mehr die arkadischen Idyllen von Salomon Geßner, deren kindliche Herzlichkeit Goethe irgendwann furchtbar auf den Keks ging. Wir sollten uns nicht von dem Namen Idylle täuschen lassen. Zwar präsentiert uns Luise eine spießbürgerliche Idylle, in der die Natur immer für einen Spaziergang gut ist, an dessen Ende die Tasse Kaffee oder das Glas Wein stehen. Aber die ersten Idyllen von Voß, die unter dem Titel Die Leibeigenschaft gesammelt sind, sehen ganz anders aus. Da hinein hat der Enkel eines Leibeigenen viel revolutionäres Zeug geschrieben, und das mehr als ein Jahrzehnt vor der Französischen Revolution:

Hättest du Fronarbeiten versäumt, zu entschuldigen wär es.
Was? noch Treue verlangt der unbarmherzige Fronherr?
Der, mit Diensten des Rechts (sei Gott es geklagt) und der Willkür,
Uns wie die Pferd abquälet und kaum wie die Pferde beköstigt?
Der, wenn darbend ein Mann für Weib und Kinderchen Brotkorn
Heischt vom belasteten Speicher, ihn erst mit dem Prügel bewillkommt,
Dann aus gestrichenem Maß einschüttet den kärglichen Vorschuß?
Der auch des bittersten Mangels Befriedigung, welche der Pfarrer
Selbst nicht Diebstahl nennt, in barbarischen Marterkammern
Züchtiget und an Geschrei und Angstgebärden sich kitzelt?
Der die Mädchen des Dorfes mißbraucht und die Knaben wie Lastvieh
Auferzöge, wenn nicht sich erbarmeten Pfarrer und Küster,
Welche, gehaßt vom Junker, Vernunft uns lehren und Rechttun?
Nein, nicht Sünde fürwahr ist solcherlei Frones Versäumnis!
Doch für des Einbruchs ganz ehrlose Beschuldigung, Michel,
Als rechtschaffener Kerl, geh dreist nach Schwerin und verklag ihn,
Daß dir Gerechtigkeit werde von unserem gnädigsten Landsherrn!

Aber auf die Gerechtigkeit durch den Herzog will der Michel nicht warten:

Hans! mir empört sich das Herz! Ich lasse dem adligen Räuber
Einen rötlichen Hahn auf das Dach hinfliegen die Nacht noch,
Zäume den hurtigsten Klepper im Stall und jage nach Hamburg! 

Dass er wie der Michael Kohlhaas das Recht in die eigene Hand nimmt, kann gerade noch verhindert werden. Aber das revolutionäre Pathos scheint hier überall schon durch. Und wir müssen das auch einmal ganz klar sehen, der Mann, den wir als Übersetzer von Ilias und Odyssee als einen Geistesriesen des 18. Jahrhunderts betrachten, kommt von ganz unten. Die übrigen Mitglieder des Hainbunds sind Söhne von Beamten und Pastoren, die Grafen Stolberg sind adlig. Über die Gründung des Hainbunds hatte Voß in einem Brief geschrieben: Ach, mein liebster Freund, da hätten Sie hier sein sollen. Die beiden Millers, Hahn, Hölty, Wehrs und ich gingen noch des Abends nach einem entlegenen Dorfe. Der Abend war außerordentlich heiter und der Mond voll. Wir überließen uns ganz den Empfindungen der schönen Natur. Wir aßen in einer Bauernhütte eine Milch und begaben uns darauf ins freie Feld. Hier fanden wir einen kleinen Eichengrund, und zugleich fiel uns allen ein, einen Bund der Freundschaft unter diesen heiligen Bäumen zu schwören. Wir umkränzten die Hüte mit Eichenlaub, legten sie unter den Baum, fassten uns alle bei den Händen, tanzten so um den eingeschlossenen Stamm herum, - riefen den Mond und die Sterne zu Zeugen unseres Bundes an, und versprachen uns ewige Freundschaft.

Pfadfinderromantik und Bäumeknutschen. Jetzt ist er unter Gleichen im Geiste angekommen. Es ist die klassische Bildung (die er sich hart erarbeitet hat), die Voß seine Position im Bürgertum der Aufklärungszeit garantiert. Klassik ist ja immer gut, vor allem für die literarischen Aufsteiger, die nouveaux riches der Literatur. Wenn heute der Begriff Klassik fällt, denken wir nicht weiter nach. Aber dieser Voß hat auch eine dunkle Seite, neben den revolutionären Versen (und Gesellschaftskritik findet sich selbst in Luise), neben auf Krampf gesuchter Klassik, schreibt er auch noch Schweinkram wie:

Sind meine Klöt nur voll von Feuer,
Und macht mein Schwanz sein Meisterstück,

Dann bin ich reich bei einem Dreier,
Und scheiße fast auf alles Glück.


So etwas steht nicht an der Klotür einer Schule, das schreibt der Rektor der Eutiner Gelehrtenschule, der sich mit dem Titel Hofrat schmücken darf. Ich lasse den Rest von An Priap jetzt mal weg, man kann ihn ☞hier nachlesen. Nachdem wir das jetzt wissen, bekommt das enthüllt bis zur Blume des Zwickels beim Überklettern von Zäunen durch junge Frauen auch eine neue Dimension. Verbalerotik? Geheime Wünsche? Die Priapischen Oden sind im Jahre 1800 anonym erschienen, einer der Verfasser war neben Voß der Graf Friedrich Stolberg. Als der im gleichen Jahr zum Katholizismus übertrat, kündigte sein Hainbund- und Priapsbruder Voß seinem Gönner die Freundschaft und veröffentlichte seine Schmähschrift Wie ward Fritz Stolberg ein Unfreier? 

Er ist jetzt auch in seiner neuen Bürgerlichkeit gegen alles was nicht klassisch oder Familie und Tass Kaff ist, eigentlich ist er das vorweg genommene Spießbürgertum des Biedermeier. Er hasst die Romantiker. Und attackiert sogar in dem so genannten Sonetten-Krieg den Olympier Goethe wegen seiner Sonette. Der mit olympischer Gelassenheit an seinen Freund Zelter schreibt: Wenn Ihnen das Vossische Sonett zuwider ist, so stimmen wir auch in diesem Puncte völlig überein. Wir haben schon in Deutschland mehrmals den Fall gehabt, daß sehr schöne Talente sich zuletzt in den Pedantismus verloren. Und diesem geht's nun auch so. Für lautere Prosodie ist ihm die Poesie ganz entschwunden. Und da hat Goethe nun mal Recht. Pedantrie und ein streitbarer, engstirniger und prinzipientreuer Vertreter eines starren, rationalen Klassizismus (Gero von Wilpert) -  kommt uns das nicht irgendwie bekannt vor? Haben wir Deutsche uns je geändert? Irgendwie ist mir der Johann Heinrich Voß nicht ganz geheuer.

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