Dienstag, 25. September 2012

Gouldberg Variations


Solch ein Auto hat Glenn Gould mal gefahren, einen 1977er Lincoln Continental Town Car. Schwarz, vier Türen, V8 Motor. Er hatte den Wagen Longfellow getauft. Er liebte das Autofahren, fuhr allerdings genau so wenig konventionell, wie er Klavier spielte: I suppose it can be said that I'm an absent-minded driver. It's true that I've driven through a number of red lights on occasion, but on the other hand, I've stopped at a lot of green ones but never gotten credit for it. Einmal hat ihn die Polizei angehalten, weil er Schlangenlinien fuhr und wild mit den Händen gestikulierte. Er war nicht betrunken, er dirigierte lediglich eine Mahler Symphonie, die im Autoradio lief. Das Autoradio lief bei ihm immer in voller Lautstärke. Er hörte aber nicht immer klassische Musik, er konnte auch ebenso gut Country & Western hören.

Leonard Bernstein hat einmal erzählt, wie er mit Glenn Gould im Auto gefahren ist: Let’s go and do my favorite thing, mit dem Satz fängt das Abenteuer an, so we went down and got into his car, he being wrapped up in all his furs and gloves and hats, with all the windows up, the heat turned on full blast, and the radio tuned to a good music station, also full blast. […] I said, Do you do this often? He said, Every day. 

Das hier ist nicht Glenn Gould, das ist Jack Nicholson, der in Five Easy Pieces einen Pianisten spielt. Ein wenig exzentrisch, aber was ist das gegen Glenn Gould, wenn er nachts stundenlang den Queen's Highway herunterfährt, um dann irgendwann in der Frühe in einem truck stop diner zu landen? Er brauchte die Nacht: I tend to follow a very nocturnal sort of existence mainly because I don't much care for sunlight. Bright colors of any kind depress me, in fact. And my moods are more or less inversely related to the clarity of the sky, on any given day. A matter of fact, my private motto has always been that behind every silver lining there is a cloud. Wir gönnen ja jedem Pianisten seine kleinen Exzentrizitäten (Maria Joao Pires hat neuerdings ein Tattoo auf dem rechten Handgelenk), wenn er nur überirdisch Klavier spielt. Und da ich bei überirdisch bin, sollte ich an Glenn Goulds achtzigstem Geburtstag daran erinnern, dass irgendwo im Weltraum ein kleines Stück Glenn Gould ist: Seit 1977 rast Gould-Bach, als Tonkonserve in der Raumsonde 'Voyager' für Jahrmillionen haltbar gemacht, dem Rand des Sonnensystems entgegen.

Ich musste mal eben den Spiegel vor zwanzig Jahren zitieren, wo sie offensichtlich einen hoffnungsvollen Jungredakteur an eine Würdigung von Glenn Gould herangelassen hatten. Der über Goulds Aufnahme der Goldberg Variationen schrieb: So etwas spielte man damals eigentlich überhaupt nicht - und wenn, dann nur, vermeintlich stilvoll, auf dem Cembalo. Bach auf dem Steinway galt als geschmacklos. Im übrigen überließ man Stücke wie die 'Goldberg-Variationen' den ältlichen Instrumentalistinnen, die im rechten Winkel und mit der rechten abendländischen Einstellung vor der Klaviatur saßen, ihre Haare am Hinterkopf zum Halleluja-Knoten gerundet hatten und genauso spielten, wie sie aussahen. Wham! Wie ein Blizzard fegte dagegen der junge Spund aus der kanadischen Kultur-Öde durch die Sakristei des Leipziger Thomaskantors, und weg war aller Muff unter der Allongeperücke. Keine Drücker, keine Schluchzer. Nichts gepanscht, nichts gesoftet. Triller, als wären Krallen im Anschlag. Läufe, die nicht liefen, sondern rasten. Perfekt die Spurtreue durch Bachs Polyphonie. Klanglich überall schlanke Linie. Trotzdem, kaum zu glauben, dezenter Swing im Kontrapunkt: Gould - der mit dem Bach tanzt.

Wenn er noch lebte, würde er heute noch Klavier spielen? Hätte er so lange wie ➱Claudio Arrau, Mieczysław Horszowski oder Wilhelm Kempff spielen wollen? Würde er in the gradual, lifelong construction of a state of wonder and serenity die Goldberg Variationen ein drittes Mal aufnehmen wollen? I think that if I were required to spend the rest of my life on a desert island, and to listen to or play the music of any one composer during all that time, that composer would almost certainly be Bach. I really can't think of any other music which is so all-encompassing, which moves me so deeply and so consistently, and which, to use a rather imprecise word, is valuable beyond all of its skill and brilliance for something more meaningful than that -- its humanity. Als er 1964 aufhörte, Konzerte zu geben, hatte er gesagt: I really would like the last half of my life to myself. Leider war die zweite Hälfte nicht so lang wie die erste. Als Hölderlin ➱Hälfte des Lebens schrieb, blieben ihm noch vierzig Jahre.

Wenn Glenn Gould auch schon dreißig Jahre tot ist, ist er in der Welt der Platten, CDs, Filme und Videos noch sehr lebendig (wenn Sie einmal den ganz jungen Glenn Gould sehen wollen, dann klicken Sie ➱hier). Seien wir dankbar. Ich habe gestern Nacht einfach eine Glenn Gould CD aus dem Regal genommen, es war - welch ein Zufall - Glenn Gould Plays Bach. Ich wusste nicht, was da drauf ist, weil ich die noch nie gespielt hatte. War mal ein Sonderangebot. Label: Membran, Raubdruck? Einige Meter weiter steht der ganze Glenn Gould in den Sony und Columbia Aufnahmen. Kaum hatte der Player die CD geschluckt, da fing Glenn Gould an zu spielen, es war die frühe Aufnahme der Goldberg Variationen, unverwechselbar. Man kann sie hundertmal gehört haben, die Magie ist immer wieder die gleiche. Vor allem nachts. Die Aufnahme klang deshalb so überraschend neu, weil ich sie nicht hundertmal gehört hatte. Dies war die seltene erste Aufnahme von 1954 war. Das habe ich erst viel später gemerkt.

Google hat wieder etwas Neues: Neben einigen anderen Google-Produkten hat auch Blogger ein völlig neues Design erhalten. Die neue, klare Benutzeroberfläche soll für eine einfachere Bedienerführung in Ihrem Blog sorgen. Wie ich das hasse. Nix ist mehr da, wo es mal war. Aber was an dem Ganzen gut ist, ist dieses kleine Suchfenster ganz oben links auf der Seite. Wenn Sie da Glenn Gould eingeben, erhalten Sie ➱dies - und das ist doch schon mal eine Menge Glenn Gould in diesem Blog.

Was da wohl nicht erfasst wird, ist ein kleines Gelegenheitsgedicht, das ich in den ersten Tagen meiner Bloggertätigkeit hier einstellte. Falls Sie mich im Januar 2010 noch nicht gelesen haben, hier ist es nochmal:

Piano: Top Ten

Im Alphabet
kommt
Justus Frantz
vor
Gavrilov
Gieseking
Gilels
und
Gould.
Nur
im Alphabet
Gott
sei Dank.


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