Samstag, 29. Mai 2010

Schneider



Ejn hinckender Schneider ist hinauff kommen zu den Pforten der Himmel / vnnd hat begeret von Sanct Peter / er soll jhn hinein lassen / das hat ihm aber Sanct Peter abgeschlagen / von wegen seiner vielfaltigen Diebstal / die er vollbracht hatte / wie dann der Schneider brauch ist. So fängt die Geschichte an, sieht ein bisschen gewöhnungsbedürftig aus, meinem Schreibprogramm gefällt das gar nicht. Aber vor fünfhundert Jahren, und so alt ist der Text beinahe, gab es natürlich noch keine Computer mit Rechtschreibprogrammen. Der Verfasser des Textes heißt Heinrich Bebel, er war Professor für Poesie und Eloquenz in Tübingen. Seine Libri facetiarum iucundissimi (Ausgabe letzter Hand Straßburg 1514) waren sein größter Erfolg, Anekdote, Schwänke, Parodien. Bebel hat Latein geschrieben, ist aber schon wenig später durch ein guoten Gesellen auß Latein in das Teutsch gebracht worden (1558). Das Erstaunliche ist, wir können das Frühneuhochdeutsche heute noch lesen und mit ein wenig Eingewöhnung verstehen. Engländer hätten da größere Schwierigkeiten, ich bezweifle, dass ein normaler Engländer Sir Thomas Malorys Le Morte d'Arthur so einfach lesen könnte. Das liegt daran, dass sich das Mittelenglische gerade erst zum Frühneuenglischen wandelt, Caxtons Druckerpresse ist daran nicht unschuldig. Dieses Deutsch, in dem uns der hinckende Schneider begegnet (was umgangssprachlich noch Jahrhunderte später eine Beleidigung ist) ist das Deutsch der Lutherzeit. Immer noch lesbar, Luthers Bibelübersetzung ist sprachgewaltiger als alle neuen Übertragungen, die von irgendeiner Art political correctness infiziert sind. Das gleiche gilt sicher für die King James Version der Bibel.

Schneider haben es nicht leicht im Volksmund, es gibt wohl keine Berufsgruppe, die in Sprichworten derartige Schmähungen ertragen muss, wie die Schneider. Die wunderbare enzyklopädische Bibliothek der deutschen Literatur, Zeno, hat da eine ganze Sammlung. (Zeno) Manche Schneider haben es zu Höherem gebracht, wie der alte Derfflinger, über den Fontane schreibt:

Die Stettiner hatten sich unterfangen
Eine Schere auszuhangen
Dem Feldmarschall zum Hohn.
"Wart, ich will euch auf der Stelle
Nehmen Maß mit meiner Elle,
Kreuzmillionenschockschwernoth."

Und Andrew Johnson, der Vizepräsident des ehemaligen Holzfällers Lincoln (damals beherrschten amerikanische Präsidenten noch ein Handwerk), ist nach Lincolns Tod Präsident geworden. Hatte aber nicht eine so tolle Karriere wie der alte Derfflinger. Der Schneider aus Tennessee musste ein Amtsenthebungsverfahren erleiden, weil er immer besoffen war.

Unser Schneider an der Himmelstür hat offensichtlich keine gute Reputation von wegen seiner vielfaltigen Diebstal. Aber er bittet und bettelt, er wolle deß Ofen dahinden hueten / auch allerley schlechteste Arbeit außrichten. So weit, so gut, er kriegt den himmlischen 1 Euro Job. Natürlich kann die Geschichte hier noch nicht zu Ende sein, ebenso wie ein Theaterstück braucht eine gute Geschichte eine Komplikation. Als aber auff ein Zeit der Himmlisch Fuerst mit dem gantzen Himmlischen Heer / von kurtzweil wegen hinauß in ein Garten / vnnd spacieren gegangen ausserthalb den Himmel / ist der Schneider allein daheime bleiben. Das tapfere Schneiderlein allein zu Haus, remansit solus ille sartor, wie es im Original heißt. Und wir ahnen schon, das geht nicht gut. Unser Schneider setzt sich auf Gottes Thron, an welchem Ort / als er weit vnd breit sehen kondte aller Menschen thun vnd lassen. Und da sieht er ein altes Weib, das einer anderen Frau am Bach die Kleider stiehlt. Da ward er vnwillig (dann er befandt bey ihm selber / wie eine grosse Suende das stelen were) erwuescht des Koeniges Fußschemel und warf denselbigen in das alte Weib. Als der Himmelskönig vom Spaziergang zurückkommt fehlt ihm sein Fußschemel, der Schuldige ist schnell gefunden. Der Schneider gesteht seine Tat, und im letzten Satz des Schwanks heißt es von Gott: nun da er die vrsach deß wurffs von jhm vernommen hat / saget er: O lieber Son / wann ich so rachgirig were als du / so weren mir jetzund weder Baenck noch Stuel mehr vberig. Bei dem, was Gott da jeden Tag voller Zorn vom Himmel schmeißen müsste, würden ja alle Ikea Möbelwagen der Welt an der Himmelspforte nicht ausreichen.

Aber das muss man dem Humanisten Henricus Bebelius lassen, er ist immer witzig, manchmal auch richtig frech gegen die kirchliche Obrigkeit, nie salbadernd moralisierend. Bebel hat diese Schwänke auf Wanderungen in Dörfer, Klöstern und in Kneipen gehört, sie aufgeschrieben und in elegantes Neulatein gebracht. Es ist kein Wunder, dass die Fazetien des schwäbischen Gelehrten im 16. Jahrhundert ein Bestseller waren. Heute ist es recht schwer, an eine Ausgabe der Fazetien zu kommen, obgleich seit der ersten vollständigen Übertragung durch Albert Wesselski 1907 immer wieder kleinere Sammlungen erschienen sind. Und im letzten Jahr ist sogar eine Dissertation veröffentlicht worden, die nicht nur dem lateinischen Original, sondern auch dem unbekannten deutschen Übersetzer wissenschaftliche Gerechtigkeit widerfahren lässt, Stephanie Altrock: Gewitztes Erzählen in der Frühen Neuzeit: Heinrich Bebels Fazetien und ihre deutsche Übersetzung (Böhlau 2009).

In einem Punkt betrügt uns allerdings der Übersetzer. Im Original steht da noch zum Schluss: Ad quod alludit Ovidius: Si quoties peccant homines, sua fulmina mittat, Iuppiter, exiguo tempore inermis erit. Dieses Bildungszitat lässt der Übersetzer weg. Und so erfährt der Leser im Jahre 1558, der seinen Ovid nicht kennt, dass da beinahe schon das Gleiche steht. Dass wenn Jupiter jedes Mal einen Blitz auf die Erde schleudern würde, wenn die Menschen sündigen, er bald waffenlos dastehen würde. Das mit den Blitzen, das passt natürlich zu Jupiter. Aber das mit den Möbeln, das ist viel witziger.


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