Sonntag, 23. Oktober 2011

Mein Stifter


Heute vor einem Jahr war sein 205. Geburtstag, ich habe damals, kultur- und traditionsbewusst wie ich nun mal bin, über Stifter geschrieben. Ich hatte gestanden, dass ich den Nachsommer immer noch nicht zu Ende gelesen habe. Und da mir niemand die Krone von Polen versprochen hat, um Friedrich Hebbel zu zitieren (Drei starke Bände! Wir glauben nichts zu riskieren, wenn wir demjenigen, der beweisen kann, daß er sie gelesen hat, ohne als Kunstrichter dazu verpflichtet zu sein, die Krone von Polen zu versprechen) fühle ich mich auch nicht unter Druck. Einige Leser haben mich wissen lassen, dass ich richtig fies zu Stifter gewesen sei, das finde ich ganz und gar nicht. Ich war nicht richtig fies, ich habe über den Nachsommer nicht Magna Charta des Eskapismus gesagt, nicht die pleonastische Plattheit der Sprache und das barbarische Gestammel der gemästeten Nebensätze beklagt. Das hat Arno Schmidt gesagt, nicht ich. Ich habe den ➱Post gestern noch einmal gelesen, und ich finde ihn eigentlich gar nicht so unfair. Aber in meinem Verhältnis zu Stifter hat sich in der Zwischenzeit etwas geändert, worüber ich gerne einige Zeilen schreibe.

Als ich im letzten Jahr über Stifter zu schreiben wagte, vermisste ich ein Buch, dessen Lektüre mir vor Jahren großen Gewinn bereitet hatte - merken Sie was: ich schreibe jetzt schon wie Stifter. Kaum hat man zwei Kapitel Nachsommer im Gutenberg E-Text gelesen, da färbt das auch schon ab. Oder sagen wir es andersherum: er ist auch leicht zu parodieren. Also ich vermisste dieses Buch, das den schönen Titel Mein Stifter hatte. Es war nicht da, wo es stehen sollte, irgendwann gab ich es auf, nach ihm zu suchen. Es wäre natürlich schön gewesen, es beim Schreiben zur Hand zu haben, weil das Buch über des Verfassers Schwierigkeiten mit dem Nachsommer geht. Der Verfasser, ein Schriftsteller namens Arnold Stadler, hatte in unserer Stadt sein neuestes Werk mit einer Lesung beworben; am nächsten Tag fand ich im Grabbelkasten vor der Buchhandlung sein Buch, das wegen eines lädierten Schutzumschlags zu einem grotesk niedrigen Preis feilgeboten wurde. Ich war nicht bei der Lesung gewesen, für mich gibt es nichts Fürchterlicheres als Autorenlesungen. Und ich muss auch gestehen, dass ich an jenem schönen Sommertag, das Buch abwägend in der Hand, noch niemals etwas von einem Autor namens Arnold Stadler gehört hatte. Ich las die ersten Seiten und wusste: das ist mein Buch. Lädierter Schutzumschlag hin oder her. Ich zahlte 2,50€ an der Ladenkasse und ging mit Mein Stifter: Porträt eines Selbstmörders in spe und fünf Photographien nach Hause und begann zu lesen.

Es ist ein schönes Buch. Es ist ein seltsames Buch. Halb Essay, halb Roman, es ist auch eine - vielleicht sonderbare - Liebeserklärung. Man wird nicht umhinkommen, irgendwann auch Thomas Bernhards Alte Meister zu lesen, da der Verfasser auch diesen Roman des österreichischen Grantlers behandelt, zumal ja sehr viel Stifter in dem Roman vorkommt. Aber das schöne seltsame Buch, an dessen Lektüre ich mich lebhaft erinnerte blieb - wie gesagt - verschwunden. Bis ich vor Monaten in einem Antiquariat eine vierbändige Stifter Ausgabe kaufte, ich konnte nicht anders, weil alle vier Bände (eine Lizenzausgabe der vierbändigen Ausgabe des Winkler Verlages) zusammen nur vier Euro kosteten. Und der Witiko dabei war, um den ich bisher einen noch größeren Bogen als um den Nachsommer gemacht hatte. Aber es waren auch sechzehn Zentimeter, die irgendwo hingestellt werden wollten, in ein Regal, in dem sich Stifter mit Arno Schmidt jetzt schon um jeden Zentimeter Regalplatz kloppte und vieles in zweiter und dritter Reihe stand. Mir blieb nichts anderes übrig, als das Regal Buch für Buch zu entleeren, um alles neu zu ordnen. Das ist immer eine gefährliche Sache, sie haben eine über die Jahrzehnte gewachsene Anordnung. Und keiner würde behaupten, sie mögen unverstanden hier stehen. Ich habe zu meinen Büchern ein anderes Verhältnis als der Herr von Risach.

Aber das Schöne an dieser ganzen Aktion war, dass ich Arnold Stadlers Buch Mein Stifter wiederfand, ein Buch, das ich jederzeit zur Lektüre empfehle, ob man nun Stifter mag oder nicht. Ich fand auch ein Buch wieder, das ich völlig vergessen hatte, nämlich Walther Rehms Nachsommer: Zur Deutung von Stifters Dichtung. Das ist auch ein Buch, das ich nur empfehlen kann - wie eigentlich alles, was Walther Rehm geschrieben hat. Lies Walther Rehm, hatte mir mein Freund Peter vor beinahe einem halben Jahrhundert gesagt, lies niemals Benno von Wiese. Und daran habe ich mich gehalten. Als ich jetzt sein Buch (141 Seiten) ein zweites Mal las, fand ich auch dies erstaunliche Gedicht Stifters wieder, das mich bei der ersten Lektüre vor Jahren so verblüfft hatte. Walther Rehm zitiert das Gedicht eigentlich nur, weil Claude Lorrain darin erwähnt wird. Der kommt ja auch an einer Stelle des Nachsommer vor, wo es heißt: Mein Vater hatte Bilder von Tizian, Guido Reni, Paul Veronese, Annibale Caracci, Dominichino, Salvator Rosa, Nikolaus Poussin, Claude Lorrain, Albrecht Dürer, den beiden Holbein, Lukas Cranach, Van Dyck, Rembrandt, Ostade, Potter, van der Neer, Wouvermann und Jakob Ruisdael. Wir gingen von dem einen zu dem andern, betrachteten ein jedes, taten manches Bild auf die Staffelei, und redeten über ein jedes. Mein Herz war voll Freude. Der junge Heinrich Drendorf hat offensichtlich noch nicht gemerkt, dass er in einem Museum aufgewachsen ist, normale Menschen wie Sie und ich haben solche Bilder nicht zu Hause im Wohnzimmer, die Königin von England vielleicht.

Doch davon abgesehen bleibt es ein ungewöhnliches Gedicht, und so gibt es heute zur Feier des Tages einmal den Text.

Sehnend sitze ich hier und hefte das Aug' in die Ferne.
Dort, wo des Himmels Blau sanft sich mit Bergen vermischt.
Dämmert das freundliche Land der verlassenen Heimat herüber,
Dorten der neblichen Streif, o ich erkenne ihn gut.
Dort ist hochaufragend der Wald der die Heimat beginnet.
Glänzendes Jugendland, wär ich doch wieder in Dir.
Oh, es war schön, da der Baum, worunter ich spielte,
Schön, da des Vaters Haus, schön, da das heimliche Tal
Meine Welt war. Nie umwölkte sich damals mein Himmel,
Immer war mir der Tag, immer der Abend so schön.
Damals kannte nicht Gram noch die unbefangene Seele,
Frohsinn tönte das Spiel, tönten die Berge zurück.
Hier, im fremden Land, hier werde ich nimmermehr glücklich.
Zwar wie ein Paradies liegt vor dem traurigen Blick
Bis zu dem blauen Gebirg' sich dehnend die duftige Landschaft,
Selber Claude Lorrains göttlicher Pinsel erschuf
Nie so ein liebliches Bild, als uns das lachende Fruchttal
Darbeut. - Mich erfreut nimmer das reizende Tal,
Nicht der rauschende Strom und nicht die schattenden Haine;
Nicht der purpurne West, welche die Sonne gemalt
Mit Liebfrauengewand mit hochrot flammendem Golde.
Leise, hold und still schwebet der Abend herab
Und auf seinem Fittige ruht sanft duftende Kühle.
Mählig nun sinket der Tag jenseits der Berge hinab.
Und die Röte welkt - ein Bild der sterbenden Unschuld.
Welche so groß und so schön sinkt wie der sterbende Tag.
Bis der letzte Zug des Odems die Sele verhauchet.
Fahre nur immer wohl - fahre nur, glänzender Schild!
Fahren auch andere hin: zwei mild herblickende Sonnen -
Lockten mit freundlichem Licht selige Keime hervor,
Arglos so ich das kosende Gift aus den schmachtenden Sternen,
Strebte mit zagender Brust auf zu den liebenden zwei,
Reichte das einzige Gut, mein Herz, in törichter Unschuld
Hin mit dem Reichtum all, den es im Innern verschloss.
Ganz als ein Armer hinweg glückselig der Holden zu spenden -
Und du warfst es hin! - Also verdient' ich es nicht!
Wahrlich nicht! Das blutende Herz, ein verstoßenes Kindlein,
Nahm ich es auf in die Brust, stillte den zitternden Schlag,
Trug es herum im Leid und in Freud als stummen Gefährten,
Möchte es tragen dahin, wo es zum erstenmal schlug.
Heilet es nicht das heimische Tal, so findet es Ruhe,
Wenn einst über dem Grab wanket das rauschende Gras.


Vor einem Jahr gab es hier Bilder von Adalbert Stifter. Heute sind die Bilder von dem österreichischen  Landschaftsmaler Thomas Ender. Der hängt bei Heinrich Drendorfs Vater nicht an der Wand, aber er ist ein Maler, den der dilettierende Landschaftsmaler Adalbert Stifter sehr bewundert hat.

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