Montