Freitag, 22. November 2013

Benjamin Britten


Heute ist der hundertste Geburtstag des englischen Komponisten Benjamin Britten, in seinem Heimatland wird das natürlich gefeiert. Es gibt im Internet eine Website, die Britten 100 heißt. Und es wird im Vereinigten Königreich sogar eine neue 50 Pence Münze ausgegeben, auf der die Gedichtzeile von Tennyson Blow, bugle, blow, set the wild echoes flying steht, die Britten vertont hat. Doch nicht nur in England, auch in Städten wie Köln oder Leipzig gedenkt man in diesen Tagen des englischen Komponisten.

Kein englischer Tonsetzer des zwanzigsten Jahrhunderts ist beim Publikum so beliebt gewesen wie er. Weder William Walton, noch Michael Tippett oder Malcolm Arnold (der die Musik zu dem Film Die Brücke am Kwai schrieb). Und wahrscheinlich sind die Kompositionen seiner Kollegen niemals so häufig aufgeführt worden wie seine Werke. Auch ist kein englischer Komponist vor ihm je zum Lord ernannt worden. Seinen Adelsnamen hat er sich passend ausgesucht: Baron Britten of Aldeburgh. Denn in Aldeburgh (wo er auch zwanzig Jahre in seinem Red House gewohnt hat) ist das berühmte Musikfestival, das er einst aus der Taufe gehoben hat. Er war nicht immer so unumstritten, in einem Artikel aus dem Jahre 1950 zitiert der Spiegel den Spectator mit den Worten: Britten ist der Dichter der Unreife, was seiner Orchestrierung ein entsprechendes Aroma verleiht. Er läßt sich nicht genügend Zeit, seine Ideen abzuwägen, reifen zu lassen und dann dem Gesamtinhalt des Gedichtes, das er gewählt hat, zu vermählen.

Selbst die englischen Hörer, die der modernen Musik zweifelnd gegenüberstehen, werden an seinen Bearbeitungen englischer Folksongs Gefallen gefunden haben. Und natürlich hat man The Young Person's Guide to the Orchestra immer geliebt (➱hier gibt es eine Aufnahme mit dem WDR Symphonieorchester). Aber sicherlich werden Musikfreunde seine großen Werke wie das ➱War Requiem und seine Opern mehr schätzen. Wobei ich gestehen muss, dass ich mit Peter Grimes nicht so recht etwas anfangen kann, da höre ich als Banause doch eher die Four Sea Interludes als die ganze Oper. Britten selbst schien Zweifel an seinem Werk gehabt zu haben, so sagte er 1944 zu seinem Freund und Lebenspartner Peter Pears My bloody opera stinks & that's all there is to it.

Henry James ist entschieden, was auf englisch ein 'acquired taste' genannt wird, etwas, worauf jeder zuerst mit Widerwillen reagiert, um es nach langer, beharrlicher Selbstüberwindung schließlich doch genießbar zu finden (Beispiele: moderne Musik, Spinat, Frühaufstehen), hat ➱Fritz Güttinger über ➱Henry James gesagt. Ich könnte das auch auf die englische Musik des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts sagen. So sehr ich mich für Gilbert und Sullivan begeistern kann, und so gerne ich bei der Übertragung der ➱Last Night of the Proms Land of Hope and Glory höre, mit Elgar, Delius und Holst habe ich meine Schwierigkeiten.

Da kann ich mich eher mit Benjamin Brittens Oper The Turn of the Screw anfreunden. Wenn Sie sich jetzt fragen, was David Hemmings aus dem ➱Film Blow Up hier soll, habe ich dafür natürlich eine Erklärung. Er war der erste Miles in der Oper 1954. Damals war er dreizehn Jahre alt, Britten war von ihm begeistert. Und so schreibt er, im gleichen Alter wie Thomas Manns Gustav von Aschenbach in Tod in Venedig (ein Text, den Britten auch vertont) in ähnlicher Liebe ergriffen sein dunkles Selbst in die Oper.

Es ist eine Welt von Angst, Depressionen und ständigem Selbstzweifel: It is cruel, you know, that music should be so beautiful. It has the beauty of loneliness of pain: of strength and freedom. The beauty of disappointment and never-satisfied love. The cruel beauty of nature and everlasting beauty of monotony. Von Brittens dunkler Seite kann man hier auf Cecil Beatons Photo von Britten mit dem hochpolierten Steinway nichts spüren. Aber man kann es in seiner Musik hören. Leonard Bernstein sagte über Brittens Musik: It's strange because on the surface his music is decorative, positive, charming and it's so much more than that. When you hear his music, really hear it, not just listen to it, you become aware of something very dark, gears that are grinding and not quite meshing. And they make a great pain. His was a lonely time. Yes, he was at odds with the world in many ways and he didn't show it. Bernstein sagt das am Anfang von Tony Palmers Film A Time There Was, von dem ich leider nur ➱diesen Schnipsel habe.

Es ist eine seltsame Beziehung zwischen dem Dirigenten und seinem jugendlichen Sänger, der Dirigent Charles Mackerras bemerkte dazu: David Hemmings was an extremely good looking young chap and he also very much played up to Ben's obvious adoration of him, and drank it in...Obviously it was a sexual attraction but I'm sure that it was never actually fulfilled. David Hemmings hat später gegenüber John Bridcut (der das Buch Britten's Children geschrieben hat) erklärt: He was not only a father to me, but a friend – and you couldn't have had a better father or a better friend. [...] Everybody asks me whether or not he gave me one, whether or not it was a sexual relationship. The answer to that question, as I have often said, is: no, he did not. In seinem Nachruf auf den Australier Sir Charles Mackerras schrieb der TelegraphThis native Australian bluntness and honesty got him into trouble on occasion, notoriously so when as a young man working at the Aldeburgh Festival, he dared to make a throwaway joke about Benjamin Britten's fondness for young boys. When Britten found out, he banished Mackerras from his kingdom ­ a pity, as Mackerras would prove a superb advocate of his work after Britten's death. Wir lassen die dunkle Seite des Benjamin Britten jetzt mal beseite. Die sexuellen Aberrationen der Exzentriker der englischen upper class sind ja ein unerschöpfliches Thema.

Aber Britten ist kein ➱Jimmy Savile, er setzt seine erotischen Infatuationen der Pädophilie künstlerisch um. Unter Kindern fühlt er sich sicher, dieser hochneurotische und nervöse Musiker, den seine Zeitgenossen immer wieder als schoolboyish beschrieben haben. Es bleibt aber festzuhalten, dass kein Komponist des 20. Jahrhunderts so viel Musik für Kinder geschrieben hat wie dieser Peter Pan der englischen Musik. Ich habe zu dem Thema ➱hier eine schöne Dokumentation der BBC. Diese komplizierten sexual overtones geben der Geschichte The Turn of the Screw natürlich noch eine weitere Dimension. Als ob es zu der Novelle von Henry James nicht schon genug ➱Interpretationen gäbe! Dies ist ein anderer Henry James als wir ihn aus Portrait of a Lady kennen, hier lässt er seinen morbiden Fantasien in einer Gespenstergeschichte freien Lauf, die alle Elemente der Gothic Novel hat. Es ist ein Buch, das wir eher Edgar Allan Poe zuschreiben würden als diesem Oberklassen Amerikaner des fin de siècle.

Das Libretto für die Oper hatte ➱Myfawny Piper (die Gattin des Malers John Piper) geschrieben. Sie war die Muse des Dichters John Betjeman. Mit dem Britten einiges gemeinsam hat. Wo Betjeman Lyrik für jedermann schreiben wollte, wollte Britten Musik für jeden Engländer komponieren: What matters to us now is that people want to use our music. For that, as I see it is our job. To be useful to the living. Myfawny Piper hat beinahe zwanzig Jahre mit Britten zusammengearbeitet und noch die Libretti für Owen Wingrave und Death in Venice für Britten geschrieben. Dieses Bild, das in Venedig aufgenommen wurde, zeigt sie in der Bildmitte. Ganz links ist John Piper, daneben sitzen Benjamin Britten und Peter Pears.

