Donnerstag, 29. April 2010

Moorleichen


Ich habe einmal den irischen Dichter Seamus Heaney getroffen. Das war lange, bevor er weltberühmt wurde und den Nobelpreis for works of lyrical beauty and ethical depth, which exalt everyday miracles and the living past erhielt. Für die Zeit nach der Dichterlesung hatte der Veranstalter damals stilecht dafür gesorgt, dass genügend Guinness vom Fass bereit stand. Auch an echte große Guinness Gläser war gedacht worden. Ich persönlich mag das Zeug ja nicht wirklich, aber Seamus Heaney sprach dem irischen Nationalgetränk gerne zu. Er wirkte wie ein verschmitzter großer Junge, mit seinen roten Hosenträgern über dem weißen Hemd. Ich brachte ihn zum Lachen, als ich ihn fragte, ob sein Dichterkollege Robert Lowell jetzt immer Freibier von Guinness bekäme, wo er gerade die Guinness Erbin Caroline Blackwood geheiratet hätte.

Aber das Thema, das ihn an dem Abend beschäftigte und ihm nicht aus dem Kopf zu gehen schien, waren Moorleichen. Er wollte in den nächsten Tagen nach Schleswig weiterreisen, um das Windeby Mädchen zu sehen. Und dann vielleicht noch nach Dänemark, wegen des Tollund man und dem Elling girl. Soll man das Moorleichentourismus nennen? Die konservierte Leiche des Mädchen von Windeby hatte ich in den fünfziger Jahren einmal in ihrem Glaskasten im Keller des Landesmuseums Schloss Gottorp in Schleswig gesehen. Da kriegte man natürlich eine Geschichte dazu, von der jungen schönen Ehebrecherin, der man die Augen verbunden hatte, bevor man sie umbrachte und ins Moor stieß. Theodor Fontane, der solch spökenkiekerische Anekdoten liebte, hätte seine Freude an dieser Geschichte gehabt. Aber für Heaney war das nicht nur eine Leiche, die man 1952 in der Gegend von Eckernförde im Moor gefunden hatte. Es hatte für ihn etwas mit seiner Kindheit zu tun, mit den bog people der Gegend, aus der er kam. Mit seltsamen Dingen, die das Moor eines Tages wieder freigibt. Wo Moor ist, ist auch Aberglaube und tausenderlei Geschichten. Da wo alles vor Nässe glänzt und das Land eingehüllt ist in einen grauen Nebel, der die Düsternis der Moore mit ihren Torfwunden schützt. Aus dem, was Heaney an dem Abend nicht aus dem Kopf ging, ist das Gedicht Punishment geworden.

I can feel the tug
of the halter at the nape
of her neck, the wind
on her naked front.

It blows her nipples
to amber beads
it shakes the frail rigging
of her ribs.

I can see her drowned 
body in the bog,
the weighing stone,
the floating rods and boughs.

Under which at first
she was a barked sapling
that is dug up
oak bone, brain-firkin:

her shaved head
like a stubble of black corn
her blindfold a soiled bandage,
her noose a ring

to store 
the memories of love.
Little adultress
before they punished you

you were flaxen-haired,
undernourished, and your
tar-black face was beautiful.
My poor scapegoat,

I almost love you
but would have cast, I know,
the stones of silence.
I am the artful voyeur

of your brains exposed
and darkened combs,
your muscles' webbing
and all your numbered bones:

I who have stood dumb
when your betraying sisters,
cauled in tar,
wept by the railings,

who would connive 
in civilized outrage
yet understand the exact
and tribal, intimate revenge.

Heaney hat auch über den Tollund Man geschrieben, aber das Gedicht ist lange nicht so geheimnisvoll, dunkel und sexy. Fremd und unglücklich fühlt er sich in Dänemark, er versteht kein Dänisch, aber gleichzeitig fühlt er sich da auch at home. In das Gästebuch von Silkeborg hat er eine Strophe des Gedichtes geschrieben. Aber nicht die erste. Weil die mit Some day I will go to Aarhus anfängt, das haben sie in Silkeborg nicht so gerne gehört, dass ihre Moorleiche in Aarhus sein sollte. Aber Seamus Heaney hat gesagt, das sei so wegen des Metrums. Alles weitere darüber ➱hier, da gibt es das Gedicht auch auf Dänisch.

Die kleine flachsblonde Ehebrecherin, auf die der artful voyeur eine Art Liebesgedicht schreibt, ist jetzt Teil der Literatur, der Literaturgeschichte. Aber bevor wir nun über skandinavische Blondinen, die in der Vorzeit durch germanische Stammesrituale im Moor getötet werden, weiter raisonnieren, müssen wir einen Augenblick innehalten. Und das Wort Desoxyribonukleinsäure ins Spiel bringen, dieses Zeug, das der große Naturwissenschaftler und große Essayist Erwin Chargaff entdeckt hat. Ein kanadischer Wissenschaftler hat vor wenigen Jahren herausgefunden, dass das Mädchen von Windeby in Wirklichkeit ein Junge war. Na denn Tschüss, kleine sexy Blondine.

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