Freitag, 9. Dezember 2011

Berenice Abbott


Sie hat den Photographen Eugène Atget noch kennengelernt, der amerikanische Photograph Man Ray (dessen Assistentin sie war) hatte sie miteinander bekannt gemacht. Sie hat ihn auch kurz vor seinem Tod noch photographiert. Nach seinem Tod hat sie seinen photographischen Nachlass gekauft, all das, was noch nicht an die Museen gegangen war. Den Balzac der Kamera hat man Eugène Atget genannt, und seine Sicht von Paris ist prägend für die Photographie von Berenice Abbott geworden.

In den zwanziger Jahren scheint die ganze amerikanische Intelligenz in Paris zu sein. Hemingway, Fitzgerald, Faulkner, Dos Passos, Ezra Pound, Malcolm Cowley, Henry Miller. Und Sylvia Beach, die James Joyce verlegt. Die intellektuelle Szene wird weniger von den Männern als von den Frauen geprägt. Ein Buchtitel wie Paris was a Woman hat schon seine Berechtigung, und Janet Flanners Paris Was Yesterday 1925 - 1939 ist für die Pariser Szene der Left Bank sicher ebenso wichtig wie Hemingways A Moveable Feast.

Das Zentrum der amerikanischen expatriates (die eigentlich eher Devisenflüchtlinge als expatriates sind) ist der Salon von Gertrude Stein in der Rue de Fleurus Nummer 27. Und Gertrude Stein hat auch dieses schöne Schlagwort von der Lost Generation geprägt. Zu der man auch Berenice Abbott (oben. Photo von Man Ray) zählt. Es war ursprünglich anders gemeint. Als Beschimpfung für einen unfähigen Mechaniker, der Gertrude Stein Auto nicht reparieren konnte. You are all a generation perdu hatte der Besitzer der Werkstatt zu dem Mechaniker gesagt. Und als sie die Geschichte Ernest Hemingway erzählte, hat sie hinzugefügt: That is what you are. That's what you all are... All of you young people who served in the war. You are a lost generation. Und das mit der lost generation hat Hemingway flugs in seinen nächsten Roman als Motto hineingeschreibenSo entstehen literarische Schlagworte.

In dieser Szene blüht die junge Amerikanerin Bernice Abbott aus Springfield (Ohio) auf. Sie ändert als erstes ihren Namen in das französische Berenice. Und sie wird photographieren wie ihr großes Vorbild Eugène Atget, wenn sie wieder in den Vereinigten Staaten ist. New York, wohin sie vor ihrem Parisaufenthalt gezogen war, wird das Objekt für ihre Kamera. Eine große, sperrige Kamera, die kleine Leica ist nichts für sie. Sie photographiert mit einer ➱Century Universal 8 x 10. Die natürlich für Architekturaufnahmen von Vorteil ist, man kann die ➱stürzenden Linien vermeiden (was Abbott nicht immer tut). Bei einer Kleinbildkamera brauchte man dazu ein tilt&shift Objektiv, so etwas hat Leica nicht im Programm.

Das New York der dreißiger Jahre ist ein anderes New York als das New York von heute. An manchen Stellen scheinen sich die Photographien von Abbott kaum von denen des Dänen Jacob Riis zu unterscheiden, dessen photographische Bestandsaufnahme von New York ein halbes Jahrhundert älter ist. Der aber ebenso wie Abbott die Photographie als eine soziologische Bestandsaufnahme verstand. Diese Hütten von Arbeitslosen aus den dreißiger Jahren zeigen, dass sich in Amerika nicht so viel seit dem 19. Jahrhundert geändert hat, als die Einwanderer in die Slums verbannt wurden. Der Buchtitel von Jacob Riis ➱How the Other Half Lives hat hier immer noch seine Bedeutung.

Das New York, das Berenice Abbott photographiert, ist ein New York im Umbruch, Changing New York heißt ihr Photobuch von 1939 (auf diesen ➱Seiten können Sie alle Photos sehen). Hier werden alle Facetten des Molochs Großstadt gezeigt, die moderne Skyline ebenso wie kleine Hauseingänge aus dem 19. Jahrhundert, moderne Busbahnhöfe ebenso wie Wäscheleinen im Hinterhof.

Berenice Abbott, eine der bedeutendsten amerikanischen Photographinnen, ist heute vor zwanzig Jahren gestorben. Ihre New York Photos sind in Buchform immer noch zu finden. Lohnt den Kauf unbedingt. Seit Ende der neunziger Jahre hat der amerikanische Photograph ➱Douglas Levere Bilder von New York an den gleichen Stelle gemacht (auch mit einer Century Universal 8 x10), an denen Berenice Abbott photographiert hatte. Das ist nicht uninteressant, aber viel schöner ist der großformatige Photoband 1000 New York Buildings von Jörg Brockmann (DuMont 2002). Den kann man antiquarisch noch finden, und dieses Buch wäre heute mein Geheimtipp für New York Freunde.

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