Wie macht man aus einer Novelle, die jeder Leser und Interpret anders versteht, eine Oper? Oder einen Film? Für ein Libretto oder ein Drehbuch muss man aus dem Originaltext bestimmte Teile herausnehmen und betonen, andere vernachlässigen. Es ist also eine Interpretation. Die nicht schlechter zu sein braucht als die Interpretation eines gelehrten Literaturkritikers. Ich habe das mit dem Filmdrehbuch natürlich absichtlich ins Spiel gebracht, denn für die Verfilmung von Jack Clayton, die den Titel The Innocents (1961) hatte (und in Deutschland Schloß des Schreckens hieß), hatte kein Geringerer als Truman Capote das Drehbuch geschrieben. Wenn der Film eine atmosphärisch dichte und stimmige Verfilmung der ➱Novelle von Henry James (etwas was Clayton bei The Great Gatsby nicht gelingen sollte) ist, dann liegt das aber nicht an Capote.

Er hatte Helfer, die versierter waren als er. Zum einen war da William Archibald, der die Novelle schon 1950 zu einem Theaterstück umgeschrieben hatte. Und dann war da noch John Mortimer. Den Juristen Sir John Clifford Mortimer, der die additional dialogues schrieb, kennen wir besser als den Autor der wunderbaren Romane, die Rumpole of Old Bailey als Helden haben. Und natürlich lebt der Film von Deborah Kerr, die in diesem Film großartig ist. Das hier ist selbstverständlich Deborah Kerr, das Photo im Absatz darüber zeigt noch einmal Myfawny Piper, umgeben von Benjamin Britten und Peter Pears.

Sie können sich von der Qualität des Filmes (der beim Publikum ein Flop war) selbst überzeugen und sich den Film ➱hier ansehen. Die Filmmusik war übrigens von einem renommierten Komponisten, dem Franzosen Georges Auric. Da hätte man auch Benjamin Britten nehmen können, der ja als Komponist für den Film genügend Erfahrung hatte. Ist es in Vergessenheit geraten, dass er 1935 die Musik zu dem vielleicht berühmtesten englischen Dokumentarfilm Night Mail geschrieben hat? Falls Sie diesen Klassiker des Dokumentarfilms noch nie gesehen haben, sollten Sie mal eben ➱hier klicken. Es hat noch andere Verfilmungen von The Turn of the Screw gegeben, aber da enthalte ich mich lieber der Stimme. Warum ein Remake anschauen, wenn es einen Klassiker gibt?

Bei den CDs von Brittens Oper ist die Wahl nicht so eindeutig, es gibt eine Vielzahl von Einspielungen. Die Oper war eine Auftragsarbeit der Biennale in Venedig, und im berühmten Teatro La Fenice fand am 14. September 1954 die Uraufführung statt (die englische Erstaufführung war am 6. Oktober 1954 in der Sadler's Wells Opera). Jetzt wissen wir auch, dass die Engländer beim Picknick da oben auf dem Photo keine normalen Touristen sind, sie sind wegen der Uraufführung hier in Venedig und machen gerade eine Pause. Der Blondschopf im weißen Hemd ist übrigens (rechts neben Pears) ist übrigens David Hemmings. Später im Jahr hat die Decca die Oper aufgenommen, der Komponist dirigierte selbst. Das ist natürlich noch Mono, obwohl die Decca im gleichen Jahr schon mit Stereoaufnahmen (und der berühmten Decca Tree) experimentiert.

Aber wer die Opernaufnahmen der Decca kennt, weiß, dass bei ihnen eine Monoaufnahme (die dann eines Tages sorgfältig auf das Digitalformat transferiert wurde) auch hervorragend klingen kann. Die alte Aufnahme ist heute immer noch unter dem Sub-Label der Decca namens London lieferbar. Wenn dies auch ein Sub-Label ist, es wurde an nichts gespart. Den beiden CDs liegt ein booklet mit dem Libretto bei, das auch einen hervorragenden einführenden Essay von Christopher Palmer (dem Herausgeber des Britten Companion) enthält. Der Mitschnitt aus Aldeburgh von 1993, den es bei Naxos gibt, wäre sicherlich auch keine schlechte Wahl. Die Redaktion von Gramophone hat vor Jahren die Aufnahme mit Ian Bostridge in den höchsten Tönen gelobt (empfahl aber auf der gleichen Seite die alte Decca Aufnahme), zu der Aufnahme sage ich mal nichts. Weil ich Ian Bostridge nun partout nicht mag.

Es gibt natürlich auch zahlreiche DVDs. Ich besitze eine Aufnahme vom Festival Aix-en-Provence (Regie Luc Bondy) mit der Französin Mireille Delunsch. Die vielleicht besser aussieht als sie singt (ja, ich weiß, dass ich das schon ➱einmal gesagt habe), aber sie hat eine große schauspielerische Begabung. Und die ist für die Rolle der Gouvernante (die ein wenig wie Brontës Figur der Jane Eyre in den Text von Henry James hereingewandert ist) auch erforderlich. Bondys Bühne für die Inszenierung von Aix-en-Provence war karg und spartanisch möbliert, war eine kalte Fläche, vor der sich die psychologische Kammeroper entfaltete. Ich erwähne Luc Bondys Inszenierung nicht nur, weil ich sie habe, sondern auch, weil Sie sie ➱hier in ganzer Länge sehen können.

Benjamin Britten ist nicht nur Komponist und Dirigent gewesen, er ist auch - und das sollte nicht vergessen werden - ein vorzüglicher Pianist gewesen. Wenn William Mann, der Musikkritiker der Times, über Gerald Moore gesagt hat, dass er the greatest accompanist of his day, and perhaps of all time sei, dann ist das sicher richtig. Aber Gerald Moore, dem wir die wunderbaren Erinnerungen Am I too Loud? verdanken, hat seinerseits über Britten geschrieben, dass der the greatest accompanist in the world sei. Machen Sie den Test und hören sich ➱Die schöne Müllerin oder ➱Die Winterreise an, wo Britten Peter Pears begleitet (der im Gegensatz zu ➱Ian Bostridge ein hervorragendes Deutsch singt). Was Britten hier als Begleiter spielt, ist von einem anderen Stern. Als ich das vor Jahrzehnten zum ersten Mal hörte, dachte ich, er wolle Schubert neu komponieren. Da ich Die schöne Müllerin erwähnt habe: ja, ich weiß, dass ich in ➱Tränenregen eine Fortsetzung versprochen habe. Und ja, sie kommt. In den nächsten Tagen oder in der nächsten Woche.

1992 erschien in London die erste große Biographie Brittens von Humphrey Carpenter. Der Rezensent des London Review of Books war voll des Lobes. Und das kann man bei den Büchern des viel zu früh verstorbenen Humphrey Carpenter auch sein. Doch auch für den deutschen Leser gibt es ein empfehlenswertes Buch, Norbert Abels Benjamin Britten in der der Reihe der rowohlts monographien. Ellen Kohlhaas hat die Leistung von Abels in der FAZ zu Recht in ihrer Rezension gewürdigt. Das Britten Jahr sah in England zwei neue Biographien, die erste, Benjamin Britten: A Life For Music, war das Buch des englischen Dichters Neil Powell, der Britten und sein Werk verehrt.

In ihrem Ansatz kritischer ist die neue Biographie von dem Dirigenten (und Professor am Gresham College) Paul Kildea. Er hat in Benjamin Britten: A Life in the Twentieth Century auch die unangenehmen Seiten von Britten aufgezeigt. Die vielen, die ihn kannten, nicht unbekannt waren, wenn Sie an das Zitat von Leonard Bernstein oben denken. Sie können übrigens auf der Seite des Gresham College eine lange ➱Vorlesung von Paul Kildea hören. Ich glaube, das war genug Britten für diesen Tag.

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