Dienstag, 25. Januar 2011

Melancholie


Schon das Vorwort, in dem er sich an seine Leser wendet und erklärt, weshalb er sich den Namen Democritus junior gegeben hat, ist sehr lang. Was danach folgt ist noch länger, und er wird sein ganzes Leben lang dieses Buch überarbeiten. Er lebt auch in einer Zeit, als man noch viel Zeit für lange Bücher hat, von der Bibel mal abgesehen. Er schreibt sein Wissen in dieses Buch, und er gebraucht das schöne Bild vom Zwerg auf den Schultern des Giganten: Though there were many giants of old in physics and philosophy, yet I say with Didacus Stella, 'A dwarf standing on the shoulders of a giant may see farther than a giant himself’; I may likely add, alter, and see farther than my predecessors. Er ist nicht der erste, der es gebraucht. Aber da sein Buch in seiner Zeit so erfolgreich ist, schreibt man es ihm gerne zu. Es ist ja lange Zeit auch ein Sinnbild für das Wissenschaftsverständnis gewesen. Und man fing auch nicht an, wissenschaftlich über ein Thema zu schreiben, solange man die gesamte Literatur nicht gesichtet und bewertet hatte. Das ist heute in manchen Fächern der Geisteswissenschaften ein wenig anders geworden, wo viele die Würdigung der Leistung von Gelehrtengenerationen nicht mehr nötig haben. Und sich die Zwerge einbilden, Riesen zu sein. Wenn die Sonne der Kultur tief steht, werfen auch Zwerge lange Schatten.

Das Lebenswerk des unermüdlichen Democritus Junior heißt The Anatomy of Melancholy und hat in der in den letzten Jahren so gefeierten Ausgabe der New York Review of Books Classics knapp 1.400 Seiten, die mehrbändige Ausgabe der Oxford University Press ist noch umfangreicher - und wesentlich teurer. Falls Sie zufälligerweise noch die gute alte dreibändige Everyman Ausgabe haben sollten, sind Sie fein heraus, die NYRB Classics Ausgabe ist nix anderes als die Everyman Ausgabe von 1932. Als die erschien war das Buch schon dreihundert Jahre alt und fand immer noch Leser. Der Autor dieses Mammutwerkes hieß natürlich nicht Democritus Junior sondern Robert Burton, er ist heute vor 371 Jahren gestorben. Da fängt ein anderer Gelehrter an zu schreiben, der ihm in vielem ähnlich ist, Sir Thomas Browne. Den liest man eigentlich nicht freiwillig, aber wenn man sich Herman Melville beschäftigt, kommt man nicht an ihm vorbei. Thomas Browne ist vielleicht im Stil noch anspruchsvoller und wissenschaftlich einen Schritt weiter - seine Bibliothek ist ein schönes Abbild des Standes der damaligen Wissenschaft - aber beide sind sich in vielem ähnlich.

Robert Burton unterteilt sein Riesenwerk sehr sorgfältig. Zuerst kommen die drei partitions, die Hauptteile. Dann kommen sections, members und subsections. Und immer wieder Abschweifungen, die einen an Lawrence Sternes Tristram Shandy erinnern (der natürlich seinen Burton gelesen hat). Und tausende von Fußnoten. Es kommt uns heute schon wie eine Wissenschaftsparodie vor, aber Burton treibt nur eine Methode auf die Spitze, die die theologische Diskussion des Mittelalters perfektioniert hatte. Aber was er schreibt ist nicht ad maiorem Dei gloriam, dies ist jetzt die Wissenschaft des 17. Jahrhunderts. Auch wenn es aus einer Laune heraus geschrieben ist.

Aus vielen Passagen des Buches spricht aber auch nicht nur die Wissenschaft, sondern - und da ist das Buch Montaignes Essais ähnlich - die schlichte Vernunft. Some say redheaded women, pale-coloured, black-eyed, and of a shrill voice, are most subject to jealousy, sagt Burton, und er weiß, dass er jetzt ein bekanntes Vorurteil präsentiert. Sichert das dann aber noch, wie es so seine Art ist, mit einem Zitat ab: High colour in a woman choler shows,/ Naught are they, peevish, proud, malicious;/ But worst of all, red, shrill, and jealous. Aber dann kommt, kurz und trocken, die Stimme der Vernunft: Comparisons are odious, I neither parallel them with others, nor debase them any more: men and women are both bad, and too subject to this pernicious infirmity. Die Leser des 17. Jahrhunderts haben das Buch nicht als ein Werk der Wissenschaft verstanden, sie haben es zur Unterhaltung gelesen. Und sie werden sicher auch den common sense, der aus seinem Werk spricht gewürdigt haben. Was sind das für paradiesische Zustände, wenn die Wissenschaft und die Philosophie zur Unterhaltung werden! Es gibt noch keine Romane, wenn wir einmal von Sir Philip Sidney Arcadia absehen - auch ein Bestseller in dieser Zeit.

Man hat es damals nicht allein deshalb gelesen, weil die Melancholie gerade chic und en vogue ist. Und das ist sie, wenn wir einmal einen Blick auf diesen Gentleman von Nicholas Hilliard werfen. Ist Hamlet etwa nicht melancholisch? Wahrscheinlich hat diese Hinwendung der Dichter und Gelehrten zur Melancholie schon mit Albrecht Dürers rätselhafter Melencolia I begonnen. Eigentlich ist The Anatomy of Melancholy - und jetzt überspitze ich das mal - gar kein Buch über die Melancholie, es ist ein Buch über ALLES. Man folgt dem Verfasser und gibt sich der Lektüre hin, wohin einen auch die subsections und digressions führen mögen. Die Leser damals hatte noch kein Fernsehen, die konnten sich nicht mit GZSZ betäuben und brauchten sich nicht über einen der Bild Zeitung hörigen bairischen simplicius simplicissimus zu ärgern. Sie konnten Jahre auf die Lektüre der anderthalb tausend Seiten verwenden, konnten bei Tageslicht oder bei Kerzenlicht lesen. Sie konnten es in fröhlicher Stimmung lesen oder sich Hilfe davon zu erhoffen, wenn sie das überkam, was Winston Churchill seinen black dog nannte. Womit ich dies Buch nicht unbedingt als eine Therapie für Leser empfehlen möchte, die eine klinische Depression haben. Obgleich vielleicht doch dieses Buch manchem Licht in die Dunkelheit bringen kann. Es ist auf jeden Fall in einer Depression eine bessere Lektüre als Franz Kafka.

Ich habe heute meine Depri, hört man Leute sagen. Und wenn jemand derart mit einer schweren Krankheit kokettiert, dann hat er sie bestimmt nicht. Aber das Kokettieren mit der Melancholie, das ist von Anfang an da bei den Dichtern, denn auch für Burton hat die melancholia ein Element, das desirable ist. Zumal es in der Zeit, in der Burton schreibt, ja auch chic ist, ständig über den Tod zu schreiben. Auch aus der Malerei sind die vanitas Symbole nicht wegzudenken. Eine ähnliche morbide Stimmung wird es erst wieder in der Zeit der graveyard poetry und der Romantik geben. Und in den meisten Fällen haben die Dichter auch ihren Burton gelesen. John Keats, der die Ode on Melancholy geschrieben hat, hat das auf jeden Fall getan.

Über John Keats und die Melancholie bei den englischen Dichtern will ich gerne noch ein anderes Mal schreiben. Zumal die (wie auch schon bei Burton) der Melancholie auch das Element der pleasure abgewinnen können. Wie man es hundert Jahre nach Burton in Thomas Whartons The Pleasures of Melancholy: A Poem sehen kann. Burtons Anatomy of Melancholy ist heute trotz aller Zeitgbundenheit immer noch eine faszinierende Studie. Wenn man etwas Neueres zum Thema lesen will, kann ich nur Melancholie von dem Ungarn László R. Földényi (Matthes&Seitz 1988) empfehlen. Dieser Autor, der auch ein wirklich phantastisches Buch über Heinrich von Kleist (sicherlich auch ein Melancholiker) geschrieben hat, ist bei uns in intellektuellen Kreisen gar nicht genügend gewürdigt worden. Kunsthistoriker, die sich mit dem Thema beschäftigen, werden an Saturn und Melancholie: Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst von Raymond Klibansky, Erwin Panofsky und Fritz Saxl (Suhrkamp Taschenbuch) nicht vorbeikommen.

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