Donnerstag, 1. Oktober 2015

Hebamme


Einmal im Jahr machten wir in unserer Seminarbibliothek Bibliotheksrevision. Dann blieb die Bibliothek für einen Tag geschlossen, und der gesamte Lehrkörper und alle Hilfskräfte verglichen die Bücher am Standort mit dem Katalog, damals hatten wir ja noch den schönen Zettelkatalog. Ich übernahm in der Amerikanistik freiwillig alle Abteilungen, nur nicht das Regal, wo die Autoren mit einem U standen. Wie Louis Untermeyer, der heute vor 130 Jahren geboren wurde. Beinahe jede Anthologie zur amerikanischen Lyrik war von ihm herausgegeben worden. Ich machte immer einen Bogen um den allgegenwärtigen Dichter, Kritiker und Herausgeber. Aber sein Pocket Book of American poems: from the colonial period to the present day besitze ich heute noch.

An seinem hundertdreißigsten Geburtstag muss ich ihn einmal erwähnen. Und vor allem muss ich seine Frau Jean Starr Untermeyer erwähnen, die hier in der Mitte zwischen Rockwell Kent und Untermeyer steht. Rockwell Kent ist ein amerikanischer Maler (der Moby-Dickillustrierte), er wird häufig mit Norman Rockwell (der ➱hier einen Post hat) verwechselt. Auf jeden Fall hat Norman Rockwell gesagt, dass er enorm von dieser Verwechslung profitiert hätte. Ich muss heute noch einmal auf den Post ➱Vergil und Hermann Brochs Roman Der Tod des Vergil zurückkommen. Denn Jean Starr (die zweimal mit Louis Untermeyer verheiratet war) war nicht nur eine Dichterin, sie hat den Tod des Vergil ins Englische übersetzt. Eine gewaltige Aufgabe, die der österreichische Schriftsteller kaum genügend honorierte: I’m grateful to Mrs. Untermeyer for many things but not for the translation. It is just as much a privilege for her to do that as for me to do the original.

Solche Sätze machen ihn nicht unbedingt sympathisch. Sympathisch ist nur, dass es kurze Sätze sind. Kurze Sätze kann ➱Hermann Broch nicht. Wie Dieter E. Zimmer in Sprache in Zeiten ihrer Unverbesserlichkeit so schön schreibt: Die mittlere Satzlänge bei 'Spiegel' und 'Zeit' liegt bei etwa 20. Bei Kafka sind es 23, mit einem als angenehm, als natürlich empfundenen Wechsel von längeren und kürzeren Sätzen, bei Thomas Manns 'Dr. Faustus' 31, bei Hermann Brochs 'Der Tod des Vergil' 91, die selbst den gutwilligsten Leser überfordern. Einundneunzig Wörter pro Satz, und das über fünfhundert Seiten. Die Österreicher müssen ja unbedingt lange Romane schreiben, Musils Mann ohne Eigenschaften ist beinahe tausend Seiten lang, Heimito von Doderers Strudlhofstiege auch. In einem Augenblick der Einsicht - oder der Selbstironie - hat Broch über seinen Roman gesagt: Vielleicht ist dieser ganze Vergil nichts als ein großer Wortsalat.

Broch und seine Übersetzerin treffen sich in der Künstlerkolonie Yaddo, wo die beiden ein Stipendium haben. Ich habe meine Schreibmaschine verloren! Wie soll ich ohne meine Schreibmaschine schreiben? hört Jean Untermeyer den Kollegen in seinem Zimmer jammern. Sie findet seine geliebte Underwood Schreibmaschine. In der Gepäckaufbewahrung des Bahnhofs. Von da an kann Broch nicht mehr ohne sie leben: I soon found that I had been elected to that office which the Germans call Madchen fur Alles. Das Stipendium in Yaddo, der unglaublich luxuriösen und darob schon beinahe komischen Schriftstellerstiftung, hatte ihm Henry Seidel Canby vermittelt. Der wird auch dafür sorgen, dass Broch 1942 den Preis der Academy of Arts and Letters (eintausend Dollar) für die vierte Fassung des Vergil verliehen bekommt. Ich habe den verschämten Stolz eines Bingo-Gewinners, schreibt Broch.

Der einstige Millionär und Textilfabrikant ist bettelarm: Ich habe ein kleines Stipendium, mit dem ich noch vor drei Jahren vorm Verhungern geschützt war, das mir aber heute in Amerika nur die Wahl läßt entweder zu wohnen oder zu essen. Nun ist er in Yaddo (hier die Stipendiaten des Sommers 1939, Broch ist der dritte von rechts vor dem Fenster), wo wegen der Muse nur geflüstert werden darf. Er hat seine Schreibmaschine wieder, und Jean Starr Untermeyer übernimmt in den nächsten Jahren die unmögliche Aufgabe, die vier Bücher seines Tod des Vergil ins Englische zu übersetzen. Wenn er auch ihre Leistung nicht so recht würdigt, andere sehen das etwas genauer. So schreibt ihm Hans Sahl: Seltsam, wie das Genie in der Wüste immer eine Oase findet. Sie haben in der Person von Mrs Untermeyer ein Käthchen von Heilbronn der Übersetzung gefunden, das Unmögliches möglich macht! Und mit welcher Devotion sie sich dieser schwierigen Aufgabe unterzieht. Sie lebt und liebt und übersetzt nur für Sie.

Der österreichische Charmeur kann Frauen offensichtlich um den Finger wickeln. Sein Sohn Hermann Friedrich Broch de Rothermann weiß zu berichten, dass bei Brochs Beerdigung die Trauernden bei Erhalt der Nachricht alle in ungläubigem Schrecken und tiefem Schmerz, teilweise von sehr weit, nach New Haven gekommen waren. Darunter natürlich auch alle jene vier oder fünf Frauen eingefunden, die sich jede als die 'Bevorzugteste und Wichtigste' im Leben Hermann Brochs gewähnt hatte. Nur durch durch das aufopfernde Eingreifen von Mr und Mrs Canby und das Erscheinen von Bouche (die Malerin Annemarie Meier-Graefe) konnte eine Art Damenringkampf am Grabe verhindert werden.

Es ist ein gewisser Masochismus, mit dem Jean Starr Untermeyer die Vielzahl der kleinen Schmähungen durch das Genie (Thomas Mann hielt ihn dafür und hat ihn für den Nobelpreis vorgeschlagen) erträgt. Wenn Broch eine Bekannte (Marianne Schlesinger, die Gattin von ➱Richard Alewyn) eine zweite (Roh-) Übersetzung anfertigen lässt (die Untermeyer auch noch bezahlen soll), dann fühlt sie sich doch sehr verletzt: it undermined my self confidence, and increased my anxiety. Jean Starr Untermeyer hat ihre Rolle in dem Kapitel Midwife to a Masterpiece ihrer Memoiren Private Collection beschrieben: More than any book, more than any other person, Broch probed for the truth of existence. His was the most radical, most powerful, most far-ranging mind with which I had ever made contact. This contact, it is true, was not always comfortable, for Broch was thoroughgoing in his role of Socrates, and so divested one of every pleasing self-illusion that one felt stripped to the bone. But I had had since childhood a certain stoicism in bearing the penalties that one pays for knowledge. I was still a small girl when, in his slightly beery rages at a beginner’s blunders, my old German music teacher had, more than once, come down on my little paws with his heavy fists. Yet I never reported this breach of conduct to my parents, for they would surely have dismissed him, and my desire to learn music was even then a passion.

Die Vorstellung, dass Broch für sie so etwas ist, wie der angetrunkene alte deutsche Klavierlehrer, der einem kleinen Mädchen auf die Finger kloppt, ist etwas ernüchternd. Das Kapitel Midwife to a Masterpiece zeigt aber auch, dass sie mehr als eine Hebamme eines Meisterwerks ist. In dem von Paul Michael Lützeler herausgegeben Buch Hermann Broch, Visionary in Exile: The 2001 Yale Symposium gibt es einen ausführlichen ➱ArtikelBeyond Words: The Translation of Broch's "Der Tod des Vergil" by Jean Starr Untermeyer, von John Hargraves, dem wir alles über die gigantische Aufgabe der Übersetzung des großen Wortsalats entnehmen können.

Jean Starr Untermeyer hat 1946 an der Yale Universität einen Vortrag mit dem Titel Is Translation an Art or a Science? gehalten. Broch hätte das gerne verhindert. Er hatte seiner literarischen Hebamme einen Essay mit dem Titel Some Comments on the Philosophy and Technique of Translating (er findet sich in der Sammlung Geist und Zeitgeist) geschrieben und erwartete, dass sie den vorlas. Sie tut es nicht, Übersetzer haben auch ihren Stolz. Ich hätte dies kleine Loblied auf die Übersetzerin Jean Starr Untermeyer auch gestern einstellen können, denn gestern war der Internationale Übersetzertag. Es ist der Todestag von Hieronymus, der das Alte Testament aus dem Hebräischen ins gesprochene Latein, die Vulgata, übersetzte. Hieronymus gilt als der Schutzheilige der Übersetzer. Hieronymus, der Bibel-Übersetzer, der Schutzheilige der Übersetzer und der Freundschaft, war ein Trotzkopf und Einsiedler; das sind Übersetzer alle, auch wenn sie in Großstädten leben und sich scheinbar angepasst verhalten, hat der Übersetzer Karl Dedecius einmal in einer Rede gesagt. Hieronymus hat auf den Bildern immer seinen Löwen bei sich. Vielleicht wäre ein beschützender Löwe auch für Jean Starr Untermeyer das richtige Haustier gewesen.

Ihre Übersetzung (➱hier der Anfang des Romans) liest sich übrigens sehr gut: Steel-blue and light, ruffled by a soft, scarcely perceptible cross-wind, the waves of the Adriatic streamed against the imperial squadron as it steered toward the harbor of Brundisium, the flat hills of the Calabrian coast coming gradually nearer on the left. And here, as the sunny yet deathly loneliness of the sea changed with the peaceful stir of friendly human activity where the channel, softly enhanced by the proximity of human life and human living, was populated by all sorts of craft by some that were also approaching the harbor, by others heading out to sea and by the ubiquitous brown-sailed fishing boats already setting out for the evening catch from the little breakwaters which protected the many villages and settlements along the white-sprayed coast - here the water had become mirror-smooth; mother-of-pearl spread over the open shell of heaven, evening came on, and the pungence of wood fires was carried from the hearths whenever a sound of life, a hammering or a summons, was blown over from the shore.

Man sagt häufig, dass deutsche Autoren in englischer Übersetzung verständlicher klingen. Bei Karl Marx und Sigmund Freud ist das sicher so. Wittgenstein wäre auch solch ein Beispiel. Als sein Hauptwerk von dem Engländer C.K. Ogden ins Englische übersetzt worden war, rannte Wittgenstein wutentbrannt zu dem Philosophen ➱Bertrand Russell, um ihm zu sagen, dass Ogden ihn überhaupt nicht verstanden hätte. Worauf ihm Russell mit charmantem Lächeln sagt, dass er durch die englische Übersetzung zum ersten Mal Wittgensteins philosophisches Denken verstanden hätte. Vielleicht sollte man statt Der Tod des Vergil lieber Jean Starr Untermeyers The Death of Virgil lesen.

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