Mittwoch, 23. März 2011

Stendhal


Sie fliehen nicht. Gott bewahre! Diesen Franzosen darf man die Wahrheit nicht sagen, wenn sie ihre Eitelkeit verletzt. Das sagt der junge Fabrice del Dongo in Die Kartause von Parma. Er ist Italiener, er darf so etwas über die Franzosen sagen. Aber er bewunderte die Franzosen als sie nach Italien kamen, jetzt ist er als Freiwilliger in Napoleons Armee. Und stolpert in die Schlacht von Waterloo hinein. Die ganz anders aussieht, als der Siebzehnjährige sich das in seinen Träumen vom Ruhm vorgestellt hat.

»Welcher Marschall?« »Der Marschall Ney, du Schafskopf! Wo hast du denn bis jetzt gestanden?« Fabrizzio, sonst so empfindlich, dachte gar nicht daran, sich über die Beleidigung zu ärgern. In kindlicher Bewunderung starrte er den berühmten Fürsten von der Moskwa an, den Tapfersten der Tapferen. Plötzlich ritt alles wieder in starkem Galopp an. Ein paar Augenblicke später bemerkte Fabrizzio zwanzig Schritt vor sich auf einem umgeackerten Stück Feld eine eigentümliche Erscheinung. Der Grund der Ackerfurchen stand voll Wasser, und von der sehr feuchten Erde, die den Kamm der Furchen bildete, spritzten kleine schwarze Stückchen drei bis vier Schritt hoch, Fabrizzio beobachtete diesen sonderbaren Vorgang im Vorbeireiten, dann verloren sich seine Gedanken wieder in Träumereien über den Heldenruhm des Marschalls. Da vernahm er einen gellenden Schrei neben sich. Er kam von zwei Husaren, die, von Geschossen getroffen, stürzten, und als er sich nach ihnen umsah, lagen sie schon zwanzig Schritt hinter den Reitern. Etwas machte ihm einen grausigen Eindruck: Ein blutüberströmtes Pferd wälzte sich auf dem Acker und verwickelte sich mit den Beinen in seine eigenen Gedärme; es wollte den anderen nach. Das Blut rann in den Kot. ›Ah! Jetzt bin ich doch endlich im Feuer!‹ sagte sich Fabrizzio. ›Ich habe meine Feuertaufe erhalten!‹ wiederholte er mit Befriedigung. ›Nun bin ich ein wirklicher Soldat!‹

Als Kind hatte er mit einer alten Familienchronik das Lesen erlernt: Da die Valserras ihr Glück vornehmlich im Waffenhandwerk gemacht hatten, so stellten die Stiche in der Hauptsache Schlachten dar, und auf jedem sah man einen Helden dieses Namens, der mächtige Säbelhiebe austeilte. Das Buch gefiel dem jungen Fabrizzio ungemein. Aus seinen jugendlichen Ruhmesträumen wird nichts werden, er wird nicht der Held von Waterloo. Und dass Napoleon vorbeigeritten ist, hat er auch verpasst. Plötzlich rief der Wachtmeister seinen Leuten zu: »Seht ihr nicht den Kaiser, Kerls?« Unverzüglich brüllte der ganze Stab aus voller Kehle: »Vive l'empereur!« Man kann sich denken, wie unser Held die Augen aufriß, aber er sah nichts als vorbeigaloppierende Generale, denen ebenso ein Stab von Reitern folgte. Die langen, wehenden Roßhaarschweife, die die Dragoner des Gefolges auf ihren Helmen trugen, hinderten ihn, die einzelnen Gestalten zu erkennen. ›So habe ich den Kaiser auf dem Schlachtfeld nicht sehen können wegen dieser verfluchten Schnapstrinkerei!‹ Diese Betrachtung machte ihn wieder gänzlich munter. 

Die Schlacht von Waterloo in den ersten Kapitel des Romans wird uns in Momentaufnahmen dargeboten, immer wieder bekommt der Leser ein kleines Polaroidphoto des Seelenzustandes des jugendlichen Marchese präsentiert: Was Fabrizzio zu bleiben bestimmte, war der Umstand, daß die Husaren, seine neuen Kameraden, zu ihm freundlich waren. Er begann, sich für den Busenfreund all der Soldaten zu halten, mit denen er seit etlichen Stunden umherritt. Er sah zwischen ihnen und sich jene edle Freundschaft der Helden Tassos und Ariosts untereinander. Wenn er sich zum Stabe des Kaisers schlug, mußte er sich neue Kameradschaft erwerben; vielleicht würde man ihn gar scheel ansehen, denn jene Reiter wären lauter Dragoner, während er Husarenuniform trug, wie alle Reiter im Gefolge des Marschalls. Die Art, wie man ihn jetzt ansah, machte unseren Helden überglücklich. Alles auf der Welt hätte er für seine Kameraden getan; seine Seele, sein Geist schwebten in höheren Regionen. Alles kam ihm anders vor, seit er bei Freunden war. Für sein Leben gern hätte er Fragen gestellt. ›Aber ich bin noch ein wenig betrunken‹, sagte er sich. Torquato Tasso und Ludovico Ariost, das Befreite Jerusalem und der Rasende Roland, das sind seine Vorbilder. Es sind auch die Vorbilder des Autors, Ariost formte meinen Charakter, wie er in dem autobiographischen Vie de Henry Brulard schreibt. Aber die Wirklichkeit begreift der junge Fabrice nicht so richtig, ebenso wenig wie das taubstumme Kind, das in Ambrose Bierces Erzählung Chickamauga über das Schlachtfeld irrt.

Die Waterloo Szene des Romans ist am 17. Mai 1839 im Constitutionnel sozusagen als Kostprobe des Romans veröffentlicht worden, am gleichen Tag erschien der Roman. Stendhal hat die Kartause von Parma in knapp zwei Monaten geschrieben, wie in einem Rausch, fünfzehn Stunden am Tag. Und dazu sagt er noch: Während ich die 'Kartause' schrieb, habe ich jeden Morgen, um den Ton zu stimmen, zwei, drei Seiten im Bürgerlichen Gesetzbuch gelesen. Ich wollte immer natürlich sein. Hatte je zuvor ein französischer Schriftsteller gesagt, dass das Stilideal des Französischen der Code Civil ist? Stendhal schickte eins der ersten Exemplare an Balzac, den König der Romandichter unseres Jahrhunderts. Balzac hat im September 1840 in seiner Revue Parisienne einen langen Essay über die Kartause von Parma geschrieben, der einem beinahe die Lektüre des Romans erspart. Wann erzählt schon einmal ein Schriftsteller den Roman eines Kollegen mit seinen Worten nach? Der Balzac Essay ist der neuesten deutschen Übersetzung der Kartause von Elisabeth Edl (Hanser Verlag 2007, dtv 2009) beigegeben, womit das Buch auf die stattliche Länge von beinahe 1.000 Seiten kommt. Meine schöne alte Propyläen Ausgabe von 1921 mit dem roten Lederrücken bringt es nur auf 570 Seiten. Der Roman ist auch in der Hanser Ausgabe nicht länger, aber es gibt einen 340-seitigen Anhang über den sich jeder Philologe freut. Vielleicht auch mancher Leser, der zu den happy few gehört, denen Stendhal den Roman widmete. Falls ich Sie jetzt beinahe zum Kauf überredet habe, lesen Sie doch vorher noch diese Rezension von Wolfram Schütte.

Stendhal war nicht bei Waterloo dabei, doch bei der Wiedereroberung Italiens durch Napoleons im Jahre 1800 war er als junger Offizier in der Armee. Damals war er genauso alt wie sein Held Fabrice del Dongo in der Schlacht von Waterloo. Beim Russlandfeldzug 1812 war er als Kriegskommissar wieder bei der Armee, wie der Krieg aussieht, das wußte er. Das Schlachtfeld von Waterloo hatte er sich ein Jahr, bevor er den Roman schrieb, sorgfältig angeschaut. Die Waterloo Episode in den ersten Kapiteln des Romans macht nur einen ganz geringen Teil des Romans aus, aber sie hat für die Literatur ungeahnte Auswirkungen. Sicherlich wird es weiterhin romantische Literatur geben, in der junge Kavallerieoffiziere mit dem Säbel in der Hand über das Feld sprengen. ohne dass sich ein blutüberströmtes Pferd auf dem Acker wälzt und sich mit den Beinen in seine eigenen Gedärme verwickelt. Aber die wirkliche Literatur wird die Botschaft von Stendhal verstehen. Die Einflüsse auf Tolstois Krieg und Frieden sind evident, und Tolstoi war der erste, der das zugab: Ich bin Stendhal wie kaum irgendwem verpflichtet: ich verdanke ihm die Kenntnis des Krieges. Wer vor ihm hat den Krieg auf diese Weise geschildert, das heißt so, wie er wirklich ist? Man erinnere sich, wie Fabrizio mitten durch die Schlacht von Waterloo reitet und nicht das geringste davon merkt... Es ist nicht nur Tolstoi, auf den Stendhal wirkt. Auch die Beschreibungen der ersten Schlacht, durch die Henry Fleming in Stephen Cranes Red Badge of Courage taumelt, verdanken Stendhal viel.

Henri Beyle, der sich als Schriftsteller Stendhal nannte, ist in der Nacht zum 23. März 1842 gestorben. Auf seinem Grabstein findet sich die Inschrift: Arrigo Beyle - Milanese - Scrisse - Amó - Visse. Diesen Text, in dem er sich als Mailänder bezeichnet, hatte er schon Jahre zuvor in sein Testament geschrieben. Der Mann, der französischer Konsul in Italien gewesen war, schämte sich jetzt für die französische Politik. Diesen Franzosen darf man die Wahrheit nicht sagen, wenn sie ihre Eitelkeit verletzt. Sein Cousin und Freund Romain Colomb, der einer der ersten Stendhaliens und sozusagen sein Eckermann war, hat dafür gesorgt, dass Stendhals Wunsch respektiert wurde.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen