Sonntag, 19. Mai 2013

Nicolas Freeling

Heute vor 199 Jahren hat Napoleon den militärischen Rang eines Marschalls von Frankreich wieder eingeführt. Und gleich achtzehn Generäle zu Maréchaux d'Empire ernannt. Generäle, die nicht mehr im aktiven Dienst waren, wie zum Beispiel François-Christoph Kellerman, wurden Ehrenmarschall (ich musste dieses Bild des Helden von Valmy nehmen, ich finde es zu komisch). Ich könnte jetzt natürlich über die napoleonischen Marschälle schreiben, das ahnen Sie schon. ➱A.G. Macdonnell, der das schöne Buch Napoleon and his Marshals geschrieben hat, hat hier schon einen Post. ➱Michel Ney hat auch schon einen Post, Soult auch. Napoleon kommt hier beinahe jede Woche vor. Doch als ich die Sache mit den Marschällen las, war meine erste Assoziation: Nicolas Freeling.

Denn Soult, Kellermann und Ney kommen in einem Kriminalroman von Freeling vor, der The King of the Rainy Country heißt. Der Romanheld ist ein holländischer Polizist namens Van der Valk, der zum ersten Mal 1962 in dem Roman Love in Amsterdam auftrat. Dies war Freelings sechster Van der Valk Roman, er sicherte dem Autor den Edgar Award der Mystery Writers of America. Alle anderen Preise dieses Genres, wie den Golden Dagger der Crime Writers' Association und den Grand Prix de littérature policière hat er auch bekommen. Als The King of the Rainy Country erschien, gab es im Times Literary Supplement (das ja nicht unbedingt ein fanzine für Krimis ist) eine erstaunliche Rezension, aus der ich einmal den Hauptteil zitiere:

In about five years, with five books, Nicolas Freeling has taken the position of preferred English detective writer, at least among those with respect for the genre. Freeling's books are much more than simple thrillers. It would in fact be fair to say that from a melange of existing ingredients he has remade and extended the thriller. There is mystery, not only the mystery of who is doing what but more importantly, who is capable of doing it and why. Then his English is good, unusually good in today's light novel; notice his metaphors and similes, often arresting yet unforced. On place and the feeling of place he is usually excellent. His detective, Van der Valk, is at present head and shoulders above others - a sort of apotheosized Maigret. And finally he has the popular story-teller's gifts, the right pace and the constant satisfaction of controlled expectation. Excitement - this is the important novelty - is integral, not, as with Dorothy Sayers, a knob on the top. Mr Freeling is at the moment the educated man's Ian Fleming.

Nicolas Freeling hat mich durch die sechziger Jahre begleitet, sein Amsterdam war ein Amsterdam, das ich kannte. Ich fand es schade, dass er Van der Valk eines Tages mit dem Roman A Long Silence aufgab. In der Sunday Times schrieb Freelings Kollege Edmund Crispin in einem Nachruf auf Van der Valk: he was the best of all police detectives, quirky yet sympathetic, a professional but still very much an individual: compared with him even Maigret seems scarcely better than two-dimensional. Freeling glaubte, er sei zu weit von Amsterdam entfernt, um noch glaubwürdig über die Stadt schreiben zu können. Er hatte eine neue Detektivfigur, die Henri Castang hieß, aber für mich (wie für viele Leser) blieb Freeling eben dieser Piet Van der Valk. Viele Freeling Fans liefen zu Janwillem van de Wetering über, der just in dem Augenblick, als Freeling seinen Helden in A Long Silence beerdigte, zu schreiben begonnen hatte.

Es gab zahlreiche Verfilmungen, ich lasse jetzt mal die englische ➱Serie mit Barry Foster (links) aus, die beinahe zwanzig Jahre in England lief. Erstaunlicherweise brachte die ARD damals drei sehr gute Filme zustande. Die erste Verfilmung (alle zeigten  Frank Finley als Van der Valk) war von Peter Zadek. Drehbuch Peter Zadek und Robert Muller. Das heißt, dass das Drehbuch von Robert Muller ist, der für Zadek immer die Arbeit machte, zu der Zadek keine Lust hatte. Er schrieb auch das Drehbuch von ➱Ich bin ein Elefant, Madame. Pardon, das war natürlich Zadek. Muller musste sich dann dafür von Zadek in der Autobiographie beschimpfen lassen, aber wen hat Zadek in seiner Autobiographie nicht beschimpft? Muller arbeitete auch mit Zadek unter Hübner am Bremer Theater, dazu kam der 1938 emigrierte Schriftsteller extra aus London. Er schrieb Thomas Valentins Roman Die Unberatenen zu einem erfolgreichen Theaterstück um. Aus dem dann, noch einmal umgearbeitet, Zadeks Ich bin ein Elefant, Madame wurde.

Das Drehbuch zu ➱Van der Valk und das Mädchen (nach dem Roman Gun Before Butter) war nicht der einzige Beitrag zu den Freeling Filmen der ARD, Muller schrieb auch das Drehbuch zu Wolfgang Petersens ➱Van der Valk und die Reichen (und dem dritten Film Van der Valk und die Toten) einem Film, in dem Petersen zeigen konnte, dass er lange vor dem Boot und vor Hollywood sein Handwerk beherrschte. Ich habe den Film (der eine Verfilmung von The King of the Rainy Country ist) schon erwähnt, als ich leicht bösartig über ➱Henning Mankell schrieb. Es war ein Glücksgriff des Fernsehens, dass man als Verkörperung des Piet Van der Valk einen englischen Vollblutschauspieler wie Frank Finlay gewinnen konnte. Verfilmungen von Detektivromanen mit einem bekannten Helden leben von einem Schauspieler. ➱Basil Rathbone als Sherlock Holmes war O. K. Jean Gabin als Maigret auch. Heinz Rühmann als Maigret, nein, das ging nun gar nicht.

Van der Valk war kein armchair detective wie Sherlock Holmes, er war kein Snob wie Lord Peter Wimsey, er war kein exzentrischer Außenseiter. Irgendwie war er der letzte Vertreter der gebildeten Bourgeoisie im Detektivroman. Er konnte (wie John Buchans Richard Hannay) mit dem gesellschaftlichen Unten und Oben. Die Gattin des verschwundenen Millionärs, den Van der Valk in The King of the Rainy Country suchen sollte, könnte ihn eiskalt abwimmeln. Aber Van der Valk hat seinen eigenen Charme:

A woman in a silk housecoat was standing on the steps. Narrow vertical stripes, olive-green and silver-grey.
‘Sorry – I was staring admiring.’ She had his card in her hand which she gave back to him, with a careful slow look of appraisal.
‘That does not matter in the least. Perhaps we will go in here, shall we?’ She opened a door beyond the stairs and waited for him.
‘Please sit down, Mr Van der Valk, and be quite comfortable. You have plenty of time? Good. So have I. Would you like some port?’
‘Not just by myself.’
She gave him a slight smile. ‘Oh no. I like port.’ She did not ring, but went to do it herself.


Erinnert ein wenig an Colin Dexters Inspector Morse, der kann auch gut mit Frauen. Es ist natürlich dieses charmant freche Sorry – I was staring admiring, das die Situation entkrampft. Figure looked quite full; one couldn't tell in a housecoat. Manner polite, even warm. There was a foot in a leather slipper; a glimpse of neat instep and neat ankle. Lot of blood, lot of race, lot of breeding. Sat very upright – convent trained. Van der Valk ist mit seiner Arlette glücklich verheiratet, aber er kann es nicht lassen, Frauen zu beobachten. Überhaupt Menschen zu beobachten, er ist ein guter Beobachter (das teilt er mit Philip Marlowe), von der genauen Beobachtung des Alltags leben Freelings Romane. Das Treffen mit Anne-Marie Marschal wird zu einer Beziehung auf Leben und Tod werden.

Es war ein Merkmal des Detektivromans des Golden Age of the Detective Novel, dass er für ein gebildetes Publikum geschrieben war. Fans von Mickey Spillane werden die Romane von Michael Innes nicht verstehen. Für die Romane des Komponisten Edmund Crispin muss man als Leser ebenso viel Bildung mitbringen, wie für die Romane des Universitätsprofessors ➱Michael Innes - für die Romane von Henning Mankell braucht man allerdings gar keine Bildung mitzubringen. Freelings Romane erschienen zuerst (wie die seiner Kollegen Michael Innes und Edmund Crispin) beim renommierten Verlag Victor Gollancz als Hardcover, danach als Paperbacks bei Penguin (in Deutschland zuerst in Richard K. Fleschs Rowohlt Reihe und danach bei Ullstein).

Und weil unser Autor seinen Helden mit ein wenig Bildung begabt (er lässt ihn auch ständig Anzüge und gute Schuhe tragen), färbt natürlich auch davon etwas auf den Leser ab. Wie zum Beispiel die Kenntnis der Marschälle Napoleons in The King of the Rainy CountryHe suddenly recalled, then, a most important thing. He had been shot. He was a soldier in Soult's army, that was it, and that tripehound Soult had left him here to die on the hillside. Er ist kein Soldat in Soults Armee (ich bilde den alten Kunsträuber mal eben hier ab - Sie könnten jetzt noch den netten Post ➱Kunstraub lesen), er ist im Fieberwahn in einer Klinik in Biarritz. Schwer verletzt auf dem Hügel liegend phantasierte er von Robert Jordan mit seinem Maschinengewehr - unser Autor setzt voraus, das wir For Whom the Bell Tolls kennen.

Im Krankenhaus kommt er langsam zu sich: This was the end of the story that had started 'Once upon a time, in a rainy country, there was a king...' The end had not happened in a rainy country, but on a bone-dry Spanish hillside, three hundred metres from where Van der Valk had left a lot of blood, some splintered bone, a few fragments of gut, and a ten-seventy-five Mauser rifle bullet. No one had broken any laws. But a handsome, middle-aged millionaire had disappeared with a naked girl. And Van der Valk was given the job of finding out why. Er hat seine Retter mit Geschichten über den Marschall Soult traktiert. Und ständig Baudelaire zitiert. Das ist Ihnen doch nicht etwa entgangen, dass der Buchtitel The King of the Rainy Country ein ➱Gedicht von Baudelaire zitiert? Je suis comme le roi d'un pays pluvieux, Riche, mais impuissant, jeune et pourtant très vieux, Qui, de ses précepteurs méprisant les courbettes, S'ennuie avec ses chiens comme avec d'autres bêtes... Wenn der deutsche Titel des Romans Bluthund ist, geht natürlich jede literarische Anspielung verloren.

Van der Valk wird die Schußverletzung überleben. Das Schöne an Van der Valk (und Freeling) ist, dass er nicht ohne Ironie ist. Wie zum Beispiel an einer Stelle wie dieser: And here I am, thought Van der Valk ruefully. I've made every mistake I could have; I haven't been professional; I'm not clever enough, being much too Dutch, to be an amateur, and now, as a fitting climax to so much inefficacity, I'm driving across the whole breadth of France in a hired Renault when, obviously, I should be burning up the highway in James Bond's Aston Martin.

Es ist ein weiter Weg von solch literarischen Detektiven zu einer Figur wie ➱Derrick. Der Schriftsteller, dem wir diese in Deutschland so beliebte Serie verdanken, ist bekanntlich ein willfähriger Gehilfe der Nazis gewesen. Wenn wir mal etwas bessere Fernsehkrimis wie Die Gentlemen bitten zur Kasse brauchen, dann lassen wir sie von einem nach England emigrierten Juden wie Robert Muller schreiben. Herbert Reinecker von der SS Propagandakompanie hat (wie sein Held Derrick, der von einem ehemaligen SS Mann gespielt wurde) einen Wikipedia Artikel, Robert Muller natürlich keinen. Dafür kennt die ➱IMDb wenigstens seine Leistungen. Inzwischen ist es dem Deutschen Historischen Museum gelungen, Reineckers Tätigkeit als ➱Drehbuchautor kritisch zu sehen. Wann erzählt jemand das mal dem Vierten, die letztens schon wieder den Stern von Afrika (Drehbuch Herbert Reinecker) abspulten?

Ich weiß jetzt nicht, wie ich von Nicolas Freeling auf Reinecker und Derrick gekommen bin. Da wollte ich eigentlich nicht hin. Vielleicht sollte ich sagen, dass in der Zeit von Freelings großen Erfolgen auch eine durchaus beachtliche Produktion guter deutscher Krimis entstand. Die Kritik sprach damals schon von Der neue deutsche Kriminalroman. Ich habe das schon in einem Post gesagt, der ➱Tatort heißt. Aber leider muss man auch anmerken, dass diese Autoren von Werremeier bis Bosetzky (der als -ky schrieb) heute schon beinahe vergessen sind. Ebenso wie Nicolas Freeling. Es scheint ein Gesetz der - wie man so schön sagt - Trivialliteratur zu sein, dass sich Qualität nicht durchsetzt. Zwei Jahre, bevor das TLS Nicolas Freeling als educated man's Ian Fleming würdigte, hatte Freeling dort Ian Fleming attackiert. Was einen erstaunlichen Leserbrief zeitigte:

Sir, - I think Mr Freeling (TLS, May 20) is unkind about Ian Fleming - and about many of his readers - because he has misunderstood the nature of the James Bond novels. A few years ago somebody (a don, I believe) described them very aptly as 'comic sex for the literate reader'. They are more than that, of course, for they embody caustic social satire, as well as being masterly examples of good straight writing that many other crime-writers could well use as a model. The publication of paperbacks and the transmogrification into popular films has introduced them to an unsophisticated and rather literal-minded public, some members of which do no doubt use these novels for 'bit of elegant masturbation', to use Mr Freeling's expression. But it is hardly fair to condemn Ian Fleming for this, for many respectable books, from the Bible onwards, have been misused in the same way.

