Donnerstag, 31. März 2011

Philosophenwitze


Der Philosoph René Descartes wurde heute vor 415 Jahren geboren. Das gibt mir Gelegenheit, einen sehr alten Philosophenwitz zu erzählen: Steht Descartes an der Bar. Fragt ihn der Barkeeper: "Noch ein Bier? "Descartes: "Ich denke nicht." Plopp! und weg ist er. Soviel zum Thema cogito ergo sum. Ich weiß, der Witz über den Satz cogito ergo sum ist blöd, aber ich finde ihn immer wieder komisch. Und man sollte auch einmal die komische Seite der Philosophie und der Philosophen betrachten. Ich lasse den deutschen Philosphen, der Pferde knutschte, jetzt mal aus. Obgleich Nietzsche dem Komischen in der Philosophie ja immerhin einen Stellenwert einräumt, während die ansonsten ja eher ein wenig humorfeindlich ist. Aber, wie Odo Marquard es einmal formulierte, die Philosophie tut auch gut daran, dass sie von Zeit zu Zeit ihr Grab wechselt. Ja, witzig ist der Transzendentral-Belletristiker Marquard schon, das muss ihm der Neid lassen.

Andere Gegenwartsphilosophen sind dagegen völlig humorfrei. Hermann Schmitz (der neuerdings Konjunktur hat) zum Beispiel, der nicht mit Hermann Harry Schmitz verwechselt werden sollte. Andererseits sind solche Denker in ihren Schriften natürlich sehr häufig unfreiwillig komisch. Oder in ihrem Leben. Hermann Schmitz hatte immer volle Vorlesungen, die von allen, aber kaum von Philosophiestudenten besucht wurden. Er war eben ungewollt sehr komisch. Oder wie ein Student in der Mensa zu einem anderen sagte: Komm wir gehen zu Hermann Schmitz, iss besser als Tom und Jerry. Ist das nicht das Schönste, was man über einen akademischen Lehrer sagen kann?

Wenn Hermann Schmitz den philosophischen Satz Hermann Schmitz ist traurig illustrieren wollte, dann war er 15 Minuten lang traurig und schwieg traurig an seinem Pult. Weil man die Philosophie auch leben muss. Ich glaube die Studenten haben nie begriffen, dass hier jemand öffentlich traurig war, der den gesamten Andy Kaufman und alle Performance Künstler vorwegnahm. Aber nicht jedem Philosophen ist das gegeben, die meisten schreiben nur. Und sind in dem, was sie schreiben, häufig schwer zu verstehen. Man braucht andere Philosophen, die einem erklären, was ihr Kollege geschrieben und gedacht hat. Das ist das Elend der Philosophie. Odo Marquard hat es auf den Punkt gebracht, als er sagte: Philosophen etwa, die nur für Philosophen philosophieren, und davon gibt es viele, handeln ebenso unsinnig wie Sockenhersteller es täten, die Socken nur für Sockenhersteller herstellten.

Philosophen werden wie Descartes von berühmten Malern gemalt, in Bronze gegossen oder in Stein gemeisselt. Aber sie sind nicht immer nur Bilder oder Statuen gewesen, sie waren auch einmal wirkliche Menschen. Mit großen Gedanken und kleinen Fehlern. Es trägt wahrscheinlich nicht zum Verständnis von Wittgensteins Werk bei, wenn man weiß, dass er so hochneurotisch war, dass er sofort nach einer Vorlesung ins Kino raste, sich in die erste Reihe setzte und Western guckte. Aber es macht ihn menschlich. Und Klatsch und Tratsch sind ja immer schön.

Der deutsche Philosoph Wilhelm Weischedel hat mit seinem Buch Die philosophische Hintertreppe (1966) vielen Lesern einen ungewöhnlichen Zugang, eben über die Hintertreppe ins Private, zu vierunddreißig Philosophen verschafft. Der Spiegel schrieb damals dazu: Weischedel machte die überraschende Entdeckung, daß der Weg zum Verständnis großer Philosophen einfacher und direkter über die Hintertreppe durch Küche und Schlafzimmer führt als durch dickleibige Folianten oder über gescheite Interpretationen ihrer Werke. Besser kann man das Buch eigentlich nicht beschreiben.

Manche Philosophen sind völlig weltfremd, das erwartet man ja auch von ihnen. Andere stehen im wirklichen Leben. Gaston Bachelard war Briefträger gewesen, Soldat im Ersten Weltkrieg. Er wurde in einem Alter Professor, in dem andere in Frühpension gehen. Aber er war der einzige Philosophieprofessor, der einen Brief in die Hand nehmen und das genaue Gewicht ohne Briefwaage bestimmen konnte. Und auch unser René Descartes hat nicht immer die strenge bürgerliche Kleidung getragen, in der Frans Hals ihn gemalt hat. Bevor er Philosoph wurde, diente der Adlige als Seigneur de Perron dem Fürsten Maurits von Oranien (nach dem das Mauritshuis und die Insel Mauritius heißen) als Offizier. Da trug er natürlich ganz andere Kleidung. Einer seiner Biographen sagte über ihn, dass er eine Qualität besaß, die umso höher einzuschätzen ist, als sie sich bei einem Philosophen selten findet: er war außerordentlich sauber. Philosophen sind ja sonst eher schmuddelig, in der Antike tragen sie ein härenes Mäntelchen, später einen Schlafrock. Sartre soll sich selten gewaschen haben. Ja, Descartes fällt schon aus der Rolle.

Er fällt auch deshalb aus der Rolle, weil er ein Philosoph ist, dessen Denken weiterwirkt. Das kommt ja heute bei vom Staat in der W-Besoldung alimentierten Philosophen nicht so häufig vor. Das ist auch eine neue Entwicklung, dass heute nur noch diejenigen Philosophen sind, die an einer Uni eine Planstelle haben. Also, jetzt mal die Philosophen ausgenommen, die an einer Theke in einer Kneipe herumhängen oder Taxi fahren. Obgleich es da allerdings welche mit abgeschlossenem Philosophiestudium gibt. Und dann gibt es natürlich auch Leute, die immer auf dem Bildschirm auftauchen und immer als Philosophen bezeichnet werden. Wie Thea Dorn oder Christian Lindner. Letzterer bekommt immer das epitheton ornans Philosoph, weil er im Studiengang Magister Nebenfach Philosophie studiert hat. Ich weiß nicht, wie ich auf diese beiden "Philosophen" gekommen bin, wahrscheinlich deshalb, weil sie unfreiwillig komisch sind.

Auch im Fernsehen und auch als Philosoph bezeichnet (auf jeden Fall von Wikipedia) ist Rüdiger Safranski. Auf den lasse ich nun kein böses Wort kommen, aber eigentlich ist er eher ein brillanter Literatur- und Kulturhistoriker und weniger ein Philosoph. Ich will auch nicht den ganzen Berufsstand klein reden, wir haben durchaus hervorragende Leute wie Odo Marquard, ➱Karl-Otto Apel, Manfred Frank oder ➱Kurt Flasch. Aber wir haben auch ganz viele Beamtenseelen, die jeden Morgen an ihrem Schreibtisch ihre geistigen Ärmelschoner anlegen. Wenn sie überhaupt in der Uni erscheinen und nicht als ➱Spagatprofessor hunderte von Kilometern von ihrem Arbeitsplatz entfernt mit einer ➱Jogginghose bekleidet auf ihrer Corbusier Liege liegen.

Diese Philosophen fördern die Liebe zur Weisheit nun gar nicht. Und deshalb wäre mein Gegenmittel, dass Witz und Geist in das Fach zurückkehren, in dem von den neuen BaMa Studienordnungen alles verschult und bürokratisch überreglementiert ist. Deshalb sollte man Wilhelm Weischedels Die philosophische Hintertreppe lesen. Und Frédéric Pagès' Frühstück bei Sokrates: Philosophie als Lebenskunst. Und sich dann eins der letzten Exemplare von Lutz Geldsetzers unbezahlbarem Buch Die Philosophenwelt: In Versen Vorgestellt sichern (Reclam, hört mir zu! Legt das bloß wieder auf!). Das ersetzt einem mit einem Lehrgedicht auf 200 Seiten ein ganzes Philosophiestudium:

Bekanntlich war's in Griechenland,
wo man die Philosophie erfand,
zumindest die uns wohlbekannte,
die herrschend blieb im Abendlande...

heißt es im Prolog. So beginnt diese atemraubende Philosophiegeschichte, die besser zu lesen ist als Vorländer, Hirschberger oder Störig.

Der Verfasser stellt dem Buch ein lateinisches Motto voran: quod risum movet, et quod prudenti vitam consilio monet. Er hat dabei den Satzteil Duplex libelli dos est unterschlagen, der bei Phaedrus vor diesem Zitat steht. Macht aber nix, wir alle haben erkannt, dass es uns Vergnügen bereiten bereiten soll, uns belehren zu lassen. Ist nicht viel anderes als das Aut prodesse volunt aut delectare poetae aut simul et iucunda et idonea dicere vitae von Horaz. risum, da ist es wieder, das Lachen, ohne das geht es nicht. Das sagten sich auch zwei Amerikaner, die in Harvard Philosophie studiert hatten. Und schrieben Plato and Platypus walk into a Bar..., in dem die wesentlichen Elemente der Philosophie an Hand von Witzen erläutert werden. New York Times Bestseller, und das zu Recht. Das Buch von Thomas Cathcart und Daniel Klein ist inzwischen auch schon in deutscher Übersetzung erhältlich.

Und noch ein Rat an alle Schankwirte, Barkeeper und Kellner: wenn René Descartes in Ihr Lokal kommt, stellen Sie ihm möglichst keine Fragen, die er mit Ich denke nicht beantworten kann. Dann kann er auch nicht die Zeche prellen.

Lesen Sie auch: Karl-Otto Apel, Albert Camus, Roland Barthes, Carl SchmittGabriel Marcel, Hegel, Heidegger, Karl Popper, Augustinus, Kierkegaard, Thomas HobbesDavid Hume, John LockeImmanuel Kant, Michel de Montaigne, Gaston Bachelard

Mittwoch, 30. März 2011

Wilder Westen


Am Sonntag gab es auf 3sat einen Thementag Der Wilde Westen. Von morgens um 5.05 bis in den nächsten Morgen gab es Western satt. ➱Der Teufelshauptmann wurde auch gezeigt. Ich habe nicht den ganzen Tag vor dem Fernseher gesessen, mir war nicht so nach Western. Der Showdown fand ja auch in der Politik statt. Aber ich habe mal in Pat Garrett jagt Billy the Kid hineingeschaut und prompt die Szene erwischt, in der Bob Dylan auftaucht. Der hat ja auch die Musik zu dem Film geschrieben. Ich hätte wohl noch Peter Fondas Der weite Ritt gesehen, wenn es nicht so spät gewesen wäre.

Ich hatte den Thementag schon beinahe vergessen, als ich am Montagnachmittag die nette Frau R. traf. Die mir erzählte, dass sie am Sonntag zum ersten Mal in ihrem Leben einen Western gesehen hätte. Und dann den nicht zu übertreffenden Satz formulierte: Jetzt habe ich eins verstanden, Western sind für Männer das, was Rosamunde Pilcher Romane für uns Frauen ist.

Warum komme ich nicht auf so etwas? Gut, dass John Wayne das jetzt nicht lesen muss.

Dienstag, 29. März 2011

Cormac McCarthy


Es hat lange gedauert, bis er wirklich bekannt wurde. Genau genommen bis 1992, als All the Pretty Horses erschien. Das Buch wurde ein Bestseller und erhielt den National Book Award und den National Books Critics Circle Award. Das hatte McCarthy, der seit 1965 Romane schrieb, noch nicht erlebt. Kaum jemand hatte seine Romane gelesen. Außer manchen Kritikern, die schon früh sein Talent erkannt hatten. Sein Lektor Albert Erskine bei Random House, der 1965 das Manuskript von The Orchard Keeper akzeptiert hatte, hat den Erfolg noch erleben können. Er starb 1993 im Alter von 81 Jahren. Erskine, der einmal mit Carson McCullers verheiratet war, ist sicherlich eine Ausnahmepersönlichkeit in der amerikanischen Literaturszene gewesen.

Er war der letzte Lektor von William Faulkner. Faulkner vertraute ihm blind. Aber Erskine hat auch Ralph Ellisons Invisible Man zum Ruhm verholfen, Malcolm Lowrys Under the Volcano in der Entstehung begleitet und Eudora Welty gefördert. Und als er den kurzen Brief von Cormac McCarthy liest, der seinen Romanerstling begleitet - The enclosed is a notion I'd been toying with off and on for a year or so. ... If you don't like it please say so, and if you have no opinion one way or the other say that and if you think it won't hurt anything say that - zögert er nicht lange. Außer Erskine haben damals nicht so viele Leute an McCarthy geglaubt.

All the Pretty Horses (Teil der Border Trilogy) ist sicherlich der für den Leser am leichtesten zugängliche Roman des Autors. Obgleich auch dieser Roman dem Leser einiges abverlangt. Although the night was cool the double doors of the grange stood open and the man selling the tickets was seated in a chair on a raised wooden platform just within the doors so that he must lean down to each in a gesture akin to benevolence and take their coins and hand them down their tickets or pass upon the ticketstubs of those who were only returning from outside. The old adobe hall was buttressed along its outer walls with piers not all of which had been a part of its design and there were no windows and the walls were swagged and cracked. A string of electric bulbs ran the length of the hall at either side and the bulbs were covered with paper bags that had been painted and the brushstrokes showed through in the light and the reds and greens and blues were all muted and much of a piece. The floor was swept but there were pockets of seeds underfoot and drifts of straw and at the far end of the hall a small orchestra labored on a stage of grainpallets under a bandshell rigged from sheeting. Along the foot of the stage were lights set in fruitcans among colored crepe that smoldered throughout the night. The mouths of the cans were lensed with tinted cellophane and they cast upon the sheeting a shadowplay in the lights and smoke of antic demon players and a pair of goathawks arced chittering through the partial darkness overhead.

Entdecken Sie irgendwo ein Komma? Bis auf Punkte (und Fragezeichen, die am Ende von Fragesätzen in der wörtlichen Rede stehen) kommen bei McCarthy keine Satzzeichen vor. An- und Abführungszeichen bei der wörtlichen Rede fehlen. Wenn Mexikaner reden, sprechen sie Spanisch. Vierundzwanzig Mal das Wort and, das Stilmittel des Polysyndeton wird sozusagen zum Markenzeichen. Wie in der Bibel. Und bei Ernest Hemingway. Und doch, so karg der Stil scheint, so wortgewaltig sind die Romane. Wenn man sich auf Cormac McCarthy einlässt, reißt es einen mit. Man hat ihn mit Faulkner verglichen, mit Hemingway, mit Herman Melville. Vielleicht ist es von allem etwas.

Die größte Rolle in McCarthys Romanen spielt die Landschaft, selten seit Thomas Hardy oder Paul Bowles The Sheltering Sky hat ein Roman so von der Landschaft gelebt. Mit elementarer Wucht positioniert der Erzähler seine Romanfiguren vor einer extensiv und hoch poetisch beschriebenen Landschaftskulisse. Die häufig eine symbolische Erweiterung der Gefühle, Gedanken und Sehnsüchte der ansonsten lapidar wortkargen Helden ist. All the Pretty Horses ist eine Initiationsreise, eine Romanform, die die amerikanische Literatur von Huckleberry Finn bis zu The Catcher in the Rye ja so liebt. John Grady Cole, der sechzehnjährige Held des Romans, ist nur unwesentlich älter als Huck Finn. Aber er ist erwachsener, irgendwie ist er auch ein kleiner John Wayne, der weiß, dass ein Mann tun muss, was ein Mann tun muss. Ja, und irgendwie ist das auch ein Spätwestern, voller Stereotypen der Westernliteratur. Der Held reitet am Ende in den Sonnenuntergang, passed and paled into the darkening land, the world to come.

Die Kritiker, die von postmoderner Blut- und Bodenliteratur geredet haben, liegen vielleicht auch nicht so ganz falsch. Aber der amerikanische Westen wurde nun einmal mit Blut und Gewalt erobert (und Blut und Gewalt bestimmen auch heute noch den American Way of Life); da ist der Roman Blood Meridian - den Leser und Kritiker erst nach dem Erfolg von All the Pretty Horses entdeckten - so schrecklich und blutrünstig er ist, sicher keine Übertreibung. So pessimistisch McCarthy in Blood Meridian ist, vielleicht ist dies die realistischste Repräsentation von Amerikas Gründungsmythos Winning of the West.

Ich schreibe heute über Cormac McCarthy, weil es gestern im ZDF die Verfilmung von No Country for Old Men gab. Wurde als schräger Thriller von den legendären Coen Brüdern angekündigt. Der Name McCarthy wurde nicht erwähnt, ist auch besser so. Der Film ist ein typischer Coen Film, so etwas ähnliches wie Fargo, nur ohne Schnee. No Country for Old Men ist der schwächste aller Romane von McCarthy, wahrscheinlich kann man ihn deshalb so leicht verfilmen. Ansonsten kann man McCarthy nicht verfilmen, das kann man nur lesen. Weil man sich dann nicht mehr dem Sog der manchmal dunklen und rätselhaften Sprache von Cormac McCarthy entziehen kann. Der Roman No Country for Old Men wirkt so, als hätte McCarthy die Handlung bei Elmore Leonard oder Jim Thompson geklaut. Brauchte er dringend Geld? Sinister high hokum hat ein Kritiker geschrieben. Und das ist ja noch nett. Denn mit dieser bescheuerten Handlung funktioniert auch das McCarthysche Sprachkunstwerk nicht. Wenn Cornell Woolrich, Elmore Leonard oder Jim Thompson so etwas schreiben, dann stimmt der Inhalt mit der Form überein. Man braucht den Roman wirklich nicht zu lesen.

Doch All  the Pretty Horses sollte man lesen, The Crossing auch. Den dritten Band der Border Trilogy, Cities of the Plain, kann man sich schenken. Ich hatte ihn damals sehnsüchtig erwartet und war enttäuscht. Aber dann sollte man unbedingt Blood Meridian, or the Evening Redness in the West lesen. Besser war McCarthy nie. Ich glaube, er weiß das auch, dass man die Art wie er schreibt nicht beliebig strapazieren kann. Mit The Road sollte Schluss gewesen sein. Das reicht eigentlich auch.

Je mehr man von McCarthy liest, desto leichter versteht man ihn. Da geht es dem Leser wie bei der Faulkner Lektüre. Wenn man lange genug im Text mitschwimmt, lernt man schwimmen. Ich habe vor vielen Jahren an der Uni ein Seminar über McCarthy gemacht, damals kannte ihn kaum jemand. Und es gab keine Sekundärliteratur, die einem beim Verstehen der Texte behilflich war (das hat sich inzwischen geändert), lediglich die Homepage der McCarthy Society war im Entstehen. Lesen ohne Lesehilfen, das war ein paradiesischer Zustand. Diese ganzen Lesehilfen von Dr. Königs Erläuterungen bis zu den Cliffs Notes und Monarch Notes, und wie sie alle heißen, produzieren doch nur einen unmündigen Leser. Und das wollen wir ja nicht sein. Didaktisch ganz nett gemacht ist aber die Seite der Spark Notes, probieren Sie sie mal aus.

Lesen Sie auch: All the Pretty Horses

Montag, 28. März 2011

Suhrkamp


Peter Suhrkamp wurde heute vor 120 Jahren geboren. Und der Verlag, der seinen Namen trägt, wird in diesem Jahr 60 Jahre alt. Das steht auf der schönen bunten Papiertüte, die Volker mir mit einer Woche Süddeutsche Zeitung gefüllt ins Wohnzimmer gestellt hat. Obgleich Suhrkamp mal einen Weiße Reihe hatte und die Bibliothek Suhrkamp mit dem Design von Willy Fleckhaus eigentlich zuerst auch weiß war, assoziiert man den Verlag eher mit bunten Farben. Allen Farben des Regenbogens. Das war (und ist) die berühmte edition suhrkamp, immer klein geschrieben.

Das Design in den Spektralfarben stammte wieder von Willy Fleckhaus. Wir hatten an der Schule eine junge Kunstlehrerin, von der gemunkelt wurde, sie sei die Assistentin von Willy Fleckhaus beim twen gewesen. Die Zeitschrift fand ich ja damals ganz toll, und für den Anfang der sechziger Jahre war sie das auch. Leider ist der schöne Katalog von Michael Koetzle twen: Revision einer Legende inzwischen auch schon Vergangenheit. Ich war einmal Anfang der sechziger Jahre auf einer Kulturtagung (natürlich weil man dafür schulfrei bekam), wo eine Dame mit Dutt hasserfüllt einen Vortrag über den twen hielt. Das Magazin war für sie der Untergang des Abendlandes. Sie reichte auch zur Abschreckung einige Hefte herum. Die habe ich alle mitgenommen, damit meine Mitschüler nicht in Versuchung gerieten, in den Strudel des Unterganges gezogen zu werden. Unglücklicherweise fand ich später heraus, dass die Vortragende die Tante meiner damaligen Freundin war.

Das Drei-Tage-Seminar fand damals an einem Ort statt, der nur wenige Kilometer von Peter Suhrkamps Geburtsort bei Oldenburg entfernt war. Das kleine Kaff Hatten kenne ich gut. Meine Kaserne war nicht weit davon entfernt, und als Infanterist lernt man ja die Landschaft im 50 Kilometerradius um den Standort herum gut kennen.

Aber der großgewachsene Bauernsohn Peter Suhrkamp ist aus dem Oldenburger Land herausgekommen. Bis in die Hauptstadt Berlin, wo er den renommierten S. Fischer Verlag durch das so genannte Dritte Reich gesteuert hat. Den Verlag, der seinen Namen trägt (und der aus dem Fischer Verlag hervorgegangen ist), hat er zwar gegründet, aber nicht mehr prägen können. Denn alles, was man heute mit Suhrkamp assoziiert, ist nicht Suhrkamp sondern Siegfried Unseld. Also zum Beispiel die Suhrkamp culture, ein Begriff, den George Steiner erfunden hat und den Unseld gerne vermarktet hat. Das äussere Zeichen der Suhrkamp culture waren diese regenbogenfarbigen Bände. Wenn man davon ganz viele im Regal hatte, glaubten Gäste, dass man ein Intellektueller sei. Books do furnish a room.

Der Suhrkamp Verlag ist heute in schwierigen Zeiten, mehr oder weniger öffentlich werden seit Jahren Machtkämpfe inszeniert, die viele Betrachter an Shakespearesche Königsdramen erinnern. Oder an die Götterdämmerung. Der langsame Untergang ist auch schon in Norbert Gstreins Schlüsselroman Die ganze Wahrheit (Hanser Verlag 2010) Teil der Literatur geworden. Die Verlagschefin Ulla Berkéwicz hat dem Autor bisher nicht den Gefallen getan, ihn zu verklagen. Die Bücher von Ursula Schmidt, die sich irgendwann Ulla Berkéwicz nannte, kann man bei Amazon ab einem Cent kaufen. Da kriegt man für einen Euro schon das Gesamtwerk zusammen. Ich weiß nicht, was von Suhrkamp übrig bleiben wird. Ist mir auch egal, ich habe das Gefühl, dass die gute Literatur inzwischen an ganz anderen Stellen verlegt wird. Zum Beispiel beim Ammann oder dem Residenz Verlag, deren Büchern ich in den letzten Jahren schöne Leseerlebnisse verdankt habe. Aber die bunte Tüte mit dem 60 Jahr Suhrkamp Aufdruck, die bewahre ich auf.

In einem Nachruf auf Peter Suhrkamp schrieb Hans Erich Nossack 1959: Seine Persönlichkeit wirkte so stark, daß sich alle nur eingebildeten Unzufriedenheiten und müden Zweifel in Nichts auflösten; man schämte sich in seiner Gegenwart, ihnen überhaupt verfallen zu sein. Das wird man über Frau Berkéwicz wohl niemals sagen. Als die Nazis den hochdekorierten Offizier des Ersten Weltkriegs Peter Suhrkamp 1944 erst ins Gefängnis und dann in ein Konzentrationslager gebracht hatten, wo sie ihn folterten, schrieb sein Lektor Hermann Kasack die kleine Erzählung Das Birkenwäldchen. Sie wurde im zweiten Heft des Jahres 1944 in der Neuen Rundschau veröffentlicht, sodass Suhrkamp die Möglichkeit hatte, sie im Gefängnis zu lesen. Sie sollte ihm Trost spenden und ihm zeigen, dass es draußen noch eine andere Welt gebe. Wenn irgendein Buch ein Werk der inneren Emigration ist, dann ist es Kasacks Birkenwäldchen. Siegfried Unseld hat 1996 zum hundertsten Geburtstag von Kasack Das Birkenwäldchen neu aufgelegt, mit einem schönen Nachwort versehen, das Hermann Kasack und Peter Suhrkamp gleichermaßen würdigte. Das hatte noch Stil. Heute hat man bunte Tüten.

Sonntag, 27. März 2011

Sommerzeit


Summertime, and the living is easy. Nichts davon, vor dem Sommer steht die Sommerzeit. An diesem Unsinn halten wir ja seit 31 Jahren beharrlich fest, obgleich längst bewiesen ist, dass die Umstellung der Zeit für nichts, aber auch gar nichts gut ist. Mit einem gewissen Erstaunen habe ich gehört, dass Rußland von nächsten Jahr bei diesem Unsinn nicht mehr mitmachen will. Bravo! Oder machen die das nur, weil Putin eine solch komplizierte Patek hat, dass er nicht weiß, wie man die Zeit verstellt? Es wäre ja einfacher, wenn er eine Komandirskie tragen würde, da gab es ja auch ein Spezialmodell für den Geheimdienst. Hat er früher bestimmt gehabt, bevor er die Patek Philippe mit dem Ewigen Kalender trug, die soviel kostet, wie er als Ministerpräsident im Jahr verdient.

Obgleich ja gegen eine gute alte Komandirskie nichts zu sagen ist, möglichst noch eine vor dem Zusammenbruch, die noch voll kyrillisch beschriftet ist und noch nicht eins dieser bunten Zifferblätter hat. Manche sammeln die Russenuhren wegen der Zifferblätter. Diese Sammler sind Rolex-Sammlern sehr ähnlich, bei dieser Marke wird der Wert der Uhr ja auch durch die Variante des Zifferblatts bestimmt. Und die überalterte Konstruktion der Rolex Automatikwerke erinnert den Fachmann auch immer wieder an Russenuhren. Das darf man Rolex Fans aber nie sagen. Ich habe solch eine Wostok mit dem Amphibia Gehäuse (200 m wasserdicht) wie auf diesem Bild, allerdings ist bei meiner der Glas besser, und ich habe ihr auch ein sportliches braunes Band spendiert. Ich lasse auf diese Uhr nichts kommen, auch wenn die Verschraubung der Krone wie ein Lämmerschwanz wackelt. Ich habe nach dem Fall der Mauer, als hunderttausende von Russenuhren ins Land kamen, 20 Mark für meine bezahlt. Und das ist sie unbedingt wert.

Alte Russenuhren sind gar nicht so schlecht, weil sie die Nachbauten von Werken enthalten, die Frankreich oder die Schweiz nicht mehr haben wollten. Das schöne Rechteckwerk T-18 von Lip findet sich zum Beispiel als Swjesda in russischen Rechteckuhren wieder, natürlich nicht ganz so schön verarbeitet. Das millionenfach in russischen Taschenuhren verbaute Werk stammt von Cortebert. Rolex Liebhaber müssen jetzt ganz, ganz stark sein: das Rolex Werk in der alten Panerai Taucheruhr, für die Liebhaber viel Geld auf den Tisch legen, ist gar nicht von Rolex. Ist von Cortebert. Ich habe das mal einem jungen Schnösel erzählt, der mit seiner Panerai rumprahlte, dass er das Werk auch in jeder beliebigen Molnija Taschenuhr haben kann. Mannomann, war der sauer. Ich könnte jetzt eine Vielzahl von Schweizer Uhrwerken auflisten, wie den Nachbau des Adolf Schild Weckerwerks 1475 oder die Nachbauten der Chronographenwerke Venus 150 oder Valjoux 7734, aber ich lasse das mal. Die Fachleute wissen es eh, und die meisten Leser interessieren sich nicht für diese Feinheiten.

Aber ein Uhrwerk muss ich doch erwähnen, und das ist der Nachbau des legendären Chronometer Kalibers 135 von der Schweizer Firma Zenith. Das findet sich, leicht umgebaut (22 statt 19 Steine und Zentralsekunde) auch in alten Wolnas oder in der Wostok Precision Class. Hat natürlich nicht die Qualität von Zenith, wenn man sich diese Photos anschaut, kann man die schidderige Verarbeitung gut erkennen. Glücklicherweise hat mir ein Ebay-Händler vor vielen Jahren noch einen Dreierpack dieses Werkes beim Kauf einer Uhr beigelegt, die als hoch wilkommene Ersatzteilspender dienen. All diese mechanischen Werke, die man in Russenuhren findet, sind nicht etwa illegale Kopien. Die Unterlagen für die Werke (und in vielen Fällen die Werkzeuge und Maschinen für den Bau) sind von französischen Firmen wie Lip und Schweizer Firmen gekauft worden, die diese Werke nicht mehr bauten.

Vor der russischen Revolution gab es keine Uhrenproduktion in Rußland. Das war die große Zeit von Schweizer Firmen, die sich auf den russischen Markt spezialisiert hatten wie Tissot, Borel, Matthey-Tissot, Henry Moser und Paul (später: Pawel) Buhré. Nach der Oktoberrevolution ist für diese Firmen erstmal Schluss, und in Moskau versucht man verzweifelt, eine eigene Uhrenproduktion aufzubauen. Dazu wirbt man auch kommunistische Uhrmacher aus Glashütte an. Am 20. Dezember 1927 wird per Dekret die Gründung einer Uhrenfabrik bekanntgegeben, aber mehr als diese Absichtserklärung hat man zuerst nicht. Die Verhandlungen mit kleinen Schweizer Uhrenfirmen zerschlagen sich. Dann kauft man in Amerika zwei Uhrenfirmen, die Dueber Hampton Watch & Co. und die Ansonia Clock Company. sodass man 1930 die ersten fünfzig Taschenuhren herstellen kann. Den weiteren Weg der russischen Uhrenindustrie kann man dieser übersichtlichen Aufstellung entnehmen.

Während ich dies schreibe, trage ich eine Schweizer Uhr, die den russischen Doppeladler auf dem Zifferblatt trägt. Es ist eine Paul Buhré aus dem Jahre 1950. Die Firma von Paul Buhré ist seit 1815 in St. Petersburg. Anton Tschechow wird Uhren von Pawel Buhré in seinen Werken erwähnen. Als das Rußlandgeschäft wegbricht, verlegt die Firma ihre Tätigkeit auf den Schweizer Markt. Sie wird mit ihren Taschenuhren 500 Preise bei den Chronometerprüfungen der Observatorien erhalten (damit kann Rolex nicht konkurrieren, da Rolex keine Taschenuhren gebaut hat) und Uhren sehr hoher Qualität bauen. Meine Paul Buhré hat zwar kein Manufakturwerk mehr, aber ein veredeltes Werk der Fabrique d'Ebauches de Fleurier. Was meinem Uhrmacher ein Wow entlockte, denn er hat die anglierten Schraubenköpfe sofort gesehen. So etwas macht man bei Patek Philippe, muss nicht sein, ist aber ein Qualitätsmerkmal. Und dann steht auf dem Werk noch ganz frech unadjusted. Das schreiben Schweizer Firmen auf die Uhren, die für den Export in die USA bestimmt sind, damit sie sich die teuren Zölle sparen können. Obgleich die Uhren natürlich adjusted, also in mehreren Lagen feingestellt sind. Die Sache fliegt in den fünfziger Jahren auf. Und vor einem Untersuchungsausschuss muss die ganze amerikanische Industrie, die (wie Benrus, Bulova, Gruen, Hamilton und Wittnauer) Werke aus der Schweiz importiert, kleinlaut gestehen, dass sie den Staat seit Jahren belogen und betrogen hat.

Wenn Putin eine teure Patek trägt und Medwedew eine ebenso teure Breguet, dann folgen sie nur einer schönen Tradition der russischen Zaren. 1809 hatte Alexander I. von Abraham Breguet seine erste Uhr gekauft. Und inzwischen sind beinahe alle Firmen, die mit dem Zarenreich gute Geschäfte gemacht haben, wieder in St. Petersburg und Moskau mit eigenen Filialen vertreten. Das ist doch mal eine schöne Konstante in dieser unruhigen Welt. Und jetzt stelle ich meine Buhré mit dem Russischen Doppeladler mal auf die Sommerzeit um. Putin und Medwedew haben das inzwischen wahrscheinlich auch schon hinbekommen.

Samstag, 26. März 2011

Walt Whitman


Als ich las, dass heute der Todestag des amerikanischen Dichters Walt Whitman ist, dachte ich mir, dass ich über ihn schreiben sollte. Aber dann fiel mir ein, dass ich ja schon einmal in diesem ➱Blog etwas über ihn geschrieben habe. Andererseits kann man über Whitman ja gar nicht genug schreiben. Vor einem halben Jahrhundert habe ich mir in unserer örtlichen Buchhandlung die erste Ausgabe von Leaves of Grass bestellt. Ich wurde da etwas seltsam angeschaut, bei der Buch- und Papierhandlung Otto&Sohn bestellte man nicht so häufig ein englisches Buch. Wahrscheinlich war ich der erste. Aber nach Wochen hatte ich meinen Whitman und fing in jugendlichem Überschwang an, den Song of Myself zu übersetzen. Habe ich nach zehn Seiten aufgegeben, es gibt leichtere Texte, die man übersetzen kann als Walt Whitman. Die zehn Seiten, sorgfältig mit meinem grünen Pelikan Füllfederhalter geschrieben, habe ich aber bis heute aufbewahrt. Es war, ohne, dass ich das damals wusste, sehr geschickt von mir, die 1855er Ausgabe von Leaves of Grass von Malcolm Cowley zu bestellen. Denn das sind sozusagen die Ur-Leaves, nur zwölf Gedichte, nur hundert Seiten.

Einige Jahre nach meinen Übersetzungsversuchen erschien bei Rowohlt in der Reihe der Rowohlts Klassiker unter dem Titel Grashalme die Übersetzung von Hans Reisiger, mit einem exzellenten Kommentar von Deutschlands damals berühmtesten Amerikanisten Hans-Joachim Lang. Der hatte für manche Bände der Rowohlts Klassiker Reihe wie zum Beispiel zu Coopers Die Ansiedler an den Quellen des Susquehanna ja hervorragende Nachworte geschrieben. Als ich ihn Jahre später kennenlernte, habe ich ihm das erzählt, wie er mich beeinflusst hat, er hat da nur gelächelt. Eigentlich ist es eine Schande, dass so bedeutende Gelehrte wie er keinen Wikipedia Artikel haben, wo sich heute jeder unbedeutende Jungprofessor seinen eigenen Eintrag schreibt. Immerhin hat ihn die Universität Erlangen-Nürnberg vor Jahren zu seinem 85. Geburtstag ein wenig gewürdigt.

Die Übersetzung von Reisiger war schon alt, sie war zuerst 1922 bei Fischer erschienen, und Dr. Reisiger hatte seinem Freund Thomas Mann gleich ein Exemplar geschickt. Den hat die Whitman Lektüre sehr beeindruckt. Inzwischen besitze ich die Originalausgabe von 1922 auch, ich habe sie einmal preiswert in einem Antiquariat gefunden. Man kann sie übrigens heute noch antiquarisch finden, und die Zeit hat dem Inhalt der beiden Bänden wenig anhaben können. Ein Gedicht ist mir immer rätselhaft geblieben. Es heißt Cavalry Crossing a Ford und es findet sich 1865 in der Sammlung Drum-Taps, zwei Jahre später hat es Whitman in die von ihm bis zu seinem Lebensende immer wieder erweiterte Ausgabe von Leaves of Grass aufgenommen.

A line in long array where they wind betwixt green islands,
They take a serpentine course, their arms flash in the sun--hark to
the musical clank,
Behold the silvery river, in it the splashing horses loitering stop
to drink,
Behold the brown-faced men, each group, each person a picture, the
negligent rest on the saddles,
Some emerge on the opposite bank, others are just entering the
ford--while,
Scarlet and blue and snowy white,
The guidon flags flutter gayly in the wind.


The real war will never get into the books ist die Überschrift des letzten Kapitels in Whitmans autobiographischen Specimen Days von 1865, da wird er erst 1876 weiterschreiben. Der ➱Bürgerkrieg wird in der zeitgenössischen amerikanischen Literatur nur zögernd thematisiert, wenn wir einmal Herman Melvilles Shiloh, die Gedichte von Whitman und Miss Ravenel's Conversion from Secession to Loyalty von John William DeForest ausnehmen. Es gibt patriotische Gedichte, und es gibt Lieder, die von beiden Seiten gesungen werden. Das berühmteste (und schmalzigste) ist Lorena, es hat bis heute als Song überlebt. Selbst Johnny Cash hat es gesungen.

Das Gedicht Cavalry Crossing a Ford hat mit dem sentimentalen und dem patriotischen Kitsch nichts gemein, es hat auch mit Whitmans Ode auf Abraham Lincoln When Lilacs Last in the Dooryard Bloom'd nichts gemein. Man würde, wenn man es nicht wüsste, nicht glauben, dass die beiden Gedichte im gleichen Jahr vom gleichen Dichter geschrieben sind. Cavalry Crossing a Ford ist wie andere Gedichte in Drum-Taps ein sehr kurzes Gedicht. Das ist für Whitman untypisch, es ist ein künstlerisches Experiment, das Whitman leider nicht weiterverfolgt. Er ist in den letzten Jahren des Bürgerkriegs in einer Krise. Seine Gesundheit lässt nach, sein Bruder ist Soldat im Bürgerkrieg, er selbst hat als freiwilliger Krankenpfleger in den Lazaretten die Schrecken des Krieges kennengelernt. Und er spürt, dass seine Schaffenskraft nachlässt. In einem Brief an den Verleger Charles W. Eldridge schreibt er 1863: I feel to devote myself more to the work of my life, which is making poems. I must bring out 'Drum-Taps'. I must continually bring out poems - now is the hey day. I shall range along the high plateau of my life & capacity for a few years now & then swiftly descend. Das ist beinahe prophetisch. Neben den "experimentellen" kurzen Gedichten in Drum-Taps wird er nach Lincolns Ermordung noch When Lilacs Last in the Dooryard Bloom'd schreiben, vielleicht sein großartigstes Werk. Aber danach kommt nicht mehr mehr sehr viel Neues, er verwaltetet jetzt nur noch sein Werk. Kurz vor seinem Tod, als er Leaves of Grass (die sogenannte Deathbed Edition) wieder einmal vollendet hat, schreibt er: L. of G. at last complete—after 33 y'rs of hackling at it, all times & moods of my life, fair weather & foul, all parts of the land, and peace & war, young & old.

Flussübergänge gehören damals zum täglichen Brot der Armee, wenn man auf eine Landkarte von Virginia schaut, sieht man Flüsse über Flüsse, die parallel laufen und häufig indianische Namen haben: Potomac, Chickahominy, Rappahannock. Das hier ist der Rappahannock, über den angeblich der kleine George Washington einen Stein geworfen hat. So wie auf diesem Bild sieht es in Whitmans Gedicht natürlich nicht aus. Kein Regen und Schnee, es ist eher eine Sommeridylle. Und man braucht für das Gedicht auch keine Illustrationen, es ist ja selbst ein Bild.

Wir stehen als Betrachter vor diesem Gemälde, das uns Whitman mit Worten malt. Oder wir sind der Kameramann, der einen Film über den Bürgerkrieg dreht. Jeder der Verse des Gedichts ist eine Kameraeinstellung, vom Panoramatischen bis zur Teleobjektiveinstellung, das Ganze ist völlig filmisch gedacht. Das macht das Gedicht so erstaunlich. Und in dieser visuellen Ästhetisierung, diesem gleichsam eingefrorenen Moment ist eigentlich kein Krieg. Nichts von dem Schrecklichen, dessen Ergebnisse Whitman in den riesigen Lazaretten von Washington gesehen hat. Nichts von dem Schrecklichen, von dem ihm die verwundeten Soldaten erzählt haben. Und je länger wir schauen, desto lauter hören wir die gefürchtete Frage des Lehrers Was will uns der Dichter damit sagen?

Ich weiß es nicht. Aber mir fällt einen anderes Wortgemälde ein, das auch mit dem Bürgerkrieg zu tun hat, der Anfang von Stephen Cranes Roman The Red Badge of CourageThe cold passed reluctantly from the earth, and the retiring fogs revealed an army stretched out on the hills, resting. As the landscape changed from brown to green, the army awakened, and began to tremble with eagerness at the noise of rumors. It cast its eyes upon the roads, which were growing from long troughs of liquid mud to proper thoroughfares. A river, amber-tinted in the shadow of its banks, purled at the army's feet; and at night, when the stream had become of a sorrowful blackness, one could see across it the red, eyelike gleam of hostile camp-fires set in the low brows of distant hills.

Das ist nun schon, salopp formuliert, reiner Impressionismus. Noch hat Joseph Conrad seinen berühmten Satz noch nicht gesagt, dass es sein Ziel sei by the power of the written word to make you hear, to make you feel... before all, to make you see. That — and no more, and it is everything. Dieses to make you see beherrscht Whitman in seinem Gedicht. Die bange Frage bleibt, was dann? Vielleicht sind die brown-faced men, each group, each person a picture eine halbe Stunde später tot. Das ist das Beunruhigende an dieser impressionistischen Momentaufnahme. Es ist eine Seite des Kriegs, die andere sieht eher so aus wie in den Strophen aus When Lilacs Last in the Dooryard Bloom'd:

I saw askant the armies;
And I saw, as in noiseless dreams, hundreds of battle-flags;
Borne through the smoke of the battles, and pierc’d with missiles, I saw them,
And carried hither and yon through the smoke, and torn and bloody;
And at last but a few shreds left on the staffs, (and all in silence,)
And the staffs all splinter’d and broken.

I saw battle-corpses, myriads of them,
And the white skeletons of young men—I saw them;
I saw the debris and debris of all the dead soldiers of the war;
But I saw they were not as was thought;
They themselves were fully at rest—they suffer’d not;
The living remain’d and suffer’d—the mother suffer’d,
And the wife and the child, and the musing comrade suffer’d,
And the armies that remain’d suffer’d.


Freitag, 25. März 2011

Romantik


Er erfüllt alle stereotypen Vorstellungen, die wir an den romantischen Dichter haben: jung, genial und ein früher Tod, der das Werk unvollendet lässt. Wir denken an ➱Thomas Chatterton, an ➱John Keats und Percy Bysshe Shelley. Und natürlich an den Freiherrn Georg Friedrich Philipp von Hardenberg, der sich als Schriftsteller Novalis nannte. Klingt romantischer als Fritz, wie ihn seine Familie nannte. Heute vor 210 Jahren ist er gestorben. Sein Werk ist schmal geblieben, der Doppelband mit der Nummer 130/131 in der Reihe der Rowohlts Klassiker im Jahre 1963 enthielt auf zweihundert Seiten das Wichtigste des Werkes. Vieles ist Fragment, und vielleicht sind auch die Fragmente, Epigramme und Aphorismen die Teile des Werkes, die heute noch auf alle Gelegenheiten passen. Jeder kann sich einige Sätze herausnehmen, die für sich große Wahrheiten enthalten. Edgar Allan Poe hat sich für The Mystery of Marie Rogêt bei Novalis bedient. Man hat ihm vorgeworfen, dass Novalis ein Werk namens Moralische Ansichten gar nicht geschrieben hat, aber das ist nicht ganz richtig. Es ist schon von Novalis, allerdings ist der Titel Moralische Ansichten später von Ludwig Tieck hinzugefügt worden.

Das Schreiben in Gesellschaft ist ein interessantes Symptom - das noch eine große Ausbildung der Schriftstellerei ahnden läßt. Man wird vielleicht einmal in Masse schreiben, denken und handeln. Ganze Gemeinden, selbst Nationen werden ein Werk unternehmen: da sind wir Blogger, von Novalis vorausgeahnt. Also gut, das war nicht ganz ernstgemeint, ich wollte nur einmal zeigen, dass man Novalis für alles gebrauchen kann. Er taugt auch vorzüglich für Kalendersprüche, denn vieles, was er sagt, ist von großer Schönheit und ist wahr. So etwas kann man immer leicht vermarkten.

Und so wird es niemanden wundern, in welche Subkulturen Novalis abwandern kann. In der NDT mochte man ihn sehr. Ich habe dieses Kürzel nicht erfunden, es steht für die Neue Deutsche Todeskunst. Und es existierte ja auch einmal eine Krautrock Band, die Novalis hieß. Und natürlich gibt es hunderte von spirituellen Seiten im Netz, auf denen Weisheiten von Fritz Hardenberg zitiert werden. Dass die Hymnen an die Nacht eines Tages bei den Gruftis landen werden, das hat sich Novalis in seinen kühnsten Träumen nicht vorgestellt.

Hermann Hesse war von Novalis begeistert: Beinahe alle Prosadichtungen, die ich geschrieben habe, sind Seelenbiographien, in allen handelt es sich nicht um Geschichten, Verwicklungen und Spannungen, sondern sie sind im Grunde Monologe, in denen eine einzige Person [...] in ihren Beziehungen zur Welt und zum eigenen Ich betrachtet wird. Man nennt diese Dichtungen »Romane«. In Wirklichkeit sind sie keineswegs Romane, so wenig wie ihre großen, mir seit der Jünglingszeit heiligen Vorbilder, etwa der »Heinrich von Ofterdingen« des Novalis oder der »Hyperion« Hölderlins, Romane sind. Und das ist jetzt der Augenblick, wo bei mir alle Warnleuchten angehen, wenn ich etwas wie die großen, mir seit der Jünglingszeit heiligen Vorbilder, etwa der »Heinrich von Ofterdingen« des Novalis oder der »Hyperion« Hölderlins lesen muss. Die amerikanische Subkultur, die sich in den sechziger Jahren total bekifft Hermann Hesse reingezogen hat, hätte sich wohl auch an Novalis berauscht, wenn sie ihn gekannt hätte.

Ich glaube, es ist an der Zeit, Novalis gegen seine Verehrer zu verteidigen. Ich habe das nicht ironisch gemeint, als ich sagte, dass sein Werk viele Sätze von großer Wahrheit und großer Schönheit enthält, die man als Lebensmaximen nehmen kann. Aber das enthält die Bibel auch. Und Goethes Werk auch.

Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
Sind Schlüssel aller Kreaturen
Wenn die so singen, oder küssen,
Mehr als die Tiefgelehrten wissen,
Wenn sich die Welt ins freye Leben
Und in die Welt wird zurück begeben,
Wenn dann sich wieder Licht und Schatten
Zu ächter Klarheit wieder gatten,
Und man in Mährchen und Gedichten
Erkennt die wahren Weltgeschichten,
Dann fliegt vor Einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Wesen fort.

Das wäre schön, wenn wir die wahren Weltgeschichten, das, was die Welt im Innersten zusammen hält, erkennen könnten. Novalis, der selbst durchaus in der Welt stand, Bergbauassessor war und in den Wissenschaften belesen war, offeriert uns mit der von ihm geprägten Romantik eine Flucht aus der Welt der Zahlen und Figuren. Dunkelblaue Felsen mit bunten Adern erhoben sich in einiger Entfernung; das Tageslicht [,] das ihn umgab, war heller und milder als das gewöhnliche, der Himmel war schwarzblau und völlig rein. Was ihn aber mit voller Macht anzog, war eine hohe lichtblaue Blume, die zunächst an der Quelle stand, und ihn mit ihren breiten, glänzenden Blättern berührte. Rund um sie her standen unzählige Blumen von allen Farben, und der köstlichste Geruch erfüllte die Luft. Er sah nichts als die blaue Blume, und betrachtete sie lange mit unnennbarer Zärtlichkeit.

Da ist es, das mächtigste Symbol der deutschen Romantik, die blaue Blume, wie sie im ersten Kapitel des Heinrich von Ofterdingen dem Helden im Traum erscheint. Die ihm eine Art von Lebenskompass wird, aber auch eine Art Gral ist, den es zu suchen gilt. Nicht die Schätze sind es, die ein so unaussprechliches Verlangen in mir geweckt haben", sagte er zu sich selbst; "fernab liegt mir alle Habsucht; aber die blaue Blume sehn' ich mich zu erblicken. Sie liegt mir unaufhörlich im Sinn, und ich kann nichts anderes dichten und denken. Wir suchen die blaue Blume noch immer, weil wir wissen, dass der Satz von Novalis Das Märchen ist gleichsam der Kanon der Poesie wahr ist.

Donnerstag, 24. März 2011

Martin Walser


Ich muss gestehen, ich mag ihn. Er ist so herrlich unangepasst. Legt sich ständig mit den Fuzzies vom Feuilleton an, statt ihnen wie Harold Pinter zu sagen, dass Literaturkritiker wie einbeinige Weitspringer sind. Die es aber immer wieder versuchen. Dass er jemanden wie Reich-Ranicki in einen Roman hineingeschrieben hat, fand ich sehr albern, auch wenn er noch so sehr unter dessen Angriffen gelitten hat, wie man in seinen Tagebüchern nachlesen kann. Warum diesen Mann aufwerten? Ich habe Reich-Ranicki ja an ➱dieser Stelle schon vor einem Jahr beleidigt, und ich stehe dazu. Selbst  wenn mir das manche Leser persönlich sehr übelgenommen haben. You can't win them all. Dass Walser letztens ➱Ernst Jünger (von Basti Schweinsteiger ganz zu schweigen) gut fand, hat mich überrascht. Na ja, er ist eben unberechenbar. Niemals everybody's darling, niemals politically correct. Was der Engländer Jeremy Clarkson für die Welt der Autos ist, ist Dr. Walser für die Welt der Literatur. Und sie haben eben richtig gelesen, Martin Walser hat einen Doktortitel. Er hat sicherlich auch seine Doktorarbeit über Franz Kafka selbst geschrieben, die er bei der Hölderlin Koryphäe Friedrich Beißner 1951 einreichte. Dem hat er auch 1970 seinen Aufsatz Hölderlin zu entsprechen gewidmet.

Als ich, um meine Mutter nicht zu enttäuschen, eine Dissertation schreiben sollte, blieb mir nichts anderes übrig, als über den Autor zu schreiben, der mich während meiner Studentenjahre gehindert hatte, andere Autoren wirklich zu lesen: Franz Kafka. Aber als ich über ihn schreiben wollte, stellte sich heraus, daß ich ihn nicht verstanden hatte. Mit diesem charmanten Geständnis beginnt der sehr lesenswerte kleine Band Des Lesers Selbstverständnis: Ein Bericht und eine Behauptung. Der macht jedem Leser Mut, man kann auch ohne Kafka durchs Leben kommen. Ich hatte einmal eine schwere Kafka Phase, aber ich habe sie schnell überwunden. Sie hat mich nicht gehindert, andere Autoren wirklich zu lesen. Nachdem ich in Hamburg Walter H. Sokels Vorlesung über Kafka, Musil und Broch gehört hatte, habe ich meine schöne Vorlesungsmitschrift sorgfältig weggelegt, das war's. Ich habe später noch Klaus Wagenbach über Kafka gelesen, aber wenn ich eine Top Ten Liste der Literatur aufstellen sollte, Kafka wäre da nicht drauf. Aber so einfach wie ich hat Walser den unseligen Einfluss von Kafka nicht abschütteln können, noch sein erstes Werk Ein Flugzeug über dem Haus und andere Geschichten erinnerte alle Rezensenten an Kafka. Ein Kafka Schüler kämpft sich frei, schrieb Hans Egon Holthusen. Glücklicherweise für mich als Leser hat Walser dann aber irgendwann den Einfluss Kafkas abgestreift.

Martin Walser hat heute Geburtstag, und dies soll natürlich ein Geburtstagsgruss und eine kleine Laudatio werden. Deshalb habe ich einen Blick ins Bücherregal geworfen, wo Martin friedlich und einträchtig neben Robert Walser steht. Er hat ja auch über seinen Namensvetter geschrieben und zum hundertsten Geburtstag von ➱Robert Walser in Zürich eine Rede mit dem Titel Der Unerbittlichkeitsstil gehalten. Das weiß ich, weil ich die Schallplatte habe, die ©Suhrkamp 1978 herausgebracht hat. Die Rede (auch in dem Band Liebeserklärungen abgedruckt) provozierte offensichtlich keinen Skandal. Manche seiner Reden schon. Man überlegt es sich heute zweimal, ob man ihn einlädt, pflegeleicht ist er ja nicht. Ich habe zentimetermäßig mehr Bücher von Martin Walser als von Robert Walser, was wohl daran liegt, dass Martin Walser mehr geschrieben hat. Beängstigend viel. Aber ich muss natürlich auch sagen, wo ich eben den Zollstock aus der Hand gelegt habe, dass man Robert Walser nicht nach Zentimetern messen kann. Martin wahrscheinlich auch nicht.

Robert Walser hat aber definitiv den besseren Wikipedia Artikel. Der Martin Walser Artikel zeichnet sich dadurch aus, dass er so gut wie nichts über den Schriftsteller Walser sagt, aber alles über die öffentliche Person MW. Ja, wir haben schon unsere Schwierigkeiten mit einem Schriftsteller wie Walser. Statt ihn zu lesen und über sein Werk zu reden, stellen wir doch erst einmal solche Verdächtigungen in den Raum wie: DKP, Antisemit, Nazi. Wird die Rezeption eines Schriftstellers heute schon von der Bild Zeitung orchestriert? Die Literaturkritik ist hierzulande ja leider auf keinem hohen Niveau. Das Erstaunliche ist, dass Luschen wie Reich-Ranicki, Karasek und Schirrmacher bei uns für Koryphäen gehalten werden, während kaum jemand einen seriösen Literaturkritiker wie Heinz Ludwig Arnold kennt. Dr. Schirrmacher, der Walser, wie sein Vorgänger bei der FAZ Reich-Ranicki, immer wieder attackiert hat, hat wie Dr. Walser über Kafka promoviert. Allerdings hat sein Doktortitel einen etwas faden Beigeschmack. Die Dissertation war zuerst eine Magisterarbeit und wurde von Frank Schirrmacher in kürzester Zeit - also in der Zeit, in der Stendhal La Chartreuse de Parme geschrieben hat - zur Dissertation umgeschrieben. Und an einer anderen Uni eingereicht. Seriöse Universitäten würden dieses Verfahren nicht akzeptieren.

Ich mag nicht nur viele Romane von Martin Walser (und sein Theaterstück Das Sofa), ich mag auch den Literaturkritiker Martin Walser. Weil er so vernünftig ist. Und Eigenschaften hat, die man sonst eher bei anglo-amerikanischen Kritikern findet: Sachkenntnis, common sense und Humor. Seine kleine Schrift Des Lesers Selbstverständnis (auch in dem Band Zauber und Gegenzauber enthalten) kann ich uneingeschränkt zur Lektüre empfehlen. Ebenso die wunderbare Beschreibung seiner Entdeckung von Hölderlin, die Hölderlin auf dem Dachboden heißt (in dem Suhrkamp Band Erfahrungen und Leseerfahrungen). Auch die drei Seiten über Leslie Fiedler (Mythen, Milch und Mut) sind nicht zu verachten, und ich wäre dankbar gewesen, wenn ich schon vor einem halben Jahrhundert Walsers Leseerfahrungen mit Marcel Proust entdeckt hätte.

Am 24. März 1967, als er vierzig wurde, schrieb Martin Walser in sein Tagebuch: Ich habe für Zahlen so wenig Sinn, daß es mir immer noch nicht gelingt, einen Geburtstag zu begreifen. Also, dottore, in diesem Jahr wollen wir den Geburtstag mal nicht vergessen. Obgleich Walser am Ende eines Robert Walser Aufsatzes einen Satz von Robert Walser stellt, den er sicher für sich beansprucht - Niemand ist berechtigt, sich mir gegenüber so zu benehmen, als kennte er mich - möchte ich ganz kumpelig von Leser zu Autor zum Geburtstag gratulieren. Many happy returns!

Mittwoch, 23. März 2011

Stendhal


Sie fliehen nicht. Gott bewahre! Diesen Franzosen darf man die Wahrheit nicht sagen, wenn sie ihre Eitelkeit verletzt. Das sagt der junge Fabrice del Dongo in Die Kartause von Parma. Er ist Italiener, er darf so etwas über die Franzosen sagen. Aber er bewunderte die Franzosen als sie nach Italien kamen, jetzt ist er als Freiwilliger in Napoleons Armee. Und stolpert in die Schlacht von Waterloo hinein. Die ganz anders aussieht, als der Siebzehnjährige sich das in seinen Träumen vom Ruhm vorgestellt hat.

»Welcher Marschall?« »Der Marschall Ney, du Schafskopf! Wo hast du denn bis jetzt gestanden?« Fabrizzio, sonst so empfindlich, dachte gar nicht daran, sich über die Beleidigung zu ärgern. In kindlicher Bewunderung starrte er den berühmten Fürsten von der Moskwa an, den Tapfersten der Tapferen. Plötzlich ritt alles wieder in starkem Galopp an. Ein paar Augenblicke später bemerkte Fabrizzio zwanzig Schritt vor sich auf einem umgeackerten Stück Feld eine eigentümliche Erscheinung. Der Grund der Ackerfurchen stand voll Wasser, und von der sehr feuchten Erde, die den Kamm der Furchen bildete, spritzten kleine schwarze Stückchen drei bis vier Schritt hoch, Fabrizzio beobachtete diesen sonderbaren Vorgang im Vorbeireiten, dann verloren sich seine Gedanken wieder in Träumereien über den Heldenruhm des Marschalls. Da vernahm er einen gellenden Schrei neben sich. Er kam von zwei Husaren, die, von Geschossen getroffen, stürzten, und als er sich nach ihnen umsah, lagen sie schon zwanzig Schritt hinter den Reitern. Etwas machte ihm einen grausigen Eindruck: Ein blutüberströmtes Pferd wälzte sich auf dem Acker und verwickelte sich mit den Beinen in seine eigenen Gedärme; es wollte den anderen nach. Das Blut rann in den Kot. ›Ah! Jetzt bin ich doch endlich im Feuer!‹ sagte sich Fabrizzio. ›Ich habe meine Feuertaufe erhalten!‹ wiederholte er mit Befriedigung. ›Nun bin ich ein wirklicher Soldat!‹

Als Kind hatte er mit einer alten Familienchronik das Lesen erlernt: Da die Valserras ihr Glück vornehmlich im Waffenhandwerk gemacht hatten, so stellten die Stiche in der Hauptsache Schlachten dar, und auf jedem sah man einen Helden dieses Namens, der mächtige Säbelhiebe austeilte. Das Buch gefiel dem jungen Fabrizzio ungemein. Aus seinen jugendlichen Ruhmesträumen wird nichts werden, er wird nicht der Held von Waterloo. Und dass Napoleon vorbeigeritten ist, hat er auch verpasst. Plötzlich rief der Wachtmeister seinen Leuten zu: »Seht ihr nicht den Kaiser, Kerls?« Unverzüglich brüllte der ganze Stab aus voller Kehle: »Vive l'empereur!« Man kann sich denken, wie unser Held die Augen aufriß, aber er sah nichts als vorbeigaloppierende Generale, denen ebenso ein Stab von Reitern folgte. Die langen, wehenden Roßhaarschweife, die die Dragoner des Gefolges auf ihren Helmen trugen, hinderten ihn, die einzelnen Gestalten zu erkennen. ›So habe ich den Kaiser auf dem Schlachtfeld nicht sehen können wegen dieser verfluchten Schnapstrinkerei!‹ Diese Betrachtung machte ihn wieder gänzlich munter. 

Die Schlacht von Waterloo in den ersten Kapitel des Romans wird uns in Momentaufnahmen dargeboten, immer wieder bekommt der Leser ein kleines Polaroidphoto des Seelenzustandes des jugendlichen Marchese präsentiert: Was Fabrizzio zu bleiben bestimmte, war der Umstand, daß die Husaren, seine neuen Kameraden, zu ihm freundlich waren. Er begann, sich für den Busenfreund all der Soldaten zu halten, mit denen er seit etlichen Stunden umherritt. Er sah zwischen ihnen und sich jene edle Freundschaft der Helden Tassos und Ariosts untereinander. Wenn er sich zum Stabe des Kaisers schlug, mußte er sich neue Kameradschaft erwerben; vielleicht würde man ihn gar scheel ansehen, denn jene Reiter wären lauter Dragoner, während er Husarenuniform trug, wie alle Reiter im Gefolge des Marschalls. Die Art, wie man ihn jetzt ansah, machte unseren Helden überglücklich. Alles auf der Welt hätte er für seine Kameraden getan; seine Seele, sein Geist schwebten in höheren Regionen. Alles kam ihm anders vor, seit er bei Freunden war. Für sein Leben gern hätte er Fragen gestellt. ›Aber ich bin noch ein wenig betrunken‹, sagte er sich. Torquato Tasso und Ludovico Ariost, das Befreite Jerusalem und der Rasende Roland, das sind seine Vorbilder. Es sind auch die Vorbilder des Autors, Ariost formte meinen Charakter, wie er in dem autobiographischen Vie de Henry Brulard schreibt. Aber die Wirklichkeit begreift der junge Fabrice nicht so richtig, ebenso wenig wie das taubstumme Kind, das in Ambrose Bierces Erzählung Chickamauga über das Schlachtfeld irrt.

Die Waterloo Szene des Romans ist am 17. Mai 1839 im Constitutionnel sozusagen als Kostprobe des Romans veröffentlicht worden, am gleichen Tag erschien der Roman. Stendhal hat die Kartause von Parma in knapp zwei Monaten geschrieben, wie in einem Rausch, fünfzehn Stunden am Tag. Und dazu sagt er noch: Während ich die 'Kartause' schrieb, habe ich jeden Morgen, um den Ton zu stimmen, zwei, drei Seiten im Bürgerlichen Gesetzbuch gelesen. Ich wollte immer natürlich sein. Hatte je zuvor ein französischer Schriftsteller gesagt, dass das Stilideal des Französischen der Code Civil ist? Stendhal schickte eins der ersten Exemplare an Balzac, den König der Romandichter unseres Jahrhunderts. Balzac hat im September 1840 in seiner Revue Parisienne einen langen Essay über die Kartause von Parma geschrieben, der einem beinahe die Lektüre des Romans erspart. Wann erzählt schon einmal ein Schriftsteller den Roman eines Kollegen mit seinen Worten nach? Der Balzac Essay ist der neuesten deutschen Übersetzung der Kartause von Elisabeth Edl (Hanser Verlag 2007, dtv 2009) beigegeben, womit das Buch auf die stattliche Länge von beinahe 1.000 Seiten kommt. Meine schöne alte Propyläen Ausgabe von 1921 mit dem roten Lederrücken bringt es nur auf 570 Seiten. Der Roman ist auch in der Hanser Ausgabe nicht länger, aber es gibt einen 340-seitigen Anhang über den sich jeder Philologe freut. Vielleicht auch mancher Leser, der zu den happy few gehört, denen Stendhal den Roman widmete. Falls ich Sie jetzt beinahe zum Kauf überredet habe, lesen Sie doch vorher noch diese Rezension von Wolfram Schütte.

Stendhal war nicht bei Waterloo dabei, doch bei der Wiedereroberung Italiens durch Napoleons im Jahre 1800 war er als junger Offizier in der Armee. Damals war er genauso alt wie sein Held Fabrice del Dongo in der Schlacht von Waterloo. Beim Russlandfeldzug 1812 war er als Kriegskommissar wieder bei der Armee, wie der Krieg aussieht, das wußte er. Das Schlachtfeld von Waterloo hatte er sich ein Jahr, bevor er den Roman schrieb, sorgfältig angeschaut. Die Waterloo Episode in den ersten Kapiteln des Romans macht nur einen ganz geringen Teil des Romans aus, aber sie hat für die Literatur ungeahnte Auswirkungen. Sicherlich wird es weiterhin romantische Literatur geben, in der junge Kavallerieoffiziere mit dem Säbel in der Hand über das Feld sprengen. ohne dass sich ein blutüberströmtes Pferd auf dem Acker wälzt und sich mit den Beinen in seine eigenen Gedärme verwickelt. Aber die wirkliche Literatur wird die Botschaft von Stendhal verstehen. Die Einflüsse auf Tolstois Krieg und Frieden sind evident, und Tolstoi war der erste, der das zugab: Ich bin Stendhal wie kaum irgendwem verpflichtet: ich verdanke ihm die Kenntnis des Krieges. Wer vor ihm hat den Krieg auf diese Weise geschildert, das heißt so, wie er wirklich ist? Man erinnere sich, wie Fabrizio mitten durch die Schlacht von Waterloo reitet und nicht das geringste davon merkt... Es ist nicht nur Tolstoi, auf den Stendhal wirkt. Auch die Beschreibungen der ersten Schlacht, durch die Henry Fleming in Stephen Cranes Red Badge of Courage taumelt, verdanken Stendhal viel.

Henri Beyle, der sich als Schriftsteller Stendhal nannte, ist in der Nacht zum 23. März 1842 gestorben. Auf seinem Grabstein findet sich die Inschrift: Arrigo Beyle - Milanese - Scrisse - Amó - Visse. Diesen Text, in dem er sich als Mailänder bezeichnet, hatte er schon Jahre zuvor in sein Testament geschrieben. Der Mann, der französischer Konsul in Italien gewesen war, schämte sich jetzt für die französische Politik. Diesen Franzosen darf man die Wahrheit nicht sagen, wenn sie ihre Eitelkeit verletzt. Sein Cousin und Freund Romain Colomb, der einer der ersten Stendhaliens und sozusagen sein Eckermann war, hat dafür gesorgt, dass Stendhals Wunsch respektiert wurde.

Dienstag, 22. März 2011

Fanny Ardant


Le cinéma c'est l'art de faire de jolies choses à de jolies femmes, hat Truffaut gesagt. Und an diesen Satz hat er sich gehalten. Nicht nur in seinen Filmen, auch im wirklichen Leben. Das wahrscheinlich so ähnlich aussieht wie in den Filmen der Antoine Doinel Saga. Auf dem Bild hier steht Truffauts alter geo Jean-Pierre Léaud (der fett geworden ist) mit Truffauts erster Ehefrau Madeleine Morgenstern vor einem Kinoplakat des ersten Antoine Doinel Film Les quatre cents coups. Als Truffaut 1983 einen Gehirnschlag erlitten hatte und danach im American Hospital in Paris operiert worden war, war es Madeleine, die ihn aus dem Krankenhaus abholte. Seine damalige Geliebte Fanny Ardant lag da hochschwanger im Krankenhaus. Die Frauen kümmern sich immer um Truffaut. L'Homme qui aimait les femmes, ist wahrscheinlich nicht nur ein Filmtitel.

Alle Frauen in Truffauts Leben kamen aus der Welt des Filmes. Seine Ehefrau Madeleine war die Tochter eines der mächtigsten Männer in der französischen Filmwirtschaft, die nächsten Frauen waren Schauspielerinnen. Françoise Dorléac, Claude Jade und Fanny Ardant. Mit ihnen hat er jolies choses gemacht. La peau douce mit Dorléac (der Schwester von Catherine Deneuve), ein schöner stiller Schwarzweißfilm. Der wurde etwas unterschätzt, als er in die Kinos kam. Drei Jahre nach dem Film ist Françoise Dorléac tot, Autounfall. Den Filmen von Truffaut ist nichts davon anzumerken, er dreht Baisers volés mit Claude Jade.

Aber in einem Brief an die Schauspielerin Tanya Lopert schreibt er 1971: Viel zu viele Menschen aus meiner Umgebung, die ich geliebt habe, sind bereits tot, und ich bin nach dem Tod von Françoise Dorléac zu dem Entschluß gekommen, keiner Beerdigung mehr beizuwohnen, was aber, wie Sie sich denken können, nicht verhindern kann, daß ich von einer Traurigkeit erfaßt werde, die eine Zeitlang alles verfinstert und sich nie ganz verflüchtigt, auch mit den Jahren nicht, denn wir leben nicht nur mit den Lebenden, sondern auch mit all jenen, die uns jemals etwas bedeutet haben. Manche Kritiker haben gesagt, dass in diesen Brief die Keimzelle des Filmes La chambre verte steckt. Vielleicht ist das etwas weit hergeholt. Doch es gibt einen Subtext für Truffauts Leben und Filme, und das sind nicht nur die schönen Frauen. Das ist auch derjenige, der et in Arcadia ego sagt.

Die Filme mit Claude Jade sind alle in Farbe. Für Baisers volés hatte Truffaut die 19-jährige Claudine Jade im Theater entdeckt, die dann in allen vier Antoine Doinel Filmen an der Seite von Leaud war. Und natürlich auch an der Seite von Truffaut. Claudine Jade ist als Freundin, Geliebte und Ehefrau von Antoine Doinel stärker als der Träumer Léaud=Truffaut. Irgendwie sind die Frauen bei Truffaut sowieso immer stärker als die Männer. Die immer Träumer sind, nicht erwachsen werden wollen, die irgendwie mou sind. Oder molasse, oder was für ein Wort der Franzose gerade regional für Weichei verwendet.

Und mit starken Frauen meine ich jetzt nicht Jeanne Moreau in La mariée était en noir oder die Deneuve als femme fatale in La sirène du Mississipi (dazu gibt es hier einen langen Post)Nein, auch die Deneuve in Le Dernier Métro ist tough. Aber die schönste dieser Rollen hat Truffaut für seine letzte Frau in seinem letzten Film aufbewahrt. Und da kehrt er in die Welt seiner Anfänge zurück, nämlich zum Schwarzweißfilm. In Farbe hatte er Fanny Ardant ja schon in La femme d'à côté präsentiert.

In Vivement Dimanche! trägt Fanny Ardant einen Trenchcoat, dieses Symbol aller Macho Detektive, das ist schon sehr ironisch. Fanny Ardant ist größer als Jean-Louis Trintignant, der immer ein wenig klein für große Partnerinnen war. Fanny Ardant, die eine Frau  namens Barbara Becker spielt (nein, das konnte Truffaut nicht wissen, dass wir eine Barbara Becker in Deutschland haben würden), hat auch die größere Rolle. Und wenn sie auch nicht so tough ist wie Bernadette Lafont in Une belle fille comme moi, ist sie doch diejenige, die handelt. Und sie kriegt natürlich Jean-Louis am Ende, sogar bis zum Traualtar. Kein tragischer Liebestod wie in La femme d'à côté.

Dies ist eine leichte Komödie, auch wenn die ehebrecherische Gattin von Trintignant umgebracht wird. Dies ist keine Tragödie wie La peau douce, wo die betrogene Ehefrau den Liebhaber von Françoise Dorléac mit dem Schrotgewehr erschießt. Es ist der letzte Film von Truffaut. Dabei war er mit dem Leben noch nicht fertig, er wollte erst mit dreißig Filmen aufhören. Drei Viertel davon hat er geschafft. Er ist an einem Sonntag gestorben, was das Vivement Dimanche! als Titel ein wenig wie einen ironischen Kommentar aussehen lässt. Ist es ein Zufall, dass Fanny Ardants letzter Film vor Truffauts Tod Alain Resnais' Liebe bis in den Tod (L’amour à mort) war? Fanny Ardant hat heute Geburtstag. Joyeux anniversaire!

Und den Film Vivement Dimanche! gibt es hier auch.

Montag, 21. März 2011

Frühlingsanfang


Frühlingsanfang. Da fällt uns allen doch sofort Eduard Mörikes Er ist's ein:

Frühling läßt sein blaues Band
Wieder flattern durch die Lüfte;
Süße, wohlbekannte Düfte
Streifen ahnungsvoll das Land.
Veilchen träumen schon,
Wollen balde kommen.
Horch, von fern ein leiser Harfenton!
Frühling, ja Du bist 's!
Dich hab’ ich vernommen!

Zuerst wollte ich ja über James Thomsons Spring schreiben, aber dann fiel mir ein, dass ich im letzten Jahr ➱hier schon über ihn schrieb. Und so kam ich auf den Hamburger Barthold Heinrich Brockes, der die Aus dem Englischen übersetzte Jahreszeiten des Herrn Thomson im Jahre 1744 herausgebracht hat. Und dachte mir, dass sein schönes Gedicht Kirsch-Blühte bey der Nacht es eigentlich verdient hätte, wieder einmal gelesen zu werden. Brockes ist, ebenso wie Thomson, ein genauer Beobachter der Natur. Er gebraucht keine abgegriffenen topoi, strapaziert nicht das Inventar der Anakreontik, er schaut genau hin. Nichts ist mir zu klein, und ich lieb es trotzdem, hat Arno Schmidt, Rilke zitierend, über Brockes geschrieben.

Wenn es uns heute etwas befremdlich erscheint, dass für den Dichter jede Regung im Mikrokosmos der Natur zu einem emphatischen Gottesbeweis wird, steht Brockes doch am Anfang des deutschen Naturgedichts. An deren Ende ➱Wilhelm Lehmann aus Eckernförde steht. Großes im Kleinen zu sehen, den Norddeutschen bleibt nichts anderes übrig. Sie haben keine Alpen, über die sie wie Albrecht von Haller schreiben können. Seien wir dankbar für dieses Nichts ist mir zu klein.

Kirsch-Blühte bey der Nacht

Ich sahe mit betrachtendem Gemüte
Jüngst einen Kirsch-Baum, welcher blüh'te,
In küler Nacht beym Monden-Schein;

Ich glaubt', es könne nichts von gröss'rer Weisse seyn.
Es schien, ob wär' ein Schnee gefallen.
Ein jeder, auch der klein'ste Ast
Trug gleichsam eine rechte Last
Von zierlich-weissen runden Ballen.
Es ist kein Schwan so weiß, da nemlich jedes Blat,
Indem daselbst des Mondes sanftes Licht
Selbst durch die zarten Blätter bricht,
So gar den Schatten weiß und sonder Schwärze hat.
Unmöglich, dacht' ich, kann auf Erden
Was weissers ausgefunden werden.

Indem ich nun bald hin bald her
Im Schatten dieses Baumes gehe:
Sah' ich von ungefehr
Durch alle Bluhmen in die Höhe
Und ward noch einen weissern Schein,
Der tausend mal so weiß, der tausend mal so klar,
Fast halb darob erstaunt, gewahr.
Der Blühte Schnee schien schwarz zu seyn
Bey diesem weissen Glanz. Es fiel mir ins Gesicht
Von einem hellen Stern ein weisses Licht,
Das mir recht in die Sele stral'te.
Wie sehr ich mich an Gott im Irdischen ergetze,
Dacht' ich, hat Er dennoch weit grös're Schätze.
Die gröste Schönheit dieser Erden
Kann mit der himmlischen doch nicht verglichen werden.

Und da wollen wir heute mal nicht an Rachel Carsons Silent Spring denken.

Sonntag, 20. März 2011

Hölderlin


Alles andere totschlagend, das war für mich Hölderlin, alles andere totschlagend. Ich war in Hölderlin gut; außer mir hat keiner diese Passion gehabt, auch kein Lehrer. Hölderlin war für mich ganz oben. Und es gehört ja auch zu meinen amüsantesten Erlebnissen der letzten Jahre, daß der rotchinesische Außenminister - der hat ja übrigens auch in Tübingen studiert, beim Essen aus dem „Schicksalslied“ zitiert hat. Der war ganz high, als ich dann mitten in der angefangenen Strophe fortgefahren bin. Auswendig, wohlgemerkt! Das ist jetzt kein Text eines Kabarettisten, hier spricht der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl, der sonst, wie er einmal gesagt hat, keinerlei Verhältnis zur Lyrik hatte. Aber in Hölderlin war er gut. Wie kann man so was sagen? Man kann gut in Matte sein, aber wie ist man gut in Hölderlin? Ich habe das Zeit Magazin aus dem Jahre 1976, in dem das stand, jahrelang aufbewahrt, es irgendwann aber doch entsorgt. Ich habe auch das dunkle Gefühl, dass Kohls schulische Hölderlin Begeisterung aus der Zeit stammt, als die Nazis den Dichter vereinnahmt hatten.

Also, ich bin nicht gut in Hölderlin. Ich mag vieles, hasse ebenso vieles. Ich habe seit vierzig Jahren die dreibändige Insel Ausgabe von Friedrich Beißner und Jochen Schmidt, die eigentlich nichts als eine Leseausgabe der Großen Stuttgarter Ausgabe von Beißner ist. Ich habe mal mit dem Gedanken gespielt, mir die Stroemfeld Ausgabe zu kaufen, habe es dann aber gelassen und mir antiquarisch die historisch-kritische Ausgabe gekauft die Norbert von Hellingrath begonnen hat, und die nach seinem Tod vor Verdun von Friedrich Seebaß und Ludwig von Pigenot fortgesetzt wurdeIch hätte mir natürlich die Stuttgarter Ausgabe von Beißner kaufen können, aber da ich vor vielen Jahren ein Konvolut aller Schriften von Hellingrath gekauft hatte, bin ich bei Hellingraths Ausgabe geblieben. Es ist auch eine sehr schöne bibliophile Ausgabe, auch wenn sich in seinen Anmerkungen manchmal der Schwärmer gegenüber dem Philologen durchsetzt.

In meiner Schulzeit kam Hölderlin nicht vor, vielleicht war das in den fünfziger Jahren die Reaktion der Lehrer auf den Hölderlin Kult der Nazis. Obgleich ich viele gute Lehrer gehabt habe, habe ich vom Deutschunterricht der Oberstufe nichts mitgenommen. Außer dass ich in den Deutschstunden immer Romane gelesen habe, so hat mich der Deutschunterricht doch noch gebildet. Der Lehrer war eine Katastrophe, DDR Flüchtling mit Kurzstudium - man nahm ja damals wegen des Lehrermangels beinahe jeden, wenn er kein richtiger Nazi gewesen war. Er schreibt heute im hohen Alter noch total bescheuerte Bücher im Selbstverlag. Darauf, dass er an einer NAPOLA Abitur gemacht hat, ist er noch heute stolz. Ich habe Hölderlin für mich selbst entdeckt, und eigentlich kann ich nur jedem Leser empfehlen, das auch zu tun und sich nicht von Deutschlehrern, Germanistikprofessoren oder Helmut Kohl beeinflussen zu lassen.

Ich weiß auch noch genau, welches Gedicht von Hölderlin mich als erstes faszinierte, es war Hälfte des Lebens, auch wenn ich es vor einem halben Jahrhundert wohl nicht so recht verstanden habe.

Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See,
Ihr holden Schwäne,
Und trunken von Küssen
Tunkt ihr das Haupt
Ins heilignüchterne Wasser.

Weh mir, wo nehm ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein,
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.


Michael Hamburger, der aus Deutschland stammende englische Dichter und Übersetzer, ist sicherlich in Hölderlin gut gewesen, um Helmut Kohls Ausdrucksweise noch einmal zu gebrauchen. Es war eine lebenslange Beschäftigung mit dem deutschen Dichter, die ihn auch beinahe den ganzen Hölderlin übersetzen ließ. Seine Ausgabe von Poems & Fragments ist zuerst 1966 bei Routledge & Kegan Paul erschienen, später gab es sie bei der Cambridge University Press, dann (2004) bei der Anvil Press. Bei Penguin kann man eine gekürzte Ausgabe als Taschenbuch erhalten. Natürlich hat Michael Hamburger auch Hälfte des Lebens übersetzt. Aber ich bin mit der Übersetzung nicht so glücklich, so sehr ich Hamburger, den ich gekannt habe, schätze.

The Middle of Life

With yellow pears the land,
And full of wild roses,
Hangs down into the lake,
O graceful swans,
And drunk with kisses
You dip your heads
Into the hallowed-sober water.

Alas, where shall I find when
Winter comes, flowers, and where
Sunshine
And shadows of earth?
The walls stand
Speechless and cold, in the wind
Weathercocks clatter.


Dies ist die Version von 1943, zwei Jahre nach dem ersten englischen Gedicht von Hamburger geschrieben. Das - und das wird jetzt niemanden überraschen - Hölderlin heißt. Es gibt noch eine überarbeitete Fassung der Hölderlin Übersetzung von 1990.

Half of Life

With yellow pears hangs down 

And full of wild roses 
The land into the lake, 
You loving swans,
And drunk with kisses 

You dip your heads 
Into water, the holy-and-sober.

But oh, where shall I find 

When winter comes, the flowers, and where 
The sunshine 
And shade of the earth? 
The walls loom 
Speechless and cold, in the wind 
Weathercocks clatter.

Aber mit dieser Fassung war er auch nicht so recht glücklich, und so gibt es in den Selected Poems and Fragments von 1994 noch eine dritte Fassung:

The Middle of Life 

With yellow pears the land 

And full of wild roses 
Hangs down into the lake, 
You lovely swans,
And drunk with kisses 
You dip your heads 
Into the hallowed, the sober water.

But oh, where shall I find 
When winter comes, the flowers, and where 
The sunshine 
And shade of the earth? 
The walls loom 
Speechless and cold, in the wind 
Weathercocks clatter.

Man kann aus Übersetzungen immer lernen, weil man sie beim Lesen immer mit dem Original vergleicht. Am besten von den englischen Übersetzungen (und es gibt noch viel mehr, wie man ➱hier sehen kann) gefällt mir die Übersetzung von dem Amerikaner Richard Sieburth.

Half of Life

With its yellow pears
And wild roses everywhere
The shore hangs in the lake,
O gracious swans,
And drunk with kisses
You dip your heads
In the sobering holy water.

Ah, where will I find
Flowers, come winter,
And where the sunshine
And shade of the earth?
Walls stand cold
And speechless, in the wind
The weathervanes creak.


Hälfte des Lebens wurde 1805 zum ersten Mal veröffentlicht. Hölderlin, der heute vor 241 Jahren geboren wurde, konnte nicht wissen, dass er das Gedicht ziemlich genau in der Hälfte seines Lebens schrieb. Die zweite Hälfte, die Winterhälfte seines Lebens steht ihm noch bevor. Was bleibet aber, stiften die Dichter. Es ist ein Winter der Seele, und vielleicht ist (so der österreichische Mediziner Anton Neumayr in Literatur & Medizin) das Gedicht auch schon ein Symptom dafür, dass Hölderlins Gefühlsleben erkaltet. Aber später, während draußen in der Welt Schuberts Winterreise gesungen wird, fängt Hölderlin wieder an zu dichten. Manches davon ist von einer großen Klarheit getragen, wie das Gedicht Winter:

Das Feld ist kahl, auf  ferner Höhe glänzet
Der blaue Himmel nur, und wie die Pfade gehen,
Erscheinet die Natur, als Einerlei, das Wehen
Ist frisch, und die Natur von Helle nur umkränzet.

Der Erde Rund ist sichtbar von dem Himmel
Den ganzen Tag, in heller Nacht umgeben,
Wenn hoch erscheint von Sternen das Gewimmel,
Und geistiger das weit gedehnte Leben.


Auch wenn ich nicht so gut in Hölderlin bin wie Helmut Kohl und nicht Hyperions Schicksalslied auswendig aufsagen kann, und sogar diese späten Gedichte wie Winter der ganzen Griechentümelei vorziehe, hätte ich doch noch einige Empfehlungen, take it or leave it. Es gibt, das muss leider gesagt werden, keine Biographie Hölderlins, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügt und gleichzeitig lesbar wäre. Das provozierende Buch von Pierre Bertaux Friedrich Hölderlin. Eine Biographie von 1978 ist das ebenso wenig wie Wilhelm Michels Das Leben Friedrich Hölderlins. Obgleich man dem 1940 bei Schünemann in Bremen erschienenen Buch des Schriftstellers Wilhelm Michel einen gewissen Charme nicht absprechen kann. Das Beste, vor allem für den normalen Leser, erscheint mir Adolf Becks Hölderlin: Chronik seines Lebens beim Insel Verlag zu sein, in dem Hölderlins Leben überreich mit Abbildungen und Zitaten aus dem Werk illustriert wird. Über alle Werkausgaben, von Uhlands und Schwabs erster Hölderlin Ausgabe 1826 bis zur Frankfurter Hölderlin Ausgabe, informiert (und da gibt es wirklich nichts Besseres!) der zweihundertseitige Band Hölderlin entdecken. Lesarten 1826-1993, der 1993 von der Tübinger Hölderlin Gesellschaft herausgegeben wurde.

Auf der eisernen Wasserpumpe im Garten des Dichters und Übersetzers Michael Hamburger steht die Jahreszahl 1770, das Geburtsjahr Hölderlins. Das kann kein Zufall sein, sagt W.G. Sebald in seinem elegischem Buch Die Ringe des Saturn, in dem Hamburger ein ganzes Kapitel bekommen hat. Der deutsche Dokumentarfilmer Frank Wierke hat in den letzten Lebensjahren von Michael Hamburger einen wunderschönen Film über den Mann gedreht, der Hölderlin der englischsprachigen Welt nahegebracht hat. Der Film heißt Michael Hamburger - Ein englischer Dichter aus Deutschland, er hat den ARTE Preis für den besten deutschen Dokumentarfilm 2007 sicher zu Recht bekommen. Die DVD ist noch erhältlich.

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