Sonntag, 3. Mai 2015

Mai-Unruhen


Heute vor 47 Jahren haben in Paris mit der Besetzung der Sorbonne die Mai-Unruhen begonnen. Das war etwas anderes als das, was wir neuerdings in Deutschland immer am ersten Mai haben. In dem Sommersemester war ich Assistent bei Helmut Papajewski, einem Emeritus der Universität Bonn, den man aus dem Ruhestand gelockt hatte, damit er den vakanten Lehrstuhl für Anglistik an meiner Universität vertrat. Er hielt eine Vorlesung über Milton, und er machte das gut. Er verschanzte sich nicht hinter seinem Pult und las ein Manuskript ab, er wanderte durch den Saal. Er konnte frei sprechen, das konnten in Deutschland damals nur wenige Professoren. Und er zwang die Studenten von Vorlesung zu Vorlesung hundert Zeilen von Miltons kleineren Dichtungen zu übersetzen. Jeder kam einmal dran. Ich musste das Ganze dann korrigieren. Die Sekretärin tippte es ab, dann wurden die Texte vervielfältigt. Die Übersetzungen zu korrigieren, war natürlich richtige Arbeit. Eine Übersetzung vergesse ich nie. Da hatte ein Student bei der ➱Stelle aus Lycidas:

Were it not better done as others use,
To sport with Amaryllis in the shade,
Or with the tangles of Neaera's hair?

die Zeile the tangles of Neaera's hair mit dem tangartigen Haar der Neaera übersetzt. Die originelle Übersetzung hat sich allerdings nicht durchgesetzt. Papajewski bot damals auch ein Hauptseminar zu Miltons Paradise Lost an. Bei dem ihm einmal in der Diskussion ein Zitat verloren gegangen war. Er suchte und suchte es im Text, aber er konnte es nicht finden. Da klappte er seine Ausgabe von Paradise Lost zu, lächelte uns an und sagte: Es hat keinen Sinn, an einem solch schönen Sommertag Milton zu machen. Ich erzähle Ihnen lieber von Paris. Da war er gerade gewesen. Hatte Roger Asselineau besucht, sich von dem Honorar, das er noch für einen Aufsatz bekam, eine kleine Picasso Zeichnung gekauft. Und war Augenzeuge der Mai-Unruhen gewesen. Jetzt erzählte er uns davon. Auch so etwas gab es im Jahre 1968, Pariser Aufstand statt John Miltons Paradise Lost.

Jeder hat 1968 anders erlebt. Ich habe damals die Bremer Unruhen wegen der Erhöhung der Straßenbahnpreise durch die Bremer Straßenbahn Aktiengesellschaft zum Teil erlebt. Also das, worüber Zadek dann seinen Film Ich bin ein Elefant, Madame gedreht hat. Und ich habe hier, sozusagen als Zeitzeuge, darüber geschrieben. Lesen Sie doch einmal den langen Post ➱Heinrich Hannover. Ich habe ihn mir noch einmal durchgelesen, zwei Tippfehler herausgenommen, einige Links und Photos hineingetan. Aber nichts geändert. Es ist, wie es ist.

Von 1968 habe ich, offen gesagt, die Schnauze voll. Nicht von den alten Erfahrungen, die auch meine Studentenjahre gewürzt haben und nun, ein halbes Leben zurückliegen. Was das Thema 68 so degoutant macht, ist seine mediale Zubereitung zwanzig, fünfundzwanzig, dreißig Jahre später. Bei fast allem, was man dazu lesen, sehen, hören kann, stellt sich alsbald ein Gefühl des Widerspruchs ein, das vereinfacht in drei Wörtern ausgedrückt werden könnte: Nicht schon wieder! oder, protest-literarisch gesagt: Alles war anders! Das steht natürlich nicht bei mir, das ist von Friedrich Christian Delius (der hier einen Post hat), aber er hat ja so recht.

Die Bremer Unruhen brachten eines Tages einen ganzen Sammelband anno dunnemals: 68 in Bremen hervor. Und Zadeks ➱Film Ich bin ein Elefant, Madame, aber Zadek selbst war nicht auf der Seite der Demonstranten zu finden. Der lag wahrscheinlich mit Judy Winter im Bett. Mit der hatte er ja schon ein Verhältnis, als sie noch minderjährig war. Nach sieben Jahren war die Affäre zu Ende, wahrscheinlich war sie ihm mit dreiundzwanzig zu alt.

Ich frage mich heute noch, was die hübsche Judy an dem Kerl fand. In seiner Autobiographie My Way hat er böse Dinge über sie gesagt. Aber über wen hat er in seiner Autobiographie nicht schlecht geredet? Judy Winter durfte aber später bei ihm noch in dem Film Van der Valk und die Reichen mitspielen. Freeling Fans haben den Post ➱Nicolas Freeling natürlich längst entdeckt. Und den Krimi Fans kann ich verraten, dass ich mein Versprechen, einmal über ➱Chief Inspector Morse zu schreiben, demnächst hier einlöse.

In Frankreich verhalten sich die Regisseure etwas anders als Peter Zadek, sie sind vom ersten Augenblick bei den Demonstrationen dabei. Schon im Februar 1968 hatte François Truffaut Demonstrationen gegen die Absetzung von Henri Langlois als Chef der Cinémathèque Française organisiert (lesen Sie mehr in dem Post ➱Henri Langlois). Und Truffaut (hier mit den scharfen Hosen, links neben ihm Godard, rechts ➱Polanski) hat mit Godard und Louis Malle den Abbruch der Filmfestspiele von Cannes betrieben. Truffaut widmet Langlois seinen Film Baisers volés, Godard verabschiedet sich vom kommerziellen Kino. Und Louis Malle?

Der wird zwanzig Jahre später die wunderbare Komödie Eine Komödie im Mai (Milou en Mai) mit Michel Piccoli drehen. Die Pariser Zeitung Liberation hat Louis Malle vorgeworfen, dass seine Komödie ein reaktionärer Film sei. Sie hätten lieber sagen sollen, dass es ein altmodischer Film ist, der zu dem französischen Kino vor der Nouvelle Vague zurückkehrt. Der in der besten Tradition des französischen Erzählkinos steht. Der viel mit Renoirs Frühstück im Grünen (Le Déjeuner sur l’herbe) gemein hat.

Annette Meyhöfer hat das im Spiegel sehr schön formuliert: Louis Malle, der Franzose im selbstgewählten Exil, der Stoff und Stil wechselt wie ein Chamäleon die Farben, hat sich diesmal eine grüne Brille aufgesetzt, um das Frankreich seiner Kindheit und seiner Sehnsucht wiederauferstehen zu lassen. Seine "Komödie im Mai" ist ein altmodischer kleiner Film, eine Hommage an den Schauspieler Michel Piccoli und an den Südwesten, wo Louis Malle noch immer ein Haus besitzt. Die Revolution ist in dieser Komödie nur ein ferner Klang, wie die Melodie eines Abschiedswalzers.

Der Film hat auch Ähnlichkeiten mit dem wenige Jahre zuvor erschienen Film Un dimanche à la campagne (Ein Sonntag auf dem Lande) von Bertrand Tavernier, einer Romanverfilmung von Pierre Bosts Monsieur Ladmiral va bientôt mourir. Da der Film, ebenso wie Taverniers Film La Vie et rien d'autre, zu meinen Lieblingsfilmen gehört, hat er natürlich ➱hier schon einen langen Post. Diese Filme sind vielleicht der Schwanengesang der französischen Bourgeoisie, eine Sehnsucht nach einem Paradise Lost.

Es ist eine Welt, aus der ➱Louis Malle kommt. Sein Onkel ist der Unternehmer Ferdinand Béghin, und so konnte er auch mit einem kleinen Schuss Selbstironie sagen: Wenn man in einem Bentley fahren gelernt hat, tritt der Wunsch nach einem Rolls-Royce etwas in den Hintergrund. Wenn Sie jetzt den Film sehen wollen, müssen Sie schon ins Kino gehen oder die DVD kaufen. Das Internet bietet nur kleine Schnipsel wie ➱diesen. Meine Empfehlung wäre: kaufen Sie sich den Fünferpack Louis Malle. Da bekommen Sie zur Komödie im Mai noch Fahrstuhl zum Schafott, Die Liebenden, Zazie und Das Irrlicht, also sozusagen das Beste von Louis Malle.

I hold it that a little rebellion now and then is a good thing, and as necessary in the political world as storms in the physical, hat Thomas Jefferson gesagt. Aber täuschen wir uns nicht, 1968 ist zu Ende. Da hat Louis Malle schon recht. Am Ende von Milou en Mai wird das Haus verkauft, das Paradies ist zerstört. Der Fabrikant hat die kleine Revolution genutzt, um das Gift aus seiner Fabrik in den Fluss zu leiten. Der Fluss ist voll toter Fische. Das Böse siegt immer.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen