Freitag, 4. Mai 2012

Signale


Vor 130 Jahren wurde der Dichter Wilhelm Lehmann geboren. Er ist in diesem Blog ja schon häufiger vorgekommen, hier stand ja schon einmal sein ➱London Gedicht und das schöne Gedicht über die Bootsfahrt auf dem ➱Plöner See. Ich bin kein Wilhelm Lehmann Spezialist, aber ich mag ihn. Seit ich mich einmal mit dem englischen Dichter und Übersetzer ➱Michael Hamburger lange über Lehmann unterhalten habe, habe ich über die Jahre peu à peu immer mehr von Lehmann gelesen.

Es geht eine große Ruhe von seiner Naturlyrik aus, was in unserer hektischen Zeit ja ein schöner Gegenentwurf ist. Er ist einer unserer bedeutendsten deutschen Naturdichter des 20. Jahrhunderts gewesen, und wir haben ihn beinahe vollständig vergessen. Kein Schulbuch enthält mehr seine Verse. In den fünfziger Jahren war das anders, da galt er mit seiner Naturlyrik noch als Antipode zu der kalten Weltsicht eines Gottfried Benn. Aber irgendwie sind Naturlyriker heute nicht "in". Natur ja, wir sind alle dafür, wir sind alle umweltbewusst und grün heutzutage. Aber Naturlyrik? Lehmann selbst konnte die Sache mit der Naturlyrik ironisch sehen, wie in dem Gedicht Botanik des Dichters, wo es heißt: Goethen raste sie im Blut. Ist das nicht gefährlich? 'Mischest du Botanik ein, Bitte, Dichter, spärlich!'

Lehmann hat ein stilles Leben in Eckernförde (der Stadt seines Schlüsselromans Der Provinzlärm) gelebt. Wenn es überhaupt einen Vertreter der Inneren Emigration in Deutschland gab, dann war er das. Auf keinen Fall Manfred Hausmann, der das immer von sich behauptete. Es ist erstaunlich, dass jemand, der sich immer wieder den Nazis angedient hat und während des Zweiten Weltkriegs für eine Vielzahl von Naziorganen geschrieben hat, sich plötzlich 1945 zum Zentrum der Inneren Emigration erklärt. In der Olympia-Zeitung von 1936 hatte er noch über den schwarzen amerikanischen Olympiasieger im Hochsprung geschrieben: Wissen und Ahnen. Leben aus dem Kopf und Leben aus dem Blut... Die Vollendung des Wissenden, der Allwissende, ist der Gott. Und die Vollendung des Ahnenden, das Instinktwesen, ist das Tier. Klingt ein wenig wie Ernst Jünger. Gott gibt es nur für Weiße, nicht für schwarze Tiere. Nach dem Krieg wird Hausmann als erstes den Emigranten Thomas Mann mit einem offenen Brief im Bremer Weser-Kurier attackieren und Lügen über ihn verbreiten.

Lehmann hat nichts von alledem getan, er hat für keine Nazipostille geschrieben. Am Tag der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler schrieb er an seinen Freund, den Lyriker Werner Kraft: Wir leben, Sie wie ich, im Exil, lassen Sie uns einander in unserer Wehrlosigkeit die Hände reichen. Er war zwar zur Absicherung seiner beruflichen Existenz, aus Sorge um seinen Beruf und seinen Beamtenstatus 1933 in die NSDAP eingetreten. Aber er hat sich dafür geschämt und sich bei allen seinen Freunden noch im gleichen Jahr dafür brieflich entschuldigt. An Werner Kraft, der gerade emigriert war, schreibt er Lieber Herr Kraft, ich grüße Sie aus der Tiefe der Empfindungen und wünsche Ihnen & mir die Fähigkeit, sich aus der Bitterkeit der Bitternisse emporzusaugen.

In den zwölf Jahren von 1933 bis zum Kriegsende war er so gut wie stumm. Die Antwort des Schweigens hieß sein schmaler Gedichtband 1935, ein programmatischer Titel. Erst 1942 folgte der nächste Gedichtband Der grüne Gott. Er war froh, überhaupt einen Verleger gefunden zu haben, die meisten hatten abgewinkt. Und sein Verleger Lambert Schneider hatte Schwierigkeiten, überhaupt Papier für den Druck der zweitausend Exemplare zu finden. In dem Band war vieles versammelt, was Lehmann während der dreißiger Jahre geschrieben hatte. Auch das Gedicht über die Bootsfahrt über den Plöner See, das er im August 1940 geschrieben hatte. In dem der Krieg nicht spürbar war.

Das nächste Gedicht, das er während der Krieges schreibt, heißt Signale. Er hat es im März 1941 geschrieben, in diesem Gedicht spürt man den Krieg schon:

Seewärts hör ich Signale tuten:
Sie schießen die Torpedos ein.
Auf fernen Meeren, nah dem Ohre,
Gesprengter Leiber letztes Schrein.

Der Märzwind greift den Wandernden,
Ich gleite wie auf Flügelschuhn;
Dann bin ich selbst ihm aufgestiegen
Und kann auf seinem Rücken ruhn.

Ein Girren streicht um meine Kniee,
Ein Rebhahn schwirrt am Kleinbahndamm.
Vor aufgerauhter Schlehdornhecke
Säugt Mutterschaf sein erstes Lamm.

Hör ich noch die Signale rufen?
Sie wurden Klang von Roncevalles:
Woran die Herzen einst zersprangen,
Schwebt echoleicht als Hörnerschall.

Mich feit der süße Augenblick.
Die Zügel häng ich ins Genick
Dem Windpferd, daß es schweifend grase.
Huflattich blüht, es springt der Hase.

Die Wolken bauen Pyrenäen,
Der Erdgeist denkt die Vogelreise:
Und ohne daß sie wissen, zucken
In Aufbruchslust die Kuckuckszehen.
Sie landen, höheren Flugs getragen
Als ihn Schrapnells, Granaten wagen.

Ob draußen noch Signale tuten?
Schießt man noch die Torpedos ein?
Schreckt noch das Ohr auf fernen Meeren
Zerfetzter Leiber Todesschrein?

Tief innen übte sich inzwischen
Gesang, der Thebens Mauern baute.
Fang an mit zwiegespaltnem Laute:
Und "heile, heile, heile!" tönt es,
Kuckuck! Kein Fluch der Erde höhnt es.

Granaten und Schrapnells verzischen.

Wenn man die Naturgedichte aus Die Antwort des Schweigens betrachtet, wenn man die Gedichte in der Gesamtausgabe in der Reihenfolge ihrer Entstehung liest, dann ist man plötzlich erschrocken darüber, dass der Krieg in die bukolische Phantasiewelt des Dichters eindringt. Es hat den Leser bei der Lektüre vergessen lassen, dass es die Nazis und den Krieg gibt. Das ist die Flucht in die Natur, deren magische Kraft gegen alles Leid 'feit'. d.h. immun, unverwundbar macht. Das ist die bewußte Abwendung von der geschichtlichen Wirklichkeit und unserer Verantwortung für sie; und das schließt in der Tat ein Schweigen über so viele Untaten ein, hat Klaus Gerth in seinem Aufsatz Ein Gespräch über Bäume. Natur und Lyrik im Goethe Jahrbuch 1997 gesagt. Ich weiß, dass ich die Interpretation jetzt in eine bestimmte Richtung lenke, wenn ich dieses Bild hier abbilde, das ➱Franz Radziwill 1938 gemalt hat. Aber ich weiß nicht weshalb, ich musste bei diesem Gedicht immer an Radziwill denken.

Das, was da in der ersten Zeile tutet, ist etwas, was dem Dichter den Schlaf raubt. So trägt er in sein Tagebuch am 27.3.1941 ein: Man hört immer das Tuten nach dem Abschuß der Torpedos. Ich konnte vorige Nacht absolut nicht einschlafen. Wir sind in Eckernförde, wo die Torpedo Versuchsanstalt ist. 1912, noch zu Willems Zeiten gegründet, 1933 erheblich erweitert, regulieren sie hier die Torpedos für den U-Boot Krieg ein. Teure Teile, so ein Torpedo kostet 25.000 Mark. Gebaut wird hier alles von Zwangsarbeitern aus der Sowjetunion, aus Polen und Italien, die im Louisenberger Lager untergebracht sind.

Wir sind in Eckernförde, der Stadt, in der Lehmanns Schlüsselroman Der Provinzlärm spielt. Der Stadt, in der ein Bürgermeister in brauner Uniform verkündet Wir Nationalsozialisten stehen auf dem Boden des Führerprinzips. Wir alle, jeder an seiner Statt, sind dazu aufgerufen, die Hammerschläge des Dritten Reiches auszuführen. Zur gleichen Zeit schreibt Lehmann aus einem Ferienaufenthalt in England an Werner Krauss: Ein schwerer Ton klingt durch Ihren Brief - ich bin noch exilierter als Sie. Die Güte des Betragens hier, auch des 'man in the street' wider einander bringt mich oft zu Tränen.

Der Herr in der schönen neuen braunen Uniform auf dem Bild hier, der ein Schreckensregime in Eckernförde errichtet, kommt nicht bei Lehmann vor, obgleich er ihm wohl ständig auf der Straße begegnet ist. Er wird ihm nicht nur 1933 begegnet sein, er hat auch nach dem Krieg noch Gelegenheit, den Mann aufsteigen zu sehen. Der Dr. jur. Helmut Lemke wird noch Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, ich würde ja gerne wissen, was der Dr. phil. Wilhelm Lehmann von ihm gedacht hat.

Kann man in dieser Zeit des Schreckens über die Natur dichten? Was sind das für Zeiten, wo ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist, weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt! Ich hätte den letzten Satz natürlich kursiv setzen sollen, weil er ein Zitat ist. Ich will ihn auch nicht als meinen eigenen verkaufen, ich bin nicht Frau Dr. Schavan. Aber der Satz von Brecht aus An die Nachgeborenen passt natürlich wunderbar in diesen Gedankengang. Die Erzählung Das Birkenwäldchen von Hermann Kasack handelt auch von der Natur, aber es ist auch ein immens politischer Text, eine Botschaft an den im Konzentrationslager inhaftierten ➱Peter Suhrkamp. Ein Gespräch über Bäume kann in dieser Zeit ein politischer Text sein.

Aber ist es das bei Lehmann? In der ersten Strophe verbindet er die Warnsirene der TVA Eckernförde assoziativ mit dem Gesprengter Leiber letztes Schrein, die zwar Auf fernen Meeren sind, doch nah dem Ohre. Doch schon in der zweiten Strophe lässt sich der Dichter vom Märzwind ergreifen und forttreiben, gleiten wie auf Flügelschuhen. Das ist das Privileg der Dichter, sie haben diese Ubiquität in Zeit und Raum. Mich brennt's an meinen Reiseschuhn, fort mit der Zeit zu schreiten, heißt es bei Eichendorff. Der Dichter kann immer fort in eine Gegenwelt, die er sich selbst erschafft. Ob das nun die dunklen Wälder sind, wo in einem kühlen Grund ein Mühlenrad geht und wo die Gesellen von Marmorbildern, von Gärten, die überm Gestein in dämmernden Lauben verwildern, singen, oder ob das der Rebhahn am Eckernförder Kleinbahndamm ist.

Man kann das Gedicht als eine Flucht in eine mytho-poetische, zeitlose Natur lesen. Die abendländischen Bildungsanspielungen von Roncevalles und Theben könnten dazu einladen. Aber das Tuten der Sirenen bleibt, und die erste Strophe wird, leicht variiert wiederholt. Das zerfetzter Leiber Todesschrein? werden wir nicht mehr los. In seinem Gedicht Auf sommerlichem Friedhof schreibt Lehmann 1944 in memoriam seines Freundes Oskar Loerke:

Sirene heult, Geschützmaul bellt.
Sie morden sich: es ist die Welt.
Komm nicht! Komm nicht! Laß mich allein,
Der Erdentag lädt nicht mehr ein.
Ins Qualenlose flohest du,
O Grab, halt deine Tür fest zu!


Der Krieg ist vorbei, die Dichtung ist noch da, vita brevis, ars longa. Wir vergessen vieles sehr schnell. In einem Reiseführer steht, dass Eckernförde während des Krieges nicht bombardiert wurde, das haben manche in Eckernförde in anderer Erinnerung. Der NSDAP Bürgermeister von Eckernförde (der Wilhelm Lehmann wahrscheinlich nie gelesen hat) wird in Schleswig-Holstein Kultusminister, Innenminister, Ministerpräsident, Landtagspräsident. Die TVA Eckernförde wird nach dem Krieg demontiert und gesprengt. Was ist aus den 1.200 Zwangsarbeitern geworden? 1957 wird die Torpedo Versuchsanstalt wieder in Betrieb genommen. Vorher wurden schon zweihundert Beschäftigte der TVA von der Firma J. P. Sauer & Sohn GmbH übernommen, die produzierten keine Torpedos, die produzieren nur Pistolen. Die Natur ist immer noch da, I am the grass; I cover all heißt es in Carl Sandburgs Gedicht ➱Grass. Aber die Kriegsindustrie ist auch immer noch da. Und in Eckernförde, der durch den Krieg bedeutsam gewordenen Kleinstadt (wie es in Lehmans Die Kleinbahn heißt), ist wieder die deutsche U-Boot Flottille beheimatet.

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