Dienstag, 1. April 2014

Aprille with his shoures soote


Es ist April. Sie ahnen schon, was jetzt kommt? Ja, der Poetry Month in den USA - und einen ganzen Monat lang Gedichte in diesem Blog. Das kennen Sie schon aus den vorigen Jahren, es ist längst eine kleine Tradition geworden. Ich beginne heute einmal mit dem vielleicht berühmtesten Gedicht der englischen Literatur, in dem der April schon in der ersten Zeile auftaucht, Chaucers Canterbury Tales. Da heißt es im Prolog:

Whan that aprill with his shoures soote
The droghte of march hath perced to the roote,
And bathed every veyne in swich licour
Of which vertu engendred is the flour;
Whan zephirus eek with his sweete breeth
Inspired hath in every holt and heeth
Tendre croppes, and the yonge sonne
Hath in the ram his halve cours yronne,
And smale foweles maken melodye,
That slepen al the nyght with open ye
(so priketh hem nature in hir corages);
Thanne longen folk to goon on pilgrimages,
And palmeres for to seken straunge strondes,
To ferne halwes, kowthe in sondry londes;
And specially from every shires ende
Of engelond to caunterbury they wende,
The hooly blisful martir for to seke,
That hem hath holpen whan that they were seeke. 
Bifil that in that seson on a day,
In southwerk at the tabard as I lay
Redy to wenden on my pilgrymage
To caunterbury with ful devout corage,
At nyght was come into that hostelrye
Wel nyne and twenty in a compaignye,
Of sondry folk, by aventure yfalle
In felaweshipe, and pilgrimes were they alle,
That toward caunterbury wolden ryde.

Sieht etwas gewöhnungsbedürftig aus, das ist Mittelenglisch. Es dauert noch einige Jahrhunderte, bis es sich in das Neuenglische verwandelt (➱hier gibt es eine wunderbare zehnminütige Nachhilfe zum Sprachwandel). Ich habe natürlich einen ➱Paralleltext anzubieten. Und es gibt das Ganze auch vorgetragen. Hören Sie nicht auf diese junge ➱Dame, hören Sie lieber ➱dies an. Man findet im audiovisuellen Bereich eine Vielzahl von Hilfen zum Verständnis des Werkes. Ich kann hier einen ➱Canterbury Tales Rap anbieten, aber noch witziger ist die Inhaltsangabe des ➱Werks, wie es die Mamas and the Pappas zur Melodie von California Dreaming gesungen haben könnten.

Ob das hier eine echte Hilfe zum Verständnis des Werkes ist, weiß ich wirklich nicht. Ein Kollege, der ein Jahr an einer amerikanischen Universität unterrichte, hat mir vor Jahren einmal erzählt, dass es in Amerika eine Porno Version der Canterbury Tales gäbe. Habe ich eben gesucht, gleich gefunden. Denen ist auch nichts heilig. Ich bezweifle, dass dieser Film unter das Thema ➱Literaturverfilmungen fällt. Ich glaube auch nicht, dass hier Pilger auf dem Weg nach Canterbury sind, um vor dem Schrein des Heiligen Thomas Becket zu beten. Dieser Thomas Becket war einmal Lordkanzler von England, bevor er Erzbischof wurde. Er ist derjenige, der in T.S. Eliots Theaterstück Murder in the Cathedral die Hauptrolle spielt. Aber Bischöfe einfach umbringen, das tut man natürlich nicht.

Ich weiß nicht, warum mir jetzt gerade dieser Tebartz von Elst einfällt. Aber es gibt da einige Parallelen. Auch dem ehemaligen Lordkanzler wurden, als der Bischof geworden war, Geltungssucht und andere Dinge vorgeworfen. In einer Erhebung des BBC History Magazine kam er 2006 als worst Briton auf den zweiten Platz hinter Jack the Ripper, die Vorwürfe hießen, dass er greedy, hypocritical und der founder of gesture politics sei. Professor ➱John Hudson schloss seine Ausführungen mit dem Satz: Those who share my prejudice against Becket may consider his assassination in Canterbury Cathedral on 29 December, 1170, a fittingly grisly end. Im Mittelalter dachte man natürlich ganz anders über Thomas Becket. Da war er ein Heiliger. Und als es darum ging, dass die Kaufleute der Englandfahrer Gesellschaft in Hamburg einen neuen Altar für ihre Bruderschaftskapelle bestellten, da orderten sie bei Meister Francke natürlich ein Bild von dem in seinem Dom in Canterbury ermordeten Bischof.

Angeblich hatte der König die Ermordung gar nicht befohlen, allerdings wird ihm der Satz zugeschrieben: Will no-one rid me of this turbulent Priest? Vier seiner Ritter werden diesen Satz verstehen. Ihre Namen sind bekannt, es sind prominente Vertreter der englischen Aristokratie: Reginald fitzUrse, Hugh de Morville, William de Tracy und Richard le Breton. Der letztere hat eine berühmte Nachfahrin: Lillie Langtry, die Geliebte des Prince of Wales. An dieser Stelle sollten Sie jetzt vielleicht den Post ➱Cricket lesen (mein Bestseller: seit er im Netz steht, hat er zehntausend Clicks bekommen). Oder den Post ➱Charles Frederick Worth, da taucht sie auch auf.