Nicolas Freeling ist von den englischen quality papers seit Beginn seiner Karriere als Romanautor ernstgenommen, er wurde nicht mit dem Stempel Krimi-Autor versehen. Nur einmal gab es Kritik von Rayner Heppenstall, als der im TLS schrieb: Mr Freeling is a crime writer who often evinces signs of wishes to be thought more than that. Anders urteilte Gero von Wilpert in seinem Lexikon der Weltliteratur: Seine Romane um den holländischen Detektiv Van der Valk werden dem Anspruch gerecht, es dürfe keinen Unterschied geben zwischen einem guten Roman und einem Kriminalroman. Der Guardian schrieb 2003 in seinem Nachruf auf Freeling: But the question remained as to whether he was really a crime writer or a straight novelist who chose to use crimes as a forcing house in which to examine questions of personality, propensity, even national characteristics, under abnormal conditions.

Es ist nicht nur ein weiter Weg von Van der Valk zu Derrick, es ist auch ein weiter Weg, bis die Kriminalliteratur nicht mehr so aussah wie auf diesem Cover. Sondern in den Leinenbänden des Gollancz Verlages mit dem quietschegelben Schutzumschlag präsentiert wurde. Doch die Distinktionen zwischen crime writer und straight novelist scheinen unaufhebbar zu sein. Raymond Chandler brachte es auf den Punkt, als er von To accept a mediocre form and make something like literature out of it is in itself rather an accomplishment redete.

Graham Greene hatte einen eleganten Weg gefunden, indem er Romane wie The Ministry of Fear als entertainment bezeichnete, gab aber diesen Begriff im Laufe seiner Schriftstellerkarriere langsam auf. Als die ersten Freeling Romane erschienen, schrieb der Dichter Cecil Day Lewis (der als Nicholas Blake Detektivromane schrieb) im Vorwort zu dem Nicholas Blake Omnibus: but detection writers do sometimes get impatient at composing what are, after all, no more than elaborate puzzles: we yearn to explore at greater depth the behaviour of people under abnormal stress. This is of course dangerous, in so far as it is an attempt to write a realistic novel of character, centred upon a crime: few of us are equipped to undertake this fairly sombre task. Vielleicht hätte Freeling Küchenchef bleiben sollen, mit seinen Büchern, die The Kitchen (1970), Cook Book (1972) und The Kitchen and the Cook (2002), hätten wir nicht diese Probleme der literarischen Einordnung.

Wir sind in der Frage der Bewertung des Kriminalromans nicht viel weiter gekommen, seit Joseph Wood Krutch (der ja mit Edgar Allan Poe: A Study in Genius 1926 eins der ersten ernstzunehmenden Bücher über ➱Poe schrieb) in seinem vielzitierten Artikel Only a Detective Story im Jahre 1944 sagte: Only a detective story' is now an apologetic and depreciatory phrase which has taken the place of that 'only a novel' which once moved Jane Austen to unaccustomed indignation. Professor Krutch hat eine Vielzahl von schönen Gründen für die Lektüre von Detektivromanen, von denen ich mal eben einige aufliste. Falls Sie nach Argumenten suchen, um ihre Lektüre von Krimis zu rechtfertigen:

But no one feels any compulsion to read a detective story. Few discuss what they have read with their neighbors. These books are read for pure pleasure, and there is certainly some significance in that fact ... Perhaps instead of saying that the detective story follows a formula we should say that it has FORM, and perhaps we should go on from that to wonder whether this very fact may not be one of the reasons for its popularity at a time when the novel, always rather loose, so frequently has no shape at all ... And while I am very far from suggesting that any of the detective stories that I have read are HAMLETs or EMMAs, I am suggesting that the fiction writer is in some ways better off and more successful when his public regards the reading of his works as a dubious self-indulgence than when the reading is regarded as a cultural duty.

Ich wünsche allen meinen Lesern ein frohes Pfingstfest.

3 Kommentare:

  1. Vielen Dank für Ihren Post. Witzigerweise habe ich heute eine Krimi-Rezension geschrieben, in der ich auch auf Freeling hingewiesen habe... Leider ist er ziemlich vergessen.

    Und hat nicht in einer Verfilmung Hans Christian Blech einen alten Nazi gespielt? Ich kann mich nur vage erinnern. Ist Jahrzehnte her.

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  2. Darf ich zu der Frage auf die Kommentare beim Post Sjöwall/Wahlöö verweisen?

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