Donnerstag, 11. Juni 2015

Mein Dänemark


Ich hatte in meinem Blog den Post Silvae: Wälder: Lesen eingestellt und war mir nicht sicher, ob das das Interesse der Leser finden würde. Ich war sehr überrascht über das, was geschah. Leser über Leser und viele E-Mails. Eine kam von einem Leser, der mir etwas verschämt mitteilte, dass der Erbauer des Hermannsdenkmals zu seinen Verwandten zählte. Als ich in dem Post Michael Ancher über Theodor Fontanes geplantes Mein skandinavisches Buch (das so etwas wie die Wanderungen durch die Mark Brandenburg für Dänemark werden sollte) schrieb, fiel mir ein, dass ich das schon einmal erwähnt hatte. Aber in SILVAE stand es nicht, es musste in dem Manuskript der Bremensien stehen. Und da entdeckte ich, schon beinahe vergessen, ein ganzes Kapitel, das Dänemark hieß. Eine literarische Liebeserklärung an ein Dänemark vor fünfzig Jahren. Ich dachte mir, dass es hier im Anschluss an den Post über die Maler Skagens ganz gut aufgehoben sei. Vielleicht besser als auf der Festplatte. In diesem Jahr präsentiert das Literaturhaus Schleswig-Holstein den Literatursommer Dänemark 2015. Die Veranstaltungen beginnen am 29. Juli. Ich fange schon einmal etwas früher damit an, vielleicht lockt das den Sommer hervor. Und es kommt auch viel Sommer im Text vor.

Wenn ich eines Tages in Kiel wohne, liegt Dänemark praktisch vor der Tür. In den siebziger Jahren fährt man ständig nach Dänemark, um in Sonderborg skandinavisches Design zu kaufen. Oder in den Antikläden zu stöbern. Und dänische Pfeifen wie W. Ø. Larsen (kunglig hovleverantör) in den vielen kleinen Pfeifenläden zu kaufen, da gibt es sogar Pfeifen für Damen im Angebot. Und die englischen Pfeifen sind preiswerter als bei Tabac Trennt. Jedes Mal wieder komisch ist das handgemalte Schild fünfzig Meter hinter dem Grenzübergang von Krusaa auf dem Lesbiesche Liebe steht. Dänemark ist jetzt ganz groß im Pornogeschäft. Das weiß auch der Zollfahnder Kressin in Kressin stoppt den Nordexpress, wenn er mit Gitte in Kopenhagen einen Pornoladen besucht. Mein Gott, hat es 1971 viele aufgebrachte Leserbriefschreiber gegeben. Das Drehbuch dieses Tatorts war natürlich von Wolfgang Menge.

In den sechziger Jahren war es nicht Krusaa, sondern die andere Seite Dänemarks gewesen. Grenzübergang bei Tondern und dann nix wie nach Hennestrand. Pflichtbesuch im Dom zu Ribe, um den Heiligen Georg mit dem niedlichen kleinen Drachen zu sehen. Dann einmal auf den Turm klettern und das Auto von oben photographieren, aber der Dom bleibt bei den schönen Sommertagen mit Gudrun auch der einzige Kulturgenuss. Der Rest ist Strand, Nordsee, Sonnenöl und Gu. Doch vor diesen Jahren, in denen Dänemark zu einem Freizeitsindustriepark und Designmöbel Abholmarkt mutiert war, gab es für mich schon ein anderes Dänemark.

Eine Mark und neunzig Pfennige kostet die Karte für die Beförderung eines gewöhnlichen Fahrrades auf dem Deck des Fährschiffes Großenbrode Kai – Gedser am 21.07.1958. Das steht alles auf dem kleinen Pappkarton drauf, den ich aufbewahrt habe. Im Gegensatz zu den meisten von unserer Gruppe unter Leitung von Diakon Klaus Nebelung bin ich nicht zum ersten Mal in Dänemark. Die Witze, die jetzt über Verkehrsschilder gemacht werden, auf denen Rabatten er blöd steht, haben wir schon Jahre zuvor gemacht. Vati hatte von einem Kollegen den Tip bekommen, dass die Missionshotels besonders preisgünstig seien. Heute würde man das vielleicht als gehobene Jugendherbergen bezeichnen, es gibt keinen Alkohol außer garantiert alkoholfreiem Tuborg, skatteklassen grön. Aber mangelnder Komfort interessiert die paar deutschen Dänemarktouristen in den fünfziger Jahren überhaupt nicht.

Und so erobern wir uns über die Jahre Jütland, Fünen, Falster und Seeland und dann Moen. Gelegentliche Abstecher nach Schweden, wo man damals noch auf der linken Straßenseite fahren muß. Auf den Straßen Dänemarks sind beinahe nur englische Autos, man merkt, dass die skandinavischen Länder mit England in einer Zollunion sind. Alkohol ist unbezahlbar teuer. Bremer Segler haben mir erzählt, dass sie für eine Flasche französischen Cognacs (natürlich zollfrei gekauft) ihren Hilfsmotor repariert bekommen haben. Dank zwei Flaschen Bremer Ratskellerweins bekommen wir in Ulfshale ein kleines grünes Holzhaus vermietet, kein elektrisch Licht und kein fließendes Wasser, aber was macht das, wenn man den tollen Strand hat? Gibt da sogar einen Tennisplatz am Strand, leider auch die Mücken im Kiefernwald. Die sind immer noch da, wie ich auf einer Internetseite lesen konnte.

Eigentlich hatten wir in dem Jahr im Hotel über Moens Klint Zimmer gebucht, unweit von dem kleinen Schloss Liselund. War aber was falsch gelaufen. Oder sie mochten keine Deutschen. Wunderschöne Aussicht, aber keine freien Zimmer. Die Kreidefelsen sind das Gegenstück von denen in Rügen, die Caspar David Friedrich gemalt hat. Dieses Paradestück der deutschen Romantik hing im Zimmer von Gisèle Freund, ihr Vater hatte es als Blechen gekauft. Wie muß das sein, unter solch einem Bild aufzuwachsen? Wird man dann zwangsläufig Photograph, wenn man aus der Höhe durch die Bäume auf die Ostsee schaut? Wir werden noch einmal nach Ulfshale fahren, diesmal vermietet der Kohlenhändler aus Stege dem tandlaege aus Bremen sein eigenes luxuriöses Ferienhaus neben dem kleinen grünen Holzhaus. Der Ratskellerwein wird wieder mitgebracht, die Mücken sind auch immer noch da. Wir sind da schon beinahe zu Hause. Wie die Mücken. Krügers kommen zu Besuch, und wir segeln eine Woche auf ihrem Folkeboot mit. Abends fahre ich mit Sigrid mit dem Auto nach Liselund und zu den Kreidefelsen, das hübsche kleine Schloss und die Caspar David Friedrich Ersatzlandschaft kann man gar nicht oft genug sehen.

Wir sind Pioniere im Mieten von dänischen Sommerhäusern, noch nie zuvor hatten Deutsche auf der Insel ein Sommerhaus gemietet. Bevor wir das taten, haben wir gezeltet. Die Campingplätze sind gepflegt, ganz besonders der vom Königlich Dänischen Automobilclub in Hennestrand. Da gibt es damals noch keinen einzigen Deutschen, das ist heute kaum vorstellbar, denn Ende der sechziger Jahre war da schon eine Art dänisches Mallorca. Dänemark ist damals ein unaufgeregtes Land mit wunderschönen, einsamen Stränden. Genau wie in Holland hat meine Familie nie einen Reiseführer benutzt. Im Gegensatz zu Holland haben wir zwar Kirchen und Schlösser, jedoch nie ein Museum oder eine Kunsthalle betreten. Die dänische Kunst von Eckersberg bis Købke habe ich erst später in Kiel gesehen.

Auf den dänischen Campingplätzen geht es familiär zu, wir gewinnen viele dänische Freunde, die wir noch jahrelang besuchen. Wie die Organistenfamilie aus Odense. Deren Abreise ist ein Erlebnis, erst kommen die drei rothaarigen Kinder auf den Rücksitz vom grünen Buckelsaab, dann steigt das Ehepaar ein. Dann gibt es einen Pfiff vom Fahrer und die beiden Huskies hüpfen durch die offenen Fenster in den Saab. Filmreif. In Grenaa lerne ich in dem Sommer die hübsche Schwedin Gunilla (natürlich blond) kennen, die den ganzen Sommer lang nicht von meiner Seite weicht. Genau genommen sind es nur drei Wochen, aber wenn man jung und verliebt ist, dauert alles viel länger. Wir schreiben uns noch jahrelang Liebesbriefe. Ich habe ihretwegen sogar einen Langenscheidt Schwedisch-Deutsch/Deutsch-Schwedisch und ein Buch Schwedisch für Anfänger gekauft. Zur Not kann ich jag alskar dig sagen. Aber sie kann sehr gut Englisch (sie arbeitet bei Bonniers), und so wird das die Sprache sein, in der wir noch ein Jahrzehnt lang die geheimsten Gedanken und Sehnsüchte der Post zwischen Bremen und Stockholm anvertrauen. Was mag aus ihr geworden sein? Ist sie die Gunilla, die einen berühmten schwedischen Filmregisseur geheiratet hat?

Die Bornholmfahrt ist die erste Auslandsfreizeit der frisch gegründeten Evangelischen Jugend. Die meisten von uns sind zum ersten Mal im Ausland, das ist damals noch ein richtiges Erlebnis. Billigflieger in ausländische Ferienparadiese gibt es noch nicht. Wir haben im Juli und August des Jahres 1958 Glück mit dem Wetter, denn wenn man nach Kopenhagen radelt und dann um Bornholm herum und wieder zurück, dann wäre Dauerregen nicht so schön. Es gibt ja damals noch nicht diese High Tec Verkleidung, in die heute Radfahrer gehüllt sind. Wir haben unseren Anorak und zur Not so einen gummierten Überwurf, den man vorne am Lenker festmachen kann. Wir haben Fahrradtaschen am Fahrrad, den Schlafsack auf dem Gepäckträger. Keiner hat eine Gangschaltung. Helme für Radfahrer sind noch unbekannt. Aber die Radwege sind hervorragend. Und alle Radfahrer, die uns auf der anderen Straßenseite entgegenkommen, winken uns zu.

Wir fahren die Strecke von Gedser bis Kopenhagen in kleinen Tagesstrecken, so dass wir am Nachmittag noch Zeit haben, Dänemark unsicher zu machen. Also zum Beispiel mit gemieteten Ruderbooten eine Wasserschlacht im Hafen von Fakse Ladeplads zu machen, wie Volker Harjehusen und ich das tun. An dem Tag haben wir gerade die Storströmmen Brücke hinter uns. Da weiß man, was man getan hat, wenn man Vordingborg erreicht. Vor allem ich mit meinen 26“ Rädern, ich muß mehr treten als die anderen, die alle 28“ haben. Was meine Eltern bewogen hat, mir das rote Tripad mit 26“ Rädern zu kaufen, weiß ich nicht. Weil es aus Ostwestfalen kam, wo Opa herkommt? Die Marke hat ja als Markenzeichen die drei Hasen aus dem Paderborner Hasenfenster. Mein geliebtes Rad wird mir 1967 in Kiel geklaut werden. Ich werde noch jahrelang im Keller der Fundstelle der Polizei alle Fahrräder angucken, mein Paderborner Erzeugnis mit den drei Hasen ist nie dabei.

Ein junger Mann in einem offenen englischen Sportwagen fährt an uns vorbei und guckt uns mitleidig an. Wenn ich groß bin, will ich auch einen englischen Sportwagen haben. Und dann fahre ich langsam an allen radelnden Jugendgruppen vorbei und gucke sie mitleidig an. Das nehme ich mir fest vor. Als wir in Köge Halt machen, schaue ich einer hübschen Blondine nach, die bei einem Typ hinten auf der Vespa sitzt und seine photographische Ausrüstung festhält. Die Vespa tuckert langsam über den Strand bis sie hinter einer Düne verschwindet. Wahrscheinlich hat er dann Nacktaufnahmen von ihr gemacht. Aber daran denkt damals keiner von uns. Mein Bildergedächtnis aber bewahrt das Bild der Blondine auf, die wie die kleine Meerjungfrau in Kopenhagen hinten auf dem Motorroller sitzt und langsam an uns vorbeigleitet.

Später am Nachmittag radle ich mit Volker auf einer einsamen Straße durch blaudunkle Wälder, es wird schon schummrig, wir sollten umkehren und rechtzeitig zum Abendessen zu Hause sein. Ein kleiner See rechts, dann wieder Wälder. Weit und breit kein Mensch. Plötzlich taucht in dieser geheimnisvollen Abendstimmung ein Schloss vor uns auf. Ich bekomme ein Gefühl der Angst angesichts dieser unwirklichen Szenerie. Laß uns umkehren, sage ich, wir kommen bestimmt zu spät zum Abendessen. Schweigend radeln wir zurück. Heute weiß ich, dass es das Schloss Vallö war, damals war es eine surreale Erscheinung, wie eine Fata Morgana, als ob man in Eichendorffs Welt hineingeradelt wäre. Viele Jahre später sehe ich bei einem Hinterhofhöker ein Ölbild von einer menschenleeren Parklandschaft in der Dämmerung. Hat etwas von Edward Hopper an sich. Ich kaufe es ohne zu zögern, während mir der Händler aus irgendeinem Grund erzählt, dass er alles über Hinterradstarrachsen von englischen Sportwagen weiß. Hatte mal sieben Stück davon in der Garage liegen. Und Grace Kelly ist nur deshalb verunglückt, weil der Sportwagen eine Starrachse hatte. Ich lasse ihn reden, der absurde Soundtrack dringt nicht in meine Parklandschaft ein. Das geheimnisvolle Bild hängt noch immer in meinem Wohnzimmer. Und immer wieder erinnert es mich an jenen Abend bei Schloss Vallö. Mein Leben wird von Bildern zusammengehalten.

Der dänische Künstler Viggo Vagnby hat in den fünfziger Jahren ein Plakat entworfen, das überall in Kopenhagen hängt. Über dem Schriftzug Wonderful Copenhagen überquert eine Entenfamilie eine Großstadtstraße. Der Straßenverkehr, von einem Schutzmann geregelt, ist zum Erliegen gekommen, damit die Enten über die Straße kommen können. Hinter den sechs kleinen Enten torkelt noch eine siebte hinterher. Dazu fehlt nur noch Dave Brubecks Wonderful Copenhagen, das jetzt überall in den Geschäften dudelt. Eigentlich ist es ein unausstehliches Hollywoodprodukt aus einem Film, in dem Danny Kaye Hans Christian Andersen spielt. Aber jazzmäßig angepeppt ist es zu ertragen.

Kopenhagen sieht auf dem Plakat von Vagnby idyllisch aus, und das ist es 1958 auch noch. Wenn man durch die Schlafstädte und Vororte geradelt ist und ins Zentrum kommt, ist die Großstadt aufgeräumt und übersichtlich. Wir bringen in Nyhavn unsere Räder zum Schiff und haben bis zum Abend Zeit, Kopenhagen zu Fuß zu erobern. Auf meinem Besichtigungsprogramm an diesem Nachmittag stehen die Börse mit dem wunderbaren Turm, Schloss Christiansborg, das Thorvaldsen Museum und das mächtige Zeughaus. Liegt ja alles nahe zusammen. Am Rathausplatz muß ich auch gewesen sein, da ich das Rathaus photographiert habe. Auf dem chamoisfarbenen Bild, das in einem halben Jahrhundert nur leicht nachgedunkelt ist, sind noch Vorkriegsautos drauf. Da werde ich Jahrzehnte später Harald Mogensen treffen, der gerade mit Tage La Cour ein Buch über den Detektivroman geschrieben hat.

Um acht sind wir wieder alle in Nyhavn, das Schiff fährt zwar erst um zehn, aber sicher ist sicher. Andere aus der Gruppe waren heute Nachmittag im Tivoli und erzählen davon. Aber fährt man wegen eines Rummelplatzes nach Kopenhagen? Das Abendessen besteht aus einem Brötchen mit röde pölser, gerösteten Zwiebeln, und dann süße Sauce drüber. Ist wahrscheinlich nicht gesund, aber wahnsinnig lecker. So was kriegt man 1958 in Deutschland nicht. Jetzt, wo es langsam dunkel wird, entfaltet Nyhavn sein Leben als red light district. Leicht angetrunkene Seeleute stolpern singend über das Pflaster. Um zehn legt die weiße Rotna endlich ab, gleitet durch den Hafen, am Kriegshafen vorbei, dann an der Langenlinie entlang. An der einsamen kleinen Meerjungfrau vorbei. An einer Festung vorbei, und dann sind wir im Öresund. Backbord am Horizont kann man die Lichter von Schweden schimmern sehen.

Das Motorschiff Rotna, das uns von Kopenhagen nach Rönne transportiert, ist ein schmuckes Schiff. Gar nicht mal klein, über achtzig Meter. Ich habe noch Photos davon. Ich wäre natürlich kein Vegesacker, wenn ich es unterlassen hätte, dem Schicksal des Schiffes nachzuspüren. 1940 gebaut, fährt es auf der Strecke von Kopenhagen nach Rönne und zurück bis 1968. Zwischenzeitlich heißt es mal für kurze Zeit Hammershus. 1969 wird es nach Hamburg verkauft, 1970 an eine Hotelkette in Barcelona weiterverkauft, wo es als schwimmendes Hotel dienen soll. Wenig später Totalverlust. Klingt ein bisschen nach Versicherungsbetrug. Jetzt fahren auf der Strecke seelenlose Katamarankonstruktionen.

Aber das alles ist in der Zukunft, heute Nacht fahren wir von Nyhavn nach Rönne. Es ist eine warme Sommernacht, unsere Fahrräder sind im Bauch des Schiffes, wir sind oben an Deck. Kaum einer schläft in dieser Nacht. Es ist einfach zu schön, den Lichtern von Kopenhagen nachzugucken. Und in die dunkle See oder in den Sternenhimmel zu blicken. Einer hat seine Gitarre geholt, und wir singen leise. Ein dänisches Mädchen versucht, uns ein dänisches Volkslied beizubringen, I skovens dybe stille ro, aber wir kriegen das nicht hin. Da singt sie es mit ihrer Freundin, während unser Gitarrist von Zeit zu Zeit einen Akkord schlägt. Die kleine Meerjungfrau hätte nicht schöner singen können. Ich hatte dieses Lied (aber nicht die singenden Däninnen) von Einsamkeit und dunklen Wäldern völlig vergessen, bis ich es Jahrzehnte später auf einer Jazzplatte von Niels-Henning Örsted Pedersen wiederhörte, die er mit Kenny Drew in Kopenhagen aufgenommen hat. Einer von der Bremer Gruppe, der schon älter ist als wir, was er ständig zeigen muß, hat schon eine junge Dänin abgeschleppt, die er jetzt unbedingt demonstrativ wärmen muß. Stört allerdings diesen schönen Augenblick.

Hinter Rönne gibt es eine Schranke auf der Straße, aber nicht für die Eisenbahn. Auf dem Verkehrsschild ist statt eines Lokomotivsymbols ein Flugzeug abgebildet. Hier ist nicht soviel Platz für den kleinen Flughafen von Bornholm, die wenigen Flugzeuge fliegen beim Start und der Landung niedrig über die Straße. Das kuriose Schild wird natürlich sofort photographiert. Unser erstes Ziel ist Dueodde. Ich habe noch nie einen so schönen Strand gesehen, das haben Neksö, Svaneke, Gudhjem und Sandvig Allinge, wo wir in den nächsten Tagen sein werden, nicht zu bieten.

Der dicke Bremer greift sich am Strand sofort die schönste blonde Schwedin, ich kriege nur ihre dunkelhaarige Freundin ab. Warum kommen die schönen Blondinen nicht im Doppelpack? Er versucht, seine Hand unter das weiße Bikinihöschen zu bekommen, aber so freizügig sind freizügige Schwedinnen dann doch nicht. Einen Arm über den braungebrannten Rücken legen, ist aber erlaubt. So liegen wir dann alle nur keusch neben einander auf dem weißen Sand der Düne in der Sonne. In Svaneke erwischt mich ein Magen Darm Virus (oder waren es die Blaubeeren von Paradisbakkerne?) und ich liege einen Tag im Bett der Jugendherberge.

Bin aber am nächsten Tag wieder auf den Beinen und klettere mit Volker die Felsen von Gudhjem vom Strand aus hoch. Vierundzwanzig Meter Felswand, eigentlich ist das lebensgefährlich. Aber eine Herausforderung. Wenn man fünfzehn ist, kennt man keine Gefahr. Hinterher mussten wir den langen Weg wieder runter zum Strand, um unsere Fahrräder zu holen. Diese Geschichte haben wir Klaus Nebelung dann aber lieber nicht erzählt. Am letzten Tag steht die Besichtigung von Hammershus auf dem Programm, einer der größten Ruinen Nordeuropas. Und dann radeln wir nach Rönne zum Hafen zurück, manchmal führt der Weg oben auf der Steilküste durch einen Wald. Durch die grünen Buchen kann man die Ostsee sehen, unten am Strand sind Netze aufgespannt, der Geruch von geräuchertem Fisch dringt bis hier oben. Das muß die Silderögeri von Hasle sein. Geräucherter Hering ist eine Bornholmer Spezialität. Aber jemand wie ich, der schon um das Matjesfass vor Violes Tür einen Bogen macht und freitags immer extra spät von der Schule kommt, in der Hoffnung, dass der Fisch schon aufgegessen ist und mir unser Hausmädchen Spiegeleier macht, ist damit nicht zu locken.

Die Rückfahrt von Rönne nach Kopenhagen ist nicht so romantisch wie die Fahrt in der Nacht, niemand singt I skovens dybe stille ro. Die See ist mäßig bewegt, der Himmel leicht diesig. Die Kongedybet ist etwas größer, aber vor allem neuer als die Rotna. Auf der Hälfte der Strecke begegnet uns die Östersöen, das neueste Schiff der Linie. Sagt der Zahlmeister, der Deutsch kann. Er erzählt auch, dass wir ein Postschiff sind. Deshalb ist die Flagge der königlichen Post auch oben über dem Dannebrog am Mast. Photographiere ich sofort, die Östersöen habe ich auch photographiert, wäre schön, wenn ich damals schon ein Teleobjektiv gehabt hätte. In Kopenhagen halten wir uns diesmal nicht auf, wir radeln direkt zur Köge Bucht, wo wir am Strand in einem Heim der Roten Falken übernachten. Die haben überall im Eingang rote Fahnen hängen, wir stellen unseren kleinen Wimpel mit dem Kugelkreuz der Christlichen Pfadfinder demonstrativ daneben. Unsere letzte Station auf dem Rückweg, bevor wir in Gedser unsere Fahrräder auf die M.S. Deutschland schieben, ist Nyköbing. Da ist gerade ein Jahrmarkt. Mit einem Feuerwerk in der Nacht. Irgendwie ein passender Abschluß für diesen Sommer.

Wir haben damals kein Kulturprogramm gehabt, wenig von Hans Henny Jahnn erfahren und nichts von der Bornholmer Malerschule. Ich habe nicht mal die berühmten Rundkirchen von Bornholm gesehen, wahrscheinlich habe ich da krank im Bett gelegen. Aber wir hatten dieses Erlebnis, dass wir uns ein fremdes Land ganz allein erobern, keine vorfabrizierte Sightseeing Tour. Nicht mit Bussen irgendwo abgeliefert werden, selbst strampeln, das ist etwas anderes. Alle werden noch Jahre später von dieser Fahrt schwärmen, viele werden sich ärgern, dass sie sich nicht angemeldet hatten. Wir werden wenige Jahre später noch einmal mit der Evangelischen Jugend nach Dänemark zurückkommen. Das ist wieder eine Arbeitsfreizeit mit dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Nach den strapaziösen Sommern in Frankreich hat man uns mit Nordjütland eine Gegend gegönnt, in der eigentlich wenig zu tun ist.

In Frankreich hatten wir gegen die Ortsmannschaft Fußball gespielt, das dient der Völkerfreundschaft. Damals auf jeden Fall. Also mussten wir in Nykøbing auf Mors auch Fußball spielen. Das gepflegte Waldstadion hätte uns schon zu denken geben sollen. Wir verlieren 9:1. Das eine Tor schießen wir auch nur, weil der dänische Torwart sich an den Spielfeldrand gesetzt hat, um mit unseren Mädels zu flirten. Wir wissen nicht, dass Dreiviertel der Dänen in der dänischen Schülerauswahl spielt. Es ist der schlimmste Tag in meiner Torwartkarriere. Es hilft uns nicht, dass wir Charlie Kottkamp in unseren Reihen haben, der beim SAV spielt (und eines Tages ein großes Tier in der Sportredaktion der ARD wird). Aber selbst wenn wir Dragomir Ilic gehabt hätten, hätte es wohl nicht viel ausgemacht. Die Geschichte wird sogar den Bremer Nachrichten eine kurze Notiz wert sein.

Im Gegensatz zum Tal der Somme ist das hier oben in Jütland nie ein Kriegsgebiet für ein deutsches Heer gewesen, wenn wir den seltsamen Krieg im Sommer 1864 nach dem Waffenstillstand ausnehmen, als die Preußen Jütland besetzten. Damals als der Militärmusiker Johann Gottfried Piefke seinen Lymfjord Marsch schrieb. Die Gräber der wenigen angeschwemmten Toten der Skagerakschlacht, die auf dänischen Friedhöfen begraben liegen, haben die Dänen sorgfältig gepflegt. Und so haben wir, wenn wir mit unserem Bus von Nykøbing aus von einem Friedhof zum anderen fahren, Zeit für die Kirchen und die Landschaft. Und die ist atemberaubend schön. Auch der große Theodor Fontane sah sich – mit Leib und Leben dem Limfjord und seiner Magie ergeben. Es ist sehr schade, dass er seine Energien auf die Beschreibung des Krieges von 1864 verwendet hat und Mein Skandinavisches Buch unvollendet geblieben ist.

Der Sommer ist eher kühl, die fett-grauen Wolken vom Meer her schieben sich träge aber stetig über die blauwaldigen Dünen und die Ebenen, schütteln sich ärgerlich, wenn sie gegen die Hügelkuppen stoßen. Unter denen, so sagt man, Könige begraben liegen. Hier ist alles Geschichte. Das wäre etwas für Fontane gewesen. Selbst im Schloss Hojriis auf Mors soll es spuken, aber das hat der Herr Trapp, in dessen Hotel Fontane in Nyköbing absteigt, ihm nicht erzählt. Vielleicht ist die Spukgeschichte auch erst später für die Touristen erfunden worden. Überall gibt es einen Hamlets Klint. Am Eingang von Schloss Kronborg in Helsingör ist eine Steintafel mit einem der Renaissance nachempfunden Portrait und den Worten Sagnet fortaeller om en kongesön Amleth, der livede in Jylland för Vikinge tiden. Hier auf Morsö ist der Ausgangspunkt für die Geschichte des Saxo Grammaticus.

Hier auf dem Feggeklit soll Hamlet seinen Onkel, den bösen König Fegge umgebracht haben. Und Gräber von Hamlet gibt es auch überall. Natürlich auch in Helsingör, im Park des Schlosses Marienlyst. Da liegt der Lieblingshund von König Valdemar begraben, höhnt man in Jütland, Hamlet liegt für sie natürlich unter dem Hamletstein von Fjellerup. Und steinzeitliche Hünengräber gibt es in Jütland zuhauf, ist wahrscheinlich überall ein Hamlet darunter. Hünengräber kommen bei Fontane auch vor, aber über Hamlet schreibt er nur, wenn er Helsingör besucht. Hat ihm keiner gesagt, dass Hamlet Country hier in Jütland ist? Erstaunlich bei einem Mann, der Shakespeares Hamlet ins Deutsche übersetzt hat. Hamlet und Ophelia gibt es noch heute, zwei Fähren über den Öresund heißen so (eine von diesen Fähren ist sogar mal bei uns in Vegesack gebaut worden). Die Fährschiffe haben schon lange diese Namen, schon als Theodor Fontane über den Öresund fuhr.

Aber auch an anderen Stellen erzählt man sich Geschichten von einem Prinzen, wie die von Prinz Buris Henriksen, der die schöne Liden Kirsten liebt, die Schwester von König Valdemar. Aber das darf nicht sein, der Prinz verliert sein Land und seine Freiheit, der König Valdemar lässt das Mädchen und das Kind töten. Und junge Paare besuchen noch für Jahrhunderte den Stein in Vestervig, unter dem die Liebenden begraben sind. Jede Braut, die in der Kirche von Vestervig getraut wird, legt ihren Brautkranz auf das Grab. Die Grabplatte auf dem Friedhof ist ungewöhnlich, dreieinhalb Meter lang, an einer Stelle ist sie gebrochen. Und an beiden Enden steht ein kleiner Grabstein.

Aber auch die eindrucksvolle romanische Kirche von Vestervig ist außergewöhnlich, sie ist die größte Dorfkirche Skandinaviens. Sie ist einmal eine Bischofskirche gewesen, aber sie ist nicht, wie die französischen Kathedralen, gebaut, um in den Himmel zu wachsen. Sie hat nichts von deren Eleganz, man ist beinahe geneigt zu sagen: nüchterner Zweckbau. Aber sie trotzt jahrhundertelang den Wolken und dem Regen und dem Sturm, der unablässig von England her über die Nordsee fegt. Basilikaform, Granitquadern, original erhalten. Das wird Professor Alfred Kamphausen auf der Exkursion immer betonen, wenn er Vestervig mit dem durch ständige Umbauten verhunzten Dom von Viborg (auch ursprünglich eine Basilikakonstruktion) vergleicht.

Es gibt in diesem Sommer noch andere Prinzessinnen, lebende. Zum einen ist die Königsfamilie auf ihrer jährlichen Sommerrundfahrt mit der Yacht Dannebrog für einige Tage in Nyköbing (und an den Tagen ist auch schönstes Sommerwetter, sozusagen Kaiserwetter) und zum anderen ist die Prinzessin meines Heimatortes auch da. Wir sind jetzt achtzehn, und das hier um uns herum ist die ideale Landschaft für einen Sommerflirt, aus dem mehr werden könnte. Und auch Begegnungen in Kirchen haben jetzt ihren Reiz. Ingrid singt mir in einer verlassenen Kirche, in die schon Gras und Unkraut hineinwachsen, Summertime vor. Nur für mich. Um die Akustik der kleinen Kirche zu testen. Sie kann wunderschön singen. Aber ihr Summertime klingt anders als das, das Ute damals in der Nacht in der Strandlust gesungen hat. Hier im von huschenden Sonnenfetzen beleuchteten weißgekalkten Raum hat die Melodie eher die Qualität von sakraler Musik. Summertime, and the living is easy. Getrennt von der Welt da draußen, die heute kein wirklicher Sommertag ist. Aber ich weiß schon, dass dies ein kleines Geschenk an mich ist. Dass sie jetzt nur für mich singt, in dieser kleinen Kirche, die sich auf der Düne festkrallt wie das Gras und die verhungerten Kiefern. Auf der Nordwestseite liegen die Butzenscheiben schon unter einer Sandschicht.

Wenn dies ein Wunschkonzert wäre, würde ich mir jetzt von ihr I skovens dybe stille ro wünschen. Aber man kann nicht alles haben. Die Augenblicke von großer Nähe und Vertrautheit, an denen ich ihr morgens das Butterbrot schmiere, wechseln ab mit Tagen von großer Fremdheit, there ain’t no cure for the summertime blues. Sie weiß auch nicht so recht, was sie will. Sie hat jetzt, wie beinahe alle Achtzehnjährigen, Ärger zu Hause mit ihren Eltern, Taschengeldkürzungen, Ausgehverbot, es ist ein Wunder, dass sie überhaupt mitfahren durfte. Wir werden diesen Sommer nebeneinander hergleiten, uns suchen und nicht suchen. Sie weiß nicht, dass ich Gedichte über sie schreibe. In der Ersatzwelt, die uns heute das Internet bietet, kann ich bei YouTube jeden Tag I skovens dybe stille ro hören. Ergreifend gesungen von einer dänischen Hausfrau mit dem Pseudonym MaggieKr in ihrer Küche. Ein kleines Stück von der Jugend kommt immer wieder zurück.

Enrico Dalgas ist ein Name, der einem heute nicht unbedingt einfallen würde, wenn man an Jütland denkt. Aber in Jütland kennt man ihn bis zum heutigen Tag. Denn ohne den Hugenotten Enrico Mylius Dalgas gäbe es das Jütland, das wir kennen, wahrscheinlich gar nicht. Hier in Jütland hat Dänemark begonnen, die hunderte von Hünengräbern zeugen davon, dass hier wo jetzt die Heide wuchert, einst fruchtbares Bauernland gewesen ist. Der Sitz der Könige ist noch in Jelling, wo der König Gorm einen großen Runenstein errichten lässt. Den Taufstein Dänemarks hat man ihn genannt, stolz wird hier verkündet, dass Gorm ganz Dänemark und Norwegen gewann und die Dänen zu Christen machte. Er selbst wird hier nicht neben seiner Frau beerdigt werden, sondern in der Kirche von Roskilde auf Seeland, wohin die dänischen Könige dann ziehen werden. Dann folgen zwei Jahrhunderte von Kirchenbauten, bis ganz Jütland aus Kirchen zu bestehen scheint. Die Steinmetze haben mit dem Behauen von Granitplatten und dem Herausmeißeln von Löwen genügend zu tun. Als ich Jahre später die Gastvorlesung Romanische Kirchen in Dänemark des Kopenhagener Professors Otto Norn höre, wird mir klar, dass ich alle Kirchen gesehen habe, die er per Dia auf den Bildschirm bringt.

Mehr als dreihundert Adelssitze künden davon, dass dieses Land, das für den Magister Adam von Bremen noch eine Wüste und eine schreckniserregende Wildnis war (aber Löwen hat es hier trotz der vielen Reliefs in den Kirchen nie gegeben), ein reiches Land war. Und das ist es für den englischen Gesandten, Lord Robert Molesworth, im Jahre 1692 immer noch, obgleich er nicht so genau hingeschaut haben kann. Denn inzwischen ist der Westen Jütland zu der jütischen Wüste geworden. Das Abholzen der großen Wälder im Mittelalter wird tödlich für das Land, der Weststurm von der Nordsee treibt den Sand meterdick ins Land, die Heide überwuchert alles. Nach dem verloren Kriege von 1864 (wie konnte man nur mit dem Schwefelgelben einen Krieg anfangen?) verkündet Enrico Dalgas: was nach außen verloren ging, soll nach innen gewonnen werden. Das Wort wird auch zu einem politischen Schlagwort nach dem verlorenen Krieg. Der Gründer der Danske Hedeselskab will Jütland wieder zottig machen. Er ist für Jütland das, was Findorff für die Bauern des Teufelsmoores war. In unermüdlicher Arbeit kämpft der ehemalige Ingenieur des Militär-Straßencorps (der die Landstraße von Randers nach Ringköping gebaut hatte) für die Urbarmachung und Renaturierung der wüsten Heidelandschaften.

