Sonntag, 9. November 2014

Schicksalstag


Meine örtliche Zeitung war am Freitag vollgepackt mit Reklamebeilagen, die mich darauf hinwiesen, dass am Sonntag ein verkaufsoffener Sonntag sei. War da nicht noch irgendetwas anderes? Auf der Titelseite gab es nur etwas zum Streik bei der Bahn und zu dem singenden Kieler ➱Augenarzt, der seine Steuern nicht bezahlt. Das Landesmuseum im Schloss Gottorf weist auf eine Ausstellung über den Nordischen Krieg und den Untergang des schwedischen Flaggschiffs Prinsessan Hedvig Sophia vor Bülk (was schon in diesem ➱Blog erwähnt wurde) im nächsten Jahr hin. Und der amerikanische Professor Kenneth Goldsmith offeriert an der University of Pennsylvania einen Kurs mit dem Namen Wasting time on the Internet. Weil sinnloses ➱Surfen im Netz schlau macht.

Auf Seite zwei gibt es dann die Meldung, dass die Linke gegen den Auftritt Wolf Biermanns bei einer Feierstunde des Bundestags protestiert. Er solle die Würde der Feierstunde nicht dazu nutzen, um einzelne Parteien zu kritisieren. Wäre es besser, wenn Gysi gesungen hätte? Die Würde der Feierstunde darf man natürlich nicht stören. Die Linke mag wohl nicht, dass der Volkssänger über ihre Partei gesagt hat: Das sind ja die Erben der DDR-Nomenklatura, und zwar finanziell und politisch und moralisch, genauer gesagt, unmoralisch. Es ist dieses verkommene Pack, das uns jahrzehntelang in der DDR unterdrückt hat, und natürlich tun die alles, um ein Geschichtsbild zu basteln, wo sie mit blauem Auge davonkommen und nicht mit Kopf ab. Zum Leidwesen des elenden Rests dessen, was zum Glück überwunden ist, ist es genau so gekommen, der ➱Biermann lässt sich den Mund auch im Bundestag nicht verbieten. Die Würde der Feierstunde wird gestört, die Regeln werden verletzt - aber für einen Augenblick dringt die wirkliche deutsche Geschichte in das Hohe Haus ein. Biermann kann nicht anders, er ist nun einmal so.

Die Würde des Menschen steht im Grundgesetz, die Würde des Bundestages nicht. Roger Willemsen, der es sich angetan hat, ein Jahr lang als Beobachter im Parlamentssaal zu sitzen, weiß zu berichten: Es wird im Bundestag auch ein Bonbon angeboten. Dieser Bonbon ist tatsächlich in ein Bundesadler-bedrucktes Papier eingewickelt. Er schmeckt nach WC-Reiniger und darf aber auf der Tribüne nicht gegessen werden, weil das der Würde des hohen Hauses widersprechen würde. Schön, dass wir das nun wissen. Wir können heute jederzeit hören und sehen, was im Bundestag passiert, andere Zeiten konnten das nicht. Wie Tucholsky 1928 schreibt: Was nun die »Würde des Parlaments« betrifft, so wollen wir doch da recht vorsichtig sein. Der Deutsche Reichstag hat bekanntlich verboten, dass seine Sitzungen durch den Rundfunk übertragen werden – und ich habe so das leise Gefühl, als sei das nicht die rechte Art, Würde zu markieren. Auch Politiker sind Menschen wie wir – bestenfalls Menschen wie wir. Das nachgestellte bestenfalls, das verdient Beachtung.

Festredner und Festakte sind ja eine gefährliche Sache, viele CDU Abgeordnete empfanden die ➱Rede von Navid Kermani (der wie Biermann auch vom Präsidenten des Bundestags eingeladen worden war) in der Feierstunde zu 65 Jahren Grundgesetz als dem Anlass nicht angemessen und verließen den Saal. Ja, damals, als der Bundestag noch Manfred Hausmann als Festredner einladen konnte, da war man auf der sicheren Seite. Heute wird man, nach allem, was man über ➱Hausmann im Dritten Reich weiß, den Auftritt vielleicht anders sehen. Wurde die Würde des Parlaments verletzt, als ➱Heinrich Lübke damals bei Haydns poco adagio cantabile aus dem Kaiserquartett glaubte, es sei die Nationalhymne und aufstand? Der Bundestag sah einmal sein Würde verletzt, weil ein Schriftführer ohne ➱Schlips erschien. Seine Rolle nahm vertretungsweise die Abgeordnete Agnes Alpers ein. Mit rotem Schlips. Das ist Würde.

Ich möchte an dieser Stelle einmal Thomas Jefferson zitieren: Malo periculosam, libertatem quam quietam servitutem. Even this evil is productive of good. It prevents the degeneracy of government, and nourishes a general attention to the public affairs. I hold it that a little rebellion now and then is a good thing, and as necessary in the political world as storms in the physical. Die Rede Biermanns (der im übrigen so höflich war, sich die Rede des Abgeordneten Gysi anzuhören - was die Kanzlerin laut Roger Willemsen selten tut) ist kein Eklat. Sie ist ein Stum im Wasserglas. Aber sie kann nicht wirklich schaden, der Würde des Parlaments nicht und der Demokratie auch nicht. Die meisten Deutschen wird das Ganze eh nicht interessieren. Die hatten heute morgen die unentgeltlich verteilte Bild Zeitung auf dem Tisch. Mit der Schlagzeile Liebes Deutschland (was ein ➱Brief von diesem unerträglichen Franz Josef Wagner ist) und einem Gutschein vom MediaMarkt. Kann wahrscheinlich gleich heute am verkaufsoffenen Sonntag eingelöst werden.

Gefeiert wird heute der 25. Jahrestag des Mauerfalls. Über diese Mauer hatte Erich Honecker noch 1989 gesagt: Die Mauer wird in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen bleiben, wenn die dazu vorhandenen Gründe noch nicht beseitigt sind. Soviel zu zukunftsgewissen Aussagen von Politikern. Für die Historiker ist der 9. November ein Schicksalstag, für andere ist es ein verkaufsoffener Sonntag. Sie könnten jetzt noch die Posts ➱Einheit, ➱Mauer und ➱Mauern lesen. Und ich stelle zur Feier des Tages ein Gedicht von Reiner Kunze hier hin, das Die Mauer heißt:

Als wir sie schleiften, ahnten wir nicht, wie hoch sie ist in uns
Wir hatten uns gewöhnt an ihren horizont
Und an die windstille
In ihrem schatten warfen alle keinen schatten
Nun stehen wir entblößt jeder entschuldigung

Aber bei allem Jubel der Gedenkfeiern und bei allem Trubel des Kommerzes am verkaufsoffenen Sonntag, sollten wir eins nicht vergessen: dass der 9. November noch ein ganz anderer Gedenktag ist. Falls Sie mich im letzten Jahr und in den Jahren davor noch nicht gelesen haben, dann würde ich Sie bitten, einmal das zu lesen, was am ➱9. November des letzten Jahres hier stand.

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