Donnerstag, 17. April 2014

Chris Barber


Vor einem halben Jahrhundert war er hier, das war im Mai 1959 eine Sensation. Das Cover der Schallplatte Metronome MLP 15031 zeigt einen roten englischen Doppeldeckerbus mit dem Zielort Moscow, der durch das Brandenburger Tor fährt. Die Quadriga da oben hatte man vor einem halben Jahr in einer Nacht- und Nebelaktion heruntergeholt und den Preußenadler und das Eiserne Kreuz entfernt. Dieser Militarismus verträgt sich angeblich nicht mit den Staatszielen der DDR. Vor Schinkels Neuer Wache paradieren sie aber noch jeden Tag in ihren Uniformen, die den Wehrmachtsuniformen so ähnlich sehen. Aber man kann damals noch durch das Brandenburger Tor fahren. ➱Ulbrichts Satz Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten, ist noch nicht ausgesprochen. Zu dem Konzert, das der Engländer (zu dessen Band der rote Bus gehört) in der Deutschlandhalle gibt, werden auch dreitausend DDR Bürger kommen. Ein Viertel des Publikums. So voll war die Deutschlandhalle nicht mal 14 Tage vorher, als Bubi Scholz hier boxte.

Der Engländer, von dem hier die Rede ist, heißt Chris Barber. Er wird heute achtzig Jahre alt. Happy Birthday, Chris! Er ist das Aushängeschild des Traditional Jazz, was die Engländer trad jazz oder einfach nur trad nennen. Die Rückkehr zu Dixieland und New Orleans Jazz. Auch in Deutschland entstehen jetzt solche Jazzbands, wie die Low Down Wizards von Abbi Hübner oder Addi Münsters Old Merry Tale Jazzband. Wenn sie aus Skandinavien kommen, heißen sie Papa Bue's Viking Jazzband. Aber eigentlich kommt die Bewegung aus den USA, wo George Lewis jetzt eine Renaissance feiert, und aus England. Ohne Humphrey Lyttelton (ein Mitglied des englischen Adels) wäre das vielleicht nichts geworden. Heute spielen ältere Herren mit grauen Bärten bei der Eröffnung von Baumärkten Dixieland. Damals, als es noch neu war, wurde es Zickenjazz genannt. Wer das sagte, hatte Charlie Parker im Kopf (und im Ohr) und hasste das Dixieland Revival.

Chris Barber bringt den Klarinettisten Monty Sunshine mit, Lonnie Donegan ist leider nicht mehr bei der Band, hier auf dem Bild ist er noch zusehen. Von links nach rechts: Monty Sunshine (clarinet), Tony [Lonnie] Donegan (banjo), Ken Colyer (cornet), Ron Bowden (drums), Chris Barber (trombone) und Jim Bray (bass). Dafür hat Barber jetzt Ottilie Patterson als Sängerin. Und die kann wirklich singen. Wenn sie, nachdem die Band mit dem Climax Rag richtig Stimmung in der Deutschlandhalle gemacht hat, ihr Easy, Easy Baby erstmal a cappella beginnt, hat sie das ganze Publikum für sich. Das Konzert war lange vorher ausverkauft, Chris Barber ist schon berühmt. Vier Wochen vor dem Berliner Konzert war er mit seiner Band in der amerikanischen Ed Sullivan Show aufgetreten. Live, wie man so schön sagt. Die erste britische Band, die das in Amerika geschafft hat. Auch in Berlin spielt Barber sein Ice Cream, You Scream, das fehlt in keinem Konzert, es ist sein Markenzeichen. ➱George Lewis hat es zuerst aufgenommen, und es ist sicherlich auch eine Reverenz an den großen Klarinettisten, der sich nach dem ersten Erfolg in den Roaring Twenties als Hafenarbeiter durch die Great Depression durchgeschlagen hat.

Der Jazz hat von seinem Beginn an auch die Dichter herausgefordert, selbst ➱Ezra Pound war der neuen Musik gegenüber aufgeschlossen. Aber derjenige, der wohl am besten den Rhythmus des Jazz mit der Lyrik verbunden hat, ist Langston Hughes gewesen. Und deshalb gibt es heute als Geburtstagsgruß für Chris Barber ein Gedicht von Langston Hughes.

Juke Box Love Song

I could take the Harlem night
and wrap around you,
take the neon lights and make a crown,
take the Lennox Avenue busses,
taxis, subways,
and for your love song tone their rumble down.
Take Harlem's heartbeat,
make a drumbeat,
put it on a record, let it whirl,
and while we listen to it play,
dance with you till day -
dance with you, my sweet brown Harlem girl.

Das Bild ganz oben zeigt Ottilie Patterson am Mikrophon, von Chris Barber ist rechts nur die Posaune zu sehen. Sorry, Chris.

Das stand hier schon einmal, am 17. April 2010 unter dem Titel ➱Zickenjazz. Mein Blog war ein Vierteljahr alt und wurde erstaunlicherweise schon gelesen. Damals gab es nicht einmal ein Photo von dem Geburtstagskind, ich reiche das heute mal nach. Es ist mehr als ein halbes Jahrhundert alt. Ottilie Patterson steht rechts neben ihm, die ist auch schon ein paar Jahre tot. Sie sind ja beinahe alle schon tot, die Helden meiner Jugend, die Traditional Jazz spielten: Ken Colyer, Humphrey Lyttelton, Monty Sunshine, Lonnie Donegan. Aber Mr Acker Bilk lebt noch. Und da müssen wir doch mal eben ➱hier in Petite Fleur hineinhören.

Chris Barber hat heute Geburtstag. Da müssen hier natürlich Glückwünsche stehen. Und ein Gedicht. Ich könnte ja den Text von I scream, you scream, we all scream for ice cream! nehmen, aber es sollte schon etwas Schönes sein. Da nehme ich doch ein Gedicht von Raynette Eitel (die ich schon mehrmals hier vorgestellt habe):

Things That Make Me Cry

The soft percussive sound of your wings
beating on high as they head into
the blue infinity of sky…

Fizzy jazz shaken into my martini
along with the green olive
at the end of a used-up day…

Fire fading across the hearth,
my heart tick-ticking in slow time
with the flickering flames…

Old photos where the past lives on,
and youth stays in its glossy place
beside laughter and love…

Your soft breathing as you sleep
deep beneath your dreams,
while stars light your way across the night.

Und ich lege jetzt mal die alte LP aus dem Jahre 1959 auf, die da oben abgebildet ist. Kratzt und knirscht ein bisschen. Aber wie ➱Wilhelm Busch sagt: Eins, zwei, drei! Im Sauseschritt Läuft die Zeit; wir laufen mit. Dafür, dass sie über fünfzig Jahre alt ist, hat sie sich gut gehalten.

Lesen Sie auch: ➱Lonnie Donegan, ➱Ingeburg Thomsen.


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