Es ist immer noch genügend Heide übrig. In Hjerl Hede, wo wir einen Tag lang sein werden, gibt es ein Freilichtmuseum, ähnlich dem, das Alfred Kamphausen in Molfsee geschaffen hat. Es ist ein lebendiges Bilderbuch der dänischen Vergangenheit, Bauernhäuser aus dem 16. Jahrhundert, eine Windmühle aus dem Jahre 1778, eine Schule, in der Kinder in historischer Verkleidung umhertollen. Die größte Touristenattraktion aber ist die Steinzeitsiedlung, wo man Studenten aus Kopenhagen in Bärenfellen und anderer germanischer Verkleidung bewundern kann. Ein Schmied, der aussieht wie Hägar der Schreckliche, schmiedet Eisen über einer Esse. Verlebendigung der Geschichte ist das Motto des Museums. Das Beste waren da noch die aschblonden Studentinnen in Bärenfellbikinis. Ich persönlich finde das Ganze etwas albern, irgendwie schmeckt es nach dem Germanenkult der Nazis. Ich summe das Liedchen, das Mammi manchmal gesungen hat: Die alten Germanen sie saßen, zu beiden Ufern des Rheins, sie lagen auf Bärenfellen und tranken sich immer noch eins. Da trat in ihre Mitte ein Jüngling römischen Bluts. Heil Hitler! Ihr alten Germanen, ich bin der Tacitus. Ob das schon ein Lied des Widerstands war?

Wir besichtigen die Austernfischerei im Limfjord, einen Tag bevor der dänische König mit seiner Familie dort Gast des Direktors ist. Die Austern sind berühmt, werden nachmittags ausgeflogen und abends in Paris serviert. Sogar ich werde an dem Tag einige Austern essen. Aber nicht nur die Austernfischerei und Hjerl Hede, die vielen Kirchen und der Strand an der Jammerbucht, wo die See röhrend, schluchzend und mahlend Kieselsteine bewegt, so dass man das Geräusch schon von weitem hören kann, stehen auf unserem Programm. Wir fahren auch nach Skagen. Was Theodor Fontane vor hundert Jahren nicht hingekriegt hat: bis nach Skagen wollt ich es wagen den Fuß zu tragen: Aber Wind und Wolken jagen und haben beschlossen, ‚nein’ zu sagen. Eine halbe Stunde gucke ich von einer Düne auf die Stelle, wo Nord- und Ostsee aufeinanderstoßen, grünes und blaues Wasser mischen sich. Sieht gefährlich aus.

Hier schwimmen? Lieber nicht, obgleich hier ein Badestrand ist. Ich bin mal auf Sylt nur knapp wieder aus der Brandung herausgekommen. Aber man kann natürlich an irgendeinem Punkt hier einen Fuß in die Nordsee und den anderen in die Ostsee stellen. Christian VII, der ein Meister der Selbstinszenierung war, hat das getan. Die versunkene Kirche und die beiden großen Wanderdünen sind Pflichtprogramm, aber auch das Museum mit den Bildern der Skagener Schule. Ich kaufe Postkarten von Anna Ancher und Peder Severin Kröyer, aber auch ohne die hätte ich die Bilder nicht aus dem Kopf bekommen. Ich werde sie wieder sehen, die Kunsthalle Kiel besitzt welche. Und das Skagener Museum wird die schönsten eines Tages nach Kiel ausleihen. Bei der Eröffnung durch Wolfgang J. Müller servieren junge Däninnen in Volkstracht stilecht Tuborg Bier in Tuborg Gläsern.

Zum Abschluß dieses schönen Sommers gibt es eine Dampferfahrt durch den Limfjord und das Kattegat bis nach Kopenhagen. Dafür haben wir einen wunderschönen Sommertag erwischt. Ich werde nicht mit der Gruppe in der Nacht zurückfahren, weil ich für den Rest der Woche allein in Kopenhagen bleiben werde, bis mich meine Eltern abholen. Danach wollen wir wieder nach Moen. Es gibt einen Abschied von Ingrid, sie wird mich zärtlich umarmen, und da sind wir uns wieder ganz nah. Der schöne Augenblick wird allerdings dadurch versaut, dass mich zwei Minuten später ein Schwuli fragt, ob ich ihm die Uhrzeit sagen könnte. Und das unter einer großen beleuchteten Uhr! Ich habe für ihn einige schlimme Sätze aus dem Vokabular der amerikanischen Besatzungszeit parat, die außerhalb des Oxford English von James Tröbs liegen, und er trollt sich.

Das ist der Anfang meiner Kopenhagen Woche. Ich wohne im CVJM, sehr spartanisch, ich habe da in einem großen Saal ein Bett und einen kleinen Schrank. Mit achtzehn ganz allein in einer fremden Großstadt zu sein, ist ein tolles Erlebnis. Ich habe wieder keinen Baedeker oder irgendeinen anderen Reiseführer, mein Kopenhagen wird eine Mixtur von krausen persönlichen Erlebnissen. Auf der Ströget sehe ich einen eleganten Herrn in einem braunen Glencheckanzug, mit braunem Schirm und braunem Bowler. Das hat Stil. Damals kommt ja noch elegante Kleidung aus Dänemark, sehr englisch angehaucht, von Firmen wie Hobson und Christonette. Ich entdecke Den Permanente gegenüber vom Hauptbahnhof (Dänemarks Antwort auf das Bauhaus), bin in einer Björn Wiinblad Ausstellung in Illums Bolighus in der Amagertorv und kaufe einen kleinen Aschenbecher. Später wird er der Hauskünstler von Rosenthal werden, ich besitze zwei schöne blaue Vasen von ihm.

Ich bin einen Abend in einem Jazzclub, wo leider nur Dixieland gespielt wird. Ich sehe Victor Borge auf einem kleinen Schwarzweißfernseher, den Mann vergisst man nie, da kann der Fernseher noch so klein sein. Und ich sehe Nina und Frederik, das Traumpaar der dänischen Volksmusik. Die blonde Schönheit und der dänische Baron singen jetzt Pete Seeger, Harry Belafonte und dänische Volksweisen. Meine erste Platte von den beiden habe ich immer noch. Ich gehe abends an allen Schlössern vorbei, die Wachsoldaten in ihren blauen Uniformen langweilen sich, nehmen aber unmerklich militärische Haltung an, wenn sie einen vereinzelten Spaziergänger sehen. Es ist erstaunlich, wie einsam und menschenleer Kopenhagen an diesen Sommerabenden ist. In Nyhavn und im Tivoli wäre das jetzt sicher anders, aber mir haben es nun einmal die verlassenen Schlösser angetan. Im Tivoli bin ich in dieser Woche wieder nicht gewesen. Dafür bin ich aber jeden Morgen im Schloß Rosenborg, das Schloss von Christian dem Vierten hat mich in seinen Bann gezogen. Nicht nur wegen der dort ausgestellten Kronjuwelen und des Taschentuchs, das sich Christian in der Schlacht auf der Kolberger Heide vor sein Auge gebunden hat, das Blut wird jede Woche nachgefärbt, versichert mir eine freche Dänin Jahre später. All das in einem Glasschrank ausgestellt, der Fontane an den berühmten Glasschrein im Greenwichhospital, der die zerschossenen Uniformstücke aufbewahrt, die Nelson in der Schlacht bei Trafalgar trug, erinnerte.

Natürlich ist das Schloss auch voller Kunst, Bilder von Arcimboldo an den Wänden. Aber es ist viel interessanter wegen all des Hausrats, den ein Dutzend dänischer Könige mit Gattinen und Mätressen angehäuft hat. Christian, der Erbauer des Schlosses, ist natürlich besonders gut repräsentiert. Man kann den englischen Hosenbandorden bewundern, den er 1603 bekommen hat. Und den hübschen kleinen weiß und blau emaillierten Elefanten vom höchsten Orden Dänemarks. Und zwei Ohrringe in Form von kleinen Händen, die Metallsplitter halten. Reste einer schwedischen Kanonenkugel, die man Christian nach der Schlacht auf der Kolberger Heide (was heute die Kieler Förde ist) aus dem Körper gepult hat. Die kunstvoll hergestellten Ohrringe sind ein Geschenk von Christian an seine Geliebte Vibeke Kruse gewesen. Seltsamer Liebesbeweis. Ähnlich seltsam wie das Amulett, das Christian trug: der Kopf einer Natter mit einem Goldstück im Maul. Nach diesem Goldstück hatte sie geschnappt, als ihr der König mit dem Schwert den Kopf abhieb. So leicht lassen sich Könige ihr Gold nicht wegnehmen. Opa hätte mit seinem Knotenstock, mit dem er immer Kreuzottern verjagte, dieses Kunststück nicht hingekriegt.

Der Barockherrscher mit seinen vielen Frauen, vielen Kindern und vielen Schlössern ist auch der heimliche Held meines Romanfragments, das ich sofort beginnen werde, wenn ich aus Dänemark zurückkomme. Ingrid und ich kommen natürlich auch darin vor. Und viel dänisches Wetter, Wetter ist immer wichtig im Roman, hat Dos Passos zu Hemingway gesagt. Aber obgleich viel Wetter drinsteht, wird der Roman nie geschrieben, und ich will ihn jetzt auch nicht in diesen Text recyclen. Dennoch: wenn man mit achtzehn aus Dänemark zurückkommt und als erstes einen Roman schreiben will, dann hat einen das Land schon schwer beeindruckt.

Es gibt noch ein zweites literarisches Zeugnis aus dieser Zeit. Ich bin damals gerade dabei, einen Abend Jazz & Lyrik zu organisieren. Lizzi habe ich schon als Pianisten engagiert, Peter bekommt von mir den Auftrag, ein Langgedicht Morning in Copenhagen zu schreiben. Er liefert das auch ab, kann sich aber, wie er in einem Begleitbrief erklärt, nicht an meine Vorgaben halten. Er war noch nie in Kopenhagen. Die Vorgaben waren offensichtlich, dass der Hafen, Kongens Nytorf, das Hotel d’Angleterre und der St. James Infirmary Blues (gerade in Kopenhagen gehört) darin vorkommen sollten. Peter schreibt also ein Birth of the Morning Gedicht, ohne Kopenhagen. Wenn ich es heute lese, muß ich sagen, dass wir damals schwer von T.S. Eliot und Ezra Pound beeinflusst sind. Aus dem Jazzprojekt ist nichts geworden, aber ich bin nachträglich immer noch ein wenig stolz, dass wir in unserem jugendlichen Enthusiasmus immerhin so etwas unternommen haben.

So bleibt der einzige literarische Niederschlag des Sommers in Jütland ein kleines selbstgezeichnetes Kinderbuch mit dem Titel Aus dem Leben eines Maulwurfs, das ich in den achtziger Jahren für Heidis Kinder geschrieben habe. Darin emigriert mein Maulwurf, nachdem er von deutschen Gartenbesitzern aus Deutschlands Gärten vertrieben wurde, mit Einreisegenehmigung der Königin Margarethe nach Dänemark. Auf dem Weg dahin gräbt er als alter Werder Anhänger noch schnell Günther Netzer (damals Manager vom HSV) den Vorgarten um, besucht Hannes Wader in Struckum und siedelt sich dann am Limfjord an, wo er für seine neuen Nachbarn eine Party mit röde pölser, Tuborg und Aalborg Linie Aquavit gibt:

Und als dann alle weg waren – bis auf eine hübsche, aber ziemlich besoffene Maulfwürfin – räumte er seine Höhle auf. Und dann schaute er auf den Rasen und die Heide, die dunklen Wälder und den Limfjord. Und die Maulwürfin lächelte still und sah ihn recht vergnügt und freundlich an. Und von ferne schallte immerfort die Musik der Campingplatzbewohner herüber, und der Limfjord rauschte in der Ferne – und es war alles, alles gut!

Am letzten Tag in Kopenhagen mache ich einen Kassensturz, es reicht gerade noch. Ich gehe ins vornehme Hotel d’Angleterre und bestelle mir das preiswerteste Essen, ein Omelett. Eine pölser irgendwo an einer Imbissbude hätte es ja auch getan, aber ich mußte einfach einmal im berühmtesten Hotel von Dänemark gewesen sein.

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