Montag, 19. September 2011

William Golding


Am Cornwall Campus der Uni Exeter ist gerade gestern ein Kongress über William Golding zu Ende gegangen. Vor zwei Jahren rief man zu diesem Kongress auf und offerierte die folgenden Themen: Lord of the Flies and its afterlives - Golding and women - Golding among his contemporaries - The rational and the religious - Golding and the state of the nation - Golding's non-fictional writings - Childhood and innocence - Golding and war - Golding's narrative techniques - Golding and travel - Golding's influence/influences on Golding. Es ist wohl kein Zufall, dass Lord of the Flies an der Spitze dieser Themenliste steht, es ist das meistgelesene Buch des Literaturnobelpreisträgers Golding. Und es ist natürlich auch kein Zufall, dass es in den letzten drei Tagen diesen Kongress gab, es ist der hundertste Geburtstag von William Golding.

Das hätte mich sicher unverhofft getroffen, hätte mir nicht ein Freund vor Wochen eine Mail geschickt, in der get ready for William Golding stand. Das war mir nun ein klein wenig peinlich, weil ich kurz vorher in einer Aufräumaktion (manchmal packt es einen ja) den ganzen William Golding aus dem Regal genommen hatte. Und die Paperbacks von Faber&Faber zu meinem Antiquar getragen hatte, Free Fall, Pincher Martin, The Spire, Rites of Passage und wie die Romane so heißen. Lord of the Flies habe ich natürlich behalten, aber mit den anderen konnte ich ehrlich gesagt nie etwas anfangen. Ich weiß natürlich, was mich an Golding stört. Dunkelheit, Allegorie hermetische Sprache und schwer tapsende Symbolik im Roman sind nie meine Sache gewesen.

In der gleichen Zeit, in der Golding zu schreiben beginnt, schreibt Colin McInnes seine London Romane City of SpadesAbsolute BeginnersMr. Love and Justice. Da pulst das Leben in Notting Hill. Von Jazz, Rock'n Roll, von italienischen Vespas und italienischen Anzügen ist die Rede, diese ganze Mod Subkultur ist gerade im Entstehen. Solche Romane kann ich verstehen, die haben etwas mit dem wirklichen Leben und dem wirklichen England zu tun. Und in der gleichen Zeit fangen die Angry Young Men an zu schreiben, die konnte ich auch alle verstehen, ihre Romane begleiteten mein Leben. Aber diese immer dunkler und symbolischer werdenden Romane von Golding ließen mich als Leser draußen vor. Das sind so die Augenblicke, in denen man auf Platt Geih mi aff sagt. Angus Ross sagt das im letzten Satz seines Artikels im Penguin Companion to English Literature etwas vornehmer: The honesty of Golding's head-on attempts to grapple with his intractable ideas command respect and admiration. Der amerikanische Dichter Kenneth Rexroth tat den Roman Lord of the Flies in seinem Artikel William Golding: Unoriginal Sin im Atlantic (1965) als thesis novel ab und beklagte, dass die Romanfiguren never come alive as real boys. Ich will ihm da nicht widersprechen.

Ich hatte nach meiner kleinen Aufräumaktion auch keine Schuldgefühle, habe nicht schlecht geschlafen, ich vermisste nichts. Na ja, solange bis ich die Mail mit dem get ready for William Golding bekam. Wenn ich jetzt den ultimativen Artikel zu Golding schreiben wollte, dann wäre es schon schön, seine Bücher neben mir zu haben. Aber das will ich gar nicht tun. Ich war damals sehr überrascht - die meisten englischen Literaturkritiker auch - als Golding den Literaturnobelpreis bekam, weil man nach den ersten extrem kreativen zehn Jahren seiner schriftstellerischen Tätigkeit ja kaum noch etwas von ihm hörte. Aber es ist wohl müßig, über den Literaturnobelpreis zu reden, ich nehme an, die haben da in Schweden so einen Zufallsgenerator für Schriftsteller. Golding bekam ihn übrigens für seine Romane und Erzählungen, in denen sich das Phantastische und das Realistische in einer vielfacettierten Welt der Dichtung vereinen, die Leben und Konflikt eines Kontinents widerspiegeln. Also, dieser Satz passt auf eine ganze Menge Schriftsteller. Ich nehme an, dass die in Schweden auch einen Zufallsgenerator für diese Worthülsen haben. Für die künstlerische Kraft und tiefe Selbständigkeit, womit er in seiner Dichtung die Antwort auf die ewigen Fragen des Menschen sucht, hätte auch gepasst, aber den Konfirmationsspruch hatte schon Pär Lagerkvist bekommen.

Lord of the Flies war (im Gegensatz zu Lord of the Rings) in den ersten Jahren kein Erfolg. Aber dann kam er auf den Stundenplan englischer Schulen, später auch in den Englischunterricht deutscher Gymnasien. Und ich habe mir x-mal in Prüfungen anhören müssen, dass der Roman eine Antwort auf Ballantynes Coral Island ist. Und was die Sekundärliteratur dazu sagt. Die Sekundärliteratur sagt sehr viel dazu. Prüfungen bestehen ja zum größten Teil aus dem Aufsagen von Sekundärliteratur. Manchmal hätte ich mir mal schräge und abgefahrene eigene Meinungen gewünscht. Aber die wunderbare Anekdote, in der ein Oxford Professor zu einem Studenten surprise me! sagt und sich dann der Lektüre der Times widmet, ist wahrscheinlich eine Erfindung. Der Student guckt sich den zeitunglesenden Professor eine Minute lang an, zieht ein Feuerzeug aus der Tasche und zündet die Times an. Und dabei fällt mir ein, dass William Golding überhaupt keinen Humor hat. Und abgrundtief böse Schulkinder gab es in der populären Kultur schon vor Lord of the Flies, der erste St Trinian's Cartoon von Ronald Searle stammt aus dem Jahre 1942. Da möchten wir ja lieber nicht wissen, was passiert wäre, wenn eine Klasse dieser Schule auf der Insel gelandet wäre, the horror! the horror!

Kleine Public School Jungens, die plötzlich aus der Rolle der braven Schüler von The Coral Island oder Tom Brown's Schooldays fallen und so böse werden wie Mr Kurtz in Conrad's Heart of Darkness, sind die eine Sache. Daraus eine Parabel über Unschuld und Barbarei und das Böse an sich zu machen, meinetwegen. Je allgemeiner man bei solcher Art Literatur wird, desto größer die Deutungsmöglichkeiten. Wenn Golding mit seiner Robinsonade gegen Coral Island (das im Text erwähnt wird) Stellung bezieht, dann ist dies ein Roman über einen anderen Roman. Alles, was Golding schreibt, ist Literatur über Literatur, thesis novels, inkohärente philosophische Exkurse als Roman verkauft.

Aber das wirkliche Leben war nie wie Ballantynes Coral Island. Viele Autobiographien von Engländern, die auf einer Public School waren, sind voll von Erlebnissen, die in der Schilderung von kindlicher Brutalität und Bosheit nicht hinter Lord of the Flies zurückstehen. Wahrscheinlich schickt die englische Upper Class ihre Kinder deshalb auf die Public School. Weil sie wissen, dass im englischen Establishment nicht die Tom Browns, sondern die bösen und verlogenen Harry Flashmans gebraucht werden. Kinder sind nicht einfach gut oder böse, dafür brauchen wir Goldings Roman nicht. Als Kenneth Rexroth im Atlantic seinen Verriss von Goldings Roman schreibt, ist seine Tochter noch ein netter Teenie von fünfzehn Jahren. Fünf Jahre später spielt sie in hardcore Pornofilmen mit. Soviel zum Thema Unschuld und Anarchie. Vor Jahrzehnten las ich in einer englischen Zeitung, dass als Lindsay Andersons Film If in England in die Kinos kam, Schüler en masse in die Kinos strömten. Und hinterher mit standing ovations applaudierten. Das waren die gleichen Schüler, schrieb der Journalist, die vormittags in der Schule Lord of the Flies lesen mussten.

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