Samstag, 18. Juni 2011

Wolfsschlucht


Heute vor 190 Jahren wurde Der Freischütz im Berliner Schauspielhaus aufgeführt. Eine deutsche Oper, eine Nationaloper, nicht dieses italienische Zeug von Mozart. Spielt in Böhmen nach dem Dreißigjährigen Krieg. Echt deutsch, mit viel Wald. Und richtigen Schlagern zum Mitsingen wie Durch die Wälder, durch die Auen und dem Wir winden dir den Jungfernkranz mit veilchenblauer Seide.

Wenn Sie vom Halleschen nach dem Oranienburger Tore und vom Brandenburger nach dem Königstore, ja selbst wenn Sie vom Unterbaum nach dem Köpenicker Tore gehen, hören Sie jetzt immer und ewig dieselbe Melodie, das Lied aller Lieder: den Jungfernkranz, schrieb Heinrich Heine. Und überlegt sich ob er sich Kondome aus veilchenblauer Seide bestellen sollte. Am besten lesen Sie seinen Bericht über die Auswirkungen der ➱Oper hier in Gänze.

Der Direktor der Sing Akademie Karl Friedrich Zelter (den Goethe sehr schätzte, Zelter war einer der wenigen Duz-Freunde des Dichters) soll angeblich gestöhnt haben, seine Tochter gehe mit dem Jungfernkranz zu Bett und stehe mit dem Jägerchor wieder auf. Über ihn kursierte in Berlin die schöne Anekdote: Zelter geht gerade über die Schlossbrücke; vor ihm läuft ein Sandjunge, der gerade den Schlager „Wir winden dir den Jungfernkranz“ aus Webers Freischütz trällert, jedoch nicht über den Anfang hinaus kommt. Schließlich setzt Zelter mit seiner Bassstimme verärgert ein: ‚mit veilchenblauer Seide‘. Der Bengel dreht sich um und sagt: ‚Wenn er sich den Jungfernkranz singen will, kann er sich ihn ja wohl ooch alleene anfangen!‘ Der Meister war geschlagen!"

Es ist das Volk, das singt. Der Hof und der Adel waren nicht zu Uraufführung am sechsten Jahrestag von Waterloo gekommen. Denn der neue Berliner Generalmusikdirektor war Gaspare Spontini, der die klassische italienische höfische Oper, die Opera seria favorisierte. Seine Oper ➱Olympia war einen Monat (14. Mai 1821) vor dem Freischütz mit riesigem Aufwand inszeniert worden, lebende Elefanten wurden über die Opernbühne geführt und für 42 Bühnenproben mussten andere Vorstellungen ausfallen. Spontini wusste von dem, was er auf den Proben des Freischütz gesehen hatte (Weber bekam nur 16 Probentermine zugestanden), was ihn von der neuen Volksoper erwartete. Er war nicht unbedingt ein Freund Webers. Dirigierte aber immerhin 1826 nach Webers Tod eine Benefizaufführung von Der Freischütz, deren Einnahmen an Webers Witwe gingen.

Der Freischütz war gleich von Anfang an ein riesiger Erfolg. Weber, der die Uraufführung selbst dirigierte, notierte in seinem Tagebuch: Abends als erste Oper im neuen Schauspielhause "Der Freischütz". Wurde mit dem unglaublichsten Enthusiasmus aufgenommen. Ouvertüre und Volkslied da capo verlangt, überhaupt von 17 Musikstücken 14 lärmend applaudirt, alles ging aber auch vortrefflich und sang mit Liebe; ich wurde herausgerufen und nahm Mad. Seidler und Mlle. Eunicke mit heraus, da ich der andern nicht habhaft werden konnte. Gedichte und Kränze flogen. Soli deo gloria.

Kurz nach der Uraufführung schrieb der opernbegeisterte E.T.A. Hoffmann in der Vossischen Zeitung: Seit Mozart ist nichts Bedeutenderes für die deutsche Oper geschrieben als Beethovens Fidelio und dieser Freischütz. Weber hat, so scheint es, alle in unzählige Lieder- und Instrumental-Compositionen zerstreuten Strahlen seines erstaunenwerthen Genius kühn in einen Brennpunkt gesammelt, denn mit allen seinen längst berühmten Eigenthümlichkeiten finden wir den interessanten Geist hier wieder! Die Meisterschaft in den Liedern und Chören der Oper ist so groß und bewundernswerth, dass Weber sich durch sie jetzt gewiss seinen Platz für die Unsterblichkeit gesichert haben würde - wäre der ihm nicht längst gewiss. Angeblich hat er das geschrieben, aber neuerdings wird das bezweifelt. Auch der Satz Wenn andere ängstlich ringen und streben, so scheint Weber mit der Muse vertraulich zu scherzen, und doch weiß er ihr immer ihre besten Gaben abzulocken, denn er ist ihr Liebling ist wahrscheinlich nicht von ihm. Es hat in der Vossischen Zeitung damals auch einen Verriss des Freischütz gegeben, den man auch Hoffmann zuschrieb, er war aber nicht der Verfasser. Weber ist immer enttäuscht gewesen, dass Hoffmann die versprochene Besprechung nicht geschrieben hat, hatte er doch 1817 Hoffmanns Oper Undine gelobt.

Bei der Ankunft Webers in Berlin hatte Hoffmann geschrieben: Ja, ganz unser bist Du. Deinen Werken erstrahlt in vollem Himmelsglanz das Wahrhaftige wie den Werken unseres Händel, Hasse, Gluck, Mozart… Denn nur dem Wahrhaftigen mag sich noch der echte deutsche Sinn erschließen. Aber ähnlich Schwülstiges hatte er in seinem Gruß an Spontini am 30.5.1820 geschrieben. Über den er im privaten Kreis ganz anderer Meinung war: Spontini hat zu lange in Frankreich gelebt, er muß erst ein Deutscher werden, dann wird er erst etwas Tüchtiges schreiben. Hoffmann laviert zwischen den beiden Lagern - hie Spontini, dort Weber - die sich inzwischen gebildet haben, hin und her. Denn er ist Spontinis Mitarbeiter gewesen und hat die Übersetzung der Oper Olympia bearbeitet (und den dritten Akt in Teilen umgearbeitet), deshalb glaubt jedermann, dass er im Spontini Lager stehe. Doch Hoffmann sieht Spontinis Grenzen: Das Werk könnte kolossal werden, wenn ich dem Manne nur das einzige Wort Effect nehmen könnte; aber damit tötet er alles. Richard Wagner, der auch auf den Effect aus war, hat Spontini verehrt. Hatte aber nie Elephanten auf der Bühne.

Der Bombast Spontinis ist Heinrich Heine zuviel des Guten: Pauken- und Trompetenspektakel, schallenden Bombast und gespreizte Unnatur nennt er Spontinis Musik. Und er schreibt in seinem Brief aus Berlin 1822: Jetzt, mein Lieber, können Sie sich den Lärm erklären, der diesen Sommer ganz Berlin erfüllte, als Spontinis »Olympia« auf unsrer Bühne zuerst erschien. Haben Sie die Musik dieser Oper nicht in Hamm hören können? An Pauken und Posaunen war kein Mangel, so daß ein Witzling den Vorschlag machte, im Neuen Schauspielhause die Haltbarkeit der Mauern durch die Musik dieser Oper zu probieren. Ein anderer Witzling kam eben aus der brausenden »Olympia«, hörte auf der Straße den Zapfenstreich trommeln und rief, Atem schöpfend: »Endlich hört man doch sanfte Musik!« Ganz Berlin witzelte über die vielen Posaunen und über den großen Elefanten in den Prachtaufzügen dieser Oper. Die Tauben aber waren ganz entzückt von so vieler Herrlichkeit und versicherten, daß sie diese schöne dicke Musik mit den Händen fühlen konnten. Die Enthusiasten aber riefen: »Hosianna! Spontini ist selbst ein musikalischer Elefant! Er ist ein Posaunenengel!«

E.T.A. Hoffmanns Herz ist trotz der widersprüchlichen Aussagen schon auf Carl Maria von Webers Seite (dem er nach der Aufführung des Freischütz auch einen übergroßen Lorbeerkranz aufgesetzt hatte). Denn er schreibt immer noch an seiner Märchenoper Undine, wofür ihm de la Motte-Fouque das Libretto geschrieben hat. Die ist zwar schon 1816 aufgeführt worden - mit dem Bühnenbild von keinem Geringeren als ➱Schinkel - aber so richtig fertig ist sie immer noch nicht. Sind auch keine Ohrwürmer drin wie beim Freischütz.

Neben den Ohrwürmern in dem Freischütz gibt es da noch eine dunkle Seite, den Kaspar, den schwarzen Samiel und die Furchtbare Wolfsschlucht (hier in Version von Meno Mühlig) in der zweiten Szene des zweiten Aktes. Da wird das ganze Mobiliar der ➱schwarzen Romantik auf die Bühne gerollt, dieser schöne Schauer mit dem Teufel und der Freikugel und was nicht allem.

Ha! Furchtbar gähnt 
Der düstre Abgrund, welch ein Graun!
Das Auge wähnt
In einen Höllenpfuhl zu schaun!
Wie dort sich Wetterwolken ballen,
Der Mond verliert von seinem Schein!
Gespenst'ge Nebelbilder wallen,
Belebt ist das Gestein!
Und hier, husch, husch,
Fliegt Nachtgevögel auf im Busch!
Rotgraue narb'ge Zweige strecken
Nach mir die Riesenfaust!
Nein! Ob das Herz auch graust,
Ich muß! Ich trotze allen Schrecken!


George Cruikshank fand das für eine englische Freischütz Satire offensichtlich komisch, und auch viele heutige Regisseure können mit der Furchtbaren Wolfsschlucht nicht mehr so viel anfangen. Als der Freischütz auf die Bühne kommt, ist die englische gothic novel noch auf ihrem Höhepunkt, und E.T.A. Hoffmann hat 1816 nicht nur seine Oper Undine geschrieben (die ja auch voller Spuk ist) sondern er hat auch gerade Die Elixiere des Teufels publizierta faint cold fear thrills through my veins wußte schon Shakespeare (und Rowohlt nahm den Satz aus Romeo and Juliet als Motto seiner schwarz-gelben Krimireihe), und dieser thrill ist jetzt chic. Samiel hilf.

Gerade merke ich, dass ich in anderthalb Jahren überhaupt noch nicht über die gothic novel geschrieben habe, all das zwischen Ann Radcliffe und Edgar A. Poe. Tue ich irgendwann noch mal. Zuvor möchte ich aber auf den schönen Blog des gepflegten Schauders von ➱Frank T. Zumbach hinweisen. Der hat vor einem Vierteljahrhundert eine wirklich gute Edgar Allan Poe Biographie geschrieben, da kann ich nur empfehlen bei Amazon Marketplace die Reste aufzukaufen, bevor sie ganz vom Markt verschwindet.

Vor Jahren habe ich bei arte eine Freischütz Inszenierung gesehen, für die Robert Wilson verantwortlich zeichnete. Den kann ich ja nun überhaupt nicht ausstehen. Und deshalb gefiel mir die Kritik von Joachim Mischke im Hamburger Abendblatt auch sehr gut:

Die Kostüme stammten vom Amsterdamer Designer-Duo Viktor & Rolf; die 1,4 Millionen Kristalle, die dafür verarbeitet wurden, nicht aus irgendeiner x-beliebigen Zulieferer-Klitsche, sondern von Swarowski. Viel eitler Bling-Bling also mit Namedropping-Hintergedanken und Klatschpresse-Potenzial, der gute alte deutsche Wald als Scherenschnitt und eine Menge Revue-Klamauk mit Abitur waren das umjubelte Ergebnis. Mit seinem „Black Rider“ hatte Wilson - lang, leider lang ists her - am Hamburger Thalia Musical-Geschichte geschrieben. Vom skurrilen Humor dieses Geniestreichs (unvergessen: die putzigen Lämpchen hinter den Segelohren des teuflisch guten Dominique Horwitz) ist in dieser Version der Weberschen Vorlage allerdings so gut wie nichts übrig geblieben. Wilson lieferte nur noch genau das, wofür er eingekauft worden war. Feines, Wohlfeiles aus dem mittlerweile prall bestückten Wilson-Effekte-Fundus. Für seine Verhältnisse war der Verrätselungsfaktor dabei ziemlich gering. Bebildert wurde ordentlich und selbst für Wilson-Anfänger mühelos erkennbar, was im Textbuch stand. In der Wilson-Wolfsschlucht wurde gar schröcklich mit Wilson-Feuer und Kunstnebel hantiert, Jäger Max (Steve Davislim) hielt eine Wilson-Laubsäge-Flinte und steckte in einem Wilson-Blätterbüschel, für Begriffsstutzige bekam der Bauer Kilian seinen Beruf in Großbuchstaben als Schulterpolster verpasst. Agathe posierte in einem regenbogenbunten Etwas, das an eine explodierte Bonbonschachtel erinnerte. 

Ein Wilson von der Stange, als Maßarbeit angeboten. Vielleicht aber auch nur ein weiterer Wilson zuviel von einem, der sein kreatives Bühnenzauberpulver schon verschossen hat, das auch weiß und nun nur noch, in regelmäßigen Abständen über den internationalen Premierenkalender verteilt, sich selbst zitiert. Denn von einer als Regie oder gar Deutungserkenntnis wahrnehmbaren Interpretation des Stücks war weit und breit nichts zu sehen. Nur von einer exquisit schillernden Oberfläche. Jägerchor blieb Jägerchor, Jungfernkranz war Jungfernkranz, Schmalz blieb Schmalz.

Da sind wir doch mit dieser Comics-Version einer Ausstattungsorgie genau wieder da angekommen, wo Spontini mit seiner Berliner Olympia im Jahre 1821 war. Da ist es doch besser, sich für 18,99 € die gute alte Carlos Kleiber Aufnahme der Deutschen Grammophon zu kaufen und in den CD-Player zu legen. Und sich die Welt der Oper vorzustellen, den deutschen Wald, den Platz vor einer Waldschenke, Agathes Zimmer und die Romantisch schöne Gegend. Unsere Vorstellungskraft ist immer noch bildmächtiger als jede postmoderne Mickymausisierung der Bühne durch Robert Wilson.

Wenn Sie mehr als 18,99 € für Carl Maria von Weber ausgeben wollen: für eine monatliche Rate von 913,89 € können Sie Carl Maria von Webers Geburtshaus in Eutin kaufen. Ist aber renovierungsbedürftig. Die deutsche Romantik ist immer renovierungsbedürftig.

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