Heute hängt das Bild von Meister Francke (hier der linke Seitenflügel des Altars mit der Verhöhnung des Thomas Becket) in der Kunsthalle Hamburg. Der Kunsthallendirektor Alfred Lichtwark (lesen Sie ➱hier mehr dazu) hatte den Altar 1898 von der Schweriner Galerie gekauft. Er schreibt dann gleich an Max LiebermannIch möchte wohl wissen, was Sie zu den Bildern des Hamburger Meisters von 1424 sagen werden, die ich jetzt gerade neu einrahmen lasse. Ich erzählte Ihnen doch, die neuen, die uns der Großherzog von Mecklenburg verkauft hat. Ein toller Kerl, d.h. der alte Maler, Meister Francke heißt er. Ich muß gerade ein kleines Buch über ihn schreiben, damit die Hamburger schneller begreifen, was der alte Herr bedeutet. Er ist viel besser als die gleichzeitigen Kölner. Ein großer Kolorist und ein großer Finder und Erfinder. Hoffentlich sehen wir das einmal zusammen. Das Buch schicke ich Ihnen, sowie es erscheint, zu lesen brauchen Sie es nicht, aber Sie müssen mir sagen, was Sie von den Abbildungen halten. Haben Sie nochmals herzlichen Dank für Bild und Brief. Mit freundlichem Gruß von Haus zu Haus der Ihrige Lichtwark.

1969 hatte die Kunsthalle Hamburg zu ihrer Jahrhundertfeier unter dem Titel Meister Francke und die Kunst um 1400 eine Jubiläumsausstellung organisiert, was dort zu sehen war, wird man nie wieder an einem Ort sehen können. Niemand leiht heute einen Altar von 1400 aus. Das Metropolitan Museum hatte damals sein Exemplar der Belles Heures of Jean de France, Duc de Berry der Brüder Limburg ausgeliehen, das allein war schon eine Sensation. War natürlich hinter dickem Panzerglas. Nicht weniger sensationell war das Stundenbuch von Jean de Boucicaut, Marschall von Frankreich des Boucicault Meisters oder der Barbara Altar von Meister Francke, der aus Helsinki gekommen war. Der Katalog dieser denkwürdigen Ausstellung ist heute bei Amazon Marketplace noch sehr preiswert zu bekommen.

Früher quälte man Anglistikstudenten mit den Canterbury Tales im Examen, aber ich glaube, das ist jetzt weggefallen. Bei den neuen BA-Studiengängen fällt ja eh alles weg. Man kann Chaucer durchaus in einer neuenglischen Übersetzung lesen. Und es gibt ihn auch genügend deutsche Übersetzungen. Bei ➱Zeno findet sich die von Adolf von Düring aus dem Jahre 1886, die gar nicht schlecht ist:

Wenn milder Regen, den April uns schenkt,
Des Märzes Dürre bis zur Wurzel tränkt,
In alle Poren süßen Saft ergießt,
Durch dessen Wunderkraft die Blume sprießt;
Wenn, durch des Zephyrs süßen Hauch geweckt,
Sich Wald und Feld mit zartem Grün bedeckt;
Wenn in dem Widder halb den Lauf vollzogen,
Die junge Sonne hat am Himmelsbogen;
Wenn Melodieen kleine Vögel singen,
Die offnen Augs die ganze Nacht verbringen,
Weil sie Natur so übermüthig macht: –
Dann ist auf Wallfahrt Jedermann bedacht,
Und Pilger ziehn nach manchem fremden Strande
Zu fernen Heil'gen, die berühmt im Lande;
In England aber scheint von allen Enden
Nach Canterbury sich ihr Zug zu wenden,
Dem heil'gen Hülfespender aller Kranken,
Dem segensvollen Märtyrer zu danken.
Zu dieser Zeit geschah's, als einen Tag
Zu Southwark ich im Tabard rastend lag
– Bereit mit andachtsvollem, frommem Sinn
Zur Pilgerfahrt nach Canterbury hin –
Daß Abends langte dort im Gasthof an
Wohl eine Schaar von neunundzwanzig Mann
Verschiednen Volkes, das durch Zufalls Spiel
Zusammenwarf das gleiche Wallfahrtsziel;
Nach Canterbury reiten wollten Alle.

Dürings Wenn Melodieen kleine Vögel singen, Die offnen Augs die ganze Nacht verbringen, Weil sie Natur so übermüthig macht zum Beispiel steht dem Original (And smale foweles maken melodye, That slepen al the nyght with open ye (so priketh hem nature in hir corages) eigentlich in nichts nach. Neben der Übersetzung von Adolf von Düring wäre meine Empfehlung der Reclam Band The Canterbury Tales / Die Canterbury-Erzählungen: Mittelenglisch / Deutsch in der Übersetzung von Heinz Bergner. Bergner war Professor für ➱Mediävistik, der müsste so etwas auch können. Falls es mich gelüstet, die Canterbury Tales noch einmal zu lesen, werde ich sie natürlich im Original lesen. Da bin ich Snob. Für irgendwas müssen die drei Hauptseminare Mittelenglisch, die ich mal besuchte, ja gut sein.


1 Kommentar: