Dienstag, 3. Juni 2014

Ascan Klée Gobert


Es war ein seltsamer Buchtitel: Zacke und Loch. Ich kaufte das Buch sofort. Vor allem, nachdem ich die erste Seite gelesen hatte. Die erste Seite ist immer ein Test, je mehr man gelesen hat, desto mehr versteht man von Literatur. Der Name des Autors war ebenso erstaunlich wie der Buchtitel: Ascan Klée Gobert. Doch den Namen hatte ich schon einmal gehört. Den Namen verband ich zwar nicht mit dem Schauspieler Boy Gobert (dessen Vater er ist), sondern mit einem Zitat über die Insel ➱Helgoland, wo er von der Hauptstraße mit ihren reizvollen Läden voller Reiseandenken spricht: Ihre Pracht hat in meiner Erinnerung den Vorrang vor den Basaren des Orients und den Kaufstrassen europäischer Hauptstädte. Heute würde ihn am Lung Wai nichts mehr daran erinnern. Das Postamt hat dichtgemacht. Aber dafür gibt es jetzt ganz vorne an der Mole eine postmoderne Scheußlichkeit, die Atoll Ocean Resort heißt. Das ist nicht etwa Halunder, die inselfriesische Variante, die die Helgoländer sprechen. Das ist Englisch, man hofft aufs internationale Publikum.

Die Zeiten der Hamburger Patrizier, über die der Ascan Klée Gobert (der ja mit der halben Hamburgischen Kaufmannsaristokratie verwandt war, wie mir die Lektüre von Zacke und Loch zeigte) in seinen Erinnerungen schreibt, kommen nicht wieder. Dass sein Sohn Boy Christian Schauspieler wurde, passte ihm nicht so ganz in das Bild, aber der promovierte Jurist und Kaufmann gab ihm den Rat mit auf den Weg: Tu, was du willst, aber vergiß nie, dass du hier, wo uns jeder kennt, viel eher ein schlechter Anwalt oder Kaufmann als ein schlechter Schauspieler sein kannst. 

Kaum hatte ich Zacke und Loch gelesen, besorgte ich mir antiquarisch alles, was der Hamburger geschrieben hatte. Das ist gar nicht so schwer, seine kleinen Büchlein werden zu Schleuderpreisen gehandelt. Ascan Klée Gobert ist in Hamburg kein Unbekannter, er war Mitglied der ersten Hamburger Bürgerschaft nach dem Zweiten Weltkrieg, Senator und Präses der Kultusbehörde. Er ist Offizier in zwei Weltkriegen gewesen und kommt, wie man dem Buch unschwer anmerken wird, aus der feinsten Hamburger Gesellschaft. 1955 hatte Ascan Gobert beim damaligen NWDR eine zwölfteilige Sendung von vorgelesenen Erinnerungen an das Hamburg vor dem Ersten Weltkrieg gehabt, die soviel Zuspruch von Zuhörern fand, dass sich Gobert zur Veröffentlichung dieser Erinnerungen genötigt sah. Er war darin nicht ungeübt, denn der Jurist und Kaufmann schrieb schon seit 1930 für das Feuilleton der Frankfurter Zeitung und hatte 1937 mit Glück durch Sibylle seinen ersten Roman veröffentlicht. Dem folgten Blaue Tage (1941), Kindheit im Zwielicht (1946), Die schwarze Fähre (1947), Das Gartenfest (1949) und andere kleinere Schriften.

Die Hörer des NWDR, die von der Sendereihe damals so begeistert waren, haben sich nicht getäuscht. Ascan Gobert beschwört eine Welt und eine Gesellschaft wieder herauf, die wir aus den Buddenbrooks kennen. Mit Charme und Humor und durchaus sozialkritischem Ton beschreibt Gobert das Hamburg seiner Jugend. Das natürlich hauptsächlich aus Harvestehude und Blankenese besteht. Wo sich der regionale Hamburger Uradel angesiedelt hat: Kaufleute und Reeder wie die Slomans, Amsincks, Laeiszs und Blohms, Bankiers wie die Lutteroths und Mäzene wie Nicolaus Hudtwalcker, Gründungsmitglied des Hamburger Kunstvereins. Von den 723 Millionären, die 1911 in Hamburg Steuern zahlten, wohnten mehr als vierzig am Harvestehuder Weg, weshalb die Straße im Volksmund auch Straße der Millionäre hieß.

In Blankenese hatte um die Jahrhundertwende Goberts Großvater John Alfred Edye nach dem Tod seines Bruders (der Bankier in New York war) das große Grundstück zwischen Baurs Park und dem Haus des Senators William Henry O’Swald geerbt. Und Sie haben das mit dem O'Swald eben richtig gelesen: die Anglomanie der Hamburger nimmt seltsame Formen an. Als ich vor vielen Jahren in einem verwinkelten Hamburger Antiquariat ein Buch in die Hand nahm, das dem Großkaufmann und Bürgermeister einmal gehört hatte, musste ich angesichts des majestätisch signierten O'Swald ganz unhanseatisch laut lachen.

Ascan Gobert hat die Sommer von 1903 bis zum Ersten Weltkrieg in der Sommerresidenz des Großvaters (der der Mitbesitzer der Sloman Reederei war) verbracht. Die Sommer davor verbrachte er auf dem Gut Lammershagen, dem zweiten Sommersitz von Edye, man lebt im großen Stil: Die Kapitel dieses Buches drängten sich dem Chronisten auf, wenn ihn Absicht oder Zufall im Laufe der Jahre in die räumliche Umwelt seiner Kindheit zurückführten. Seitdem sind manche dieser Stätten in Schutt und Asche versunken. So bestand die Versuchung diesen Umstand zum Ausgangspunkt einer nachträglichen sentimentalen Betrachtung zu machen. Doch wurde davon abgesehen, weil die Vergangenheit auch ohne Merkmale äußerer Zerstörung für immer abgeschlossen war, schreibt Gobert 1946 in Kindheit im Zwielicht. Er schreibt auch: Diese Welt ist untergegangen, darum wurde sie noch einmal mit liebevoller Feder gezeichnet. Trotz des Verzichts auf die Sentimentalität mochten Goberts Zuhörer im NWDR und seine Leser seine Erzählungen von der untergegangen Welt.

Was einst die Welt des regionalen Hamburger Uradels war, wird heute von einer anderen Gesellschaftsschicht bevölkert. Ich weiß nicht, ob die mir lieber sind als die reichen Pfeffersäcke des Fin de Siècle. Also diese Dame hier zum Beispiel vor ihrem Haus in Baurs Park. Sie heißt Ruth Pinnau, und sie hat ihr Leben lang das großartige Werk ihres Mannes ➱gefeiert. Ich zitiere (mit Genuß) aus ihrem Buch Der Sieg über die Schwere: Cäsar Pinnau in meinem Leben: Auf der Brüstung erinnern mich vier die Jahreszeiten symbolisierende Figuren an die Vergänglichkeit unseres Lebens. Ars longa vita brevis. Und so sehr vielleicht der Mensch gemäß der Weisheit des alten Heraklit nur die Existenz einer “Eintagsfliege” führt, so sehr bin ich mir gewiß, daß die architektonische Arbeit meines Mannes den Sturm der Zeiten überdauern wird, eine Kunst, zu welcher ich meinen Teil beitragen konnte, denn ohne weibliche Intuitionen hätte sie wohl weniger diesen Grad an Vollendung erreicht.

Ist Ihnen schon schlecht? Oder vielleicht jetzt, wenn ich jetzt eine architektonische Arbeit von ihrem Gatten Caesar F Pinnau abbilde, die den Sturm der Zeiten nicht überdauert hat? Falls Sie sich an Hitlers Neue Reichskanzlei erinnert fühlen, liegt das daran, dass es Hitlers Neue Reichskanzlei ist. Ich habe über Frau Pinnau schon in dem Post ➱Neubauten gelästert, jetzt reicht es auch. Sie könnten natürlich noch in diesen ➱Blog hineinschauen.

Lassen Sie mich von dieser Welt noch einmal in die Welt der Hamburger Pfeffersäcke zurückkehren. Und in die gute alte Zeit, die wir wir wissen, niemals so gut war, wie sie in erzählerischer Verklärung klingt. Nicht unbedingt bei Ascan Gobert, der beim Schreiben nie vergisst, dass einem Erzähler auch das Mittel der Ironie zur Verfügung steht. So schreibt er 1953 in der Zeit unter dem Titel Unsere alten FamilienIn übertragenem Sinne erging es Hamburg wie in einem Fischerdorf, welches als Seebad entdeckt ward und nun ganz natürlich den jüngeren Generationen andere Erwerbsmöglichkeiten und Heiratschancen bietet, zumal wenn der Fischfang beginnt, in den alten Formen nicht mehr alle ernähren zu können. Zur Zeit der Großväter gab es keine freie Berufswahl, sondern einen vorgeschriebenen Lebensweg, den nach zwei verlorenen Kriegen niemand mehr zu weisen vermag. Auch hatte sich das viel mißbrauchte und mißverstandene Wort vom „königlichen Kaufmann“ niemals nach einem fürstlichen Auftreten und Erbe verstanden, sondern nach der souveränen, nicht auf Aktienpakete aufgebauten Handhabung der eigenen Fortune de mer, der Schiffe, Ladungen, Speicher und Plantagen rings um die Welt, die zweimal zerschlagen wurden. Und wenn, um im Bilde zu bleiben, das Boot die Fischerfamilie vom Großvater bis zum Enkel nicht, wie von Gott gewollt, „und unseren lieben Nachbar auch“ ernährt, ja wenn das Boot zusammengelegt, die Hütte verkleinert, das Besteck versilbert wird, dann wird manche Familientradition schon durch Auseinanderlaufen aufgegeben werden müssen, ohne daß, wie bei den „Buddenbrooks“, ein „Verfall“ der Familie einzutreten braucht.

Damit sind wir am Schluß der kleinen Betrachtung noch bei einer Pointe angekommen, welche sie bestätigt. Obwohl es eine ganze Reihe, sogar umfangreicher Hamburger Familienromane gibt, sind die Hamburger „Buddenbrooks“ niemals geschrieben worden, und zwar nicht nur, weil sich der Thomas Mann dafür nicht fand, sondern weil das spezifische Gewicht der althamburgischen Patrizierfamilie zu leicht gewesen wäre, um das Gewicht der Weltstadt, nicht nur der Hafenstadt, zu reproduzieren. Gewogen und zu leicht befunden, das werden viele Hamburger nicht so gerne gelesen haben. Wenn es jedoch einen Hamburger gab, der ein Thomas Mann hätte werden können, dann ist das Ascan Gobert gewesen. Der sich leider auf die kleine Form spezialisierte.

Vielleicht fehlte ihm der lange Atem des Erzählers, um die untergegangene Welt mit liebevoller Feder nachzuzeichnen. Man liest (ich auf jeden Fall) die Beschreibungen untergegangener Welten ja zu gerne. Ob das ➱Proust, ➱Conrad, ➱Faulkner, Joseph Roth, ➱Gregor von Rezzori oder ➱Marga Berck mit ihrem Dommer in Lesmona ist. Ich habe den Erzähler Ascan Klée Gobert schon in mehreren Posts erwähnt. Er taucht in den Posts ➱Gisela von Stoltzenberg, Emily Ruete, ➱Jungfernstieg und ➱Trolleybus auf, heute bekommt er einen eigenen Post. Zwei Leseempfehlungen hätte ich auch. Da ist zum einen die Biographie Umformung der Persönlichkeit von Helmut Stubbe da Luz, zum anderen der von demselben Autor herausgegebene Band Der Zwiebelfisch: Berichte, Erzählungen und Feuilletons eines Hamburger Kultursenators, der die verstreuten Feuilletonbeiträge auf 447 Seiten sammelt.

Aus der Vielzahl dieser Beiträge möchte ich zum Schluss noch einen zitieren. Er heißt Verhexter Dialog und erschien 1948 in der ZeitVorgestern begegnete ich einem Hexenmeister oder Zauberer. Wem begegnet man nicht heutzutage? Ich wußte natürlich nicht gleich, daß mein Reisegefährte ein Hexenmeister sei. Zunächst war er nur ein Mann mit grauen Schläfen und roch nach Shagtabak. Erst über einem Gespräch von Normalverbrauchern, Datteln und schwarzer Bratwurst kamen wir auf jenes Märchen von den drei Wünschen, in dem schließlich die Frau, die ihrem Eheliebsten an die Nase gehexte Bratwurst wieder fortwünschen muß, um ihn zu befreien. Bei dieser Gelegenheit deutete er bescheiden an, daß er früher selbst als Hexenmeister gearbeitet habe. „Habe?“ – Ja, sein Berufungsverfahren schwebe. Leider sei er Besenwart der NS-Hexenschaft gewesen. – Nun gibt es in unserer Familie seit Generationen zwei quälende Fragen: Tragen die Schotten Höschen unter ihrem Kilt, und können Hexer immer hexen? Die erste Frage blieb bisher ungelöst, die zweite wurde endlich geklärt. Nein! Hexer können nicht immer zaubern. Mein Hexer erläuterte die Sache sehr hübsch durch einen Vergleich mit anderen Künsten. Wie ein Dichter nicht immer dichtet, ein Komponist nicht komponiert, ein Bildhauer nicht immer meißelt, so sei auch ein Hexer abhängig von Umwelt, Intuition und Stimmung. Es gäbe in der Zauberei ebenso Pechsträhnen, wie anderswo, Haupttreffer und peinliche Mißverständnisse. Dabei zog er mir ganz in Gedanken für eine Mark Kleingeld aus der Nase und steckte es zu sich.
     „Und Was treiben Sie jetzt, wenn ich fragen darf?“
     „Biemistufra“, antwortete er.
      Abrakadabra?“, fragte ich möglichst fachmännisch zurück. Nein! „Biemistufra“bedeute ununterbrochenes und ergebnisloses Hin- und Herfahren zwischen den bizonalen Bürokratien von Bielefeld, Minden, Stuttgart und Frankfurt. Er versuche eine Hexerei-Absatz- und Verbrauchergenossenschaft zu organisieren. Man müsse rechtzeitig neuen totalitären Hexereigelüsten begegnen. Aber er sei optimistisch. Das Wort „Zauberbedarfsträger“ für die im Auftrag des Wirtschaftsrat zu verhexenden Personen sei bereits amtlich genehmigt.
     „Und wie steht es mit Ihnen?“, fuhr er fort und griff uns zwei Chesterfield aus der Luft. „Sehen Sie“, unterbrach er sich selbst, „eine typische kleine Panne, es sollten Navycut sein. – Sie gefallen mir. Hier ist meine Karte. Sobald ich wieder zugelassen bin, melden Sie Ihre drei Wünsche an. Allerdings, ‚Tischleindeckdich‘ ist Mangelware, ‚Papiergeldesel‘ gibt es nur jenseits des Eisernen Vorhangs, und der 'Fliegende Teppich’ bekommt meistens kein ‚Exit‘...“
     „Und wie wäre es mit drei etwas komplizierten Wünschen, welche nicht nur mir, sondern uns allen nützen würden?“ Der Hexer sauste vor Erstaunen einmal zum Abteilfenster hinaus, über das Waggondach und auf der anderen Seite wieder hinein. – „Und das wäre?“ Wollen Sie weiterlesen? Ich könnte wetten, dass Sie das wollen. Klicken Sie einfach ➱hier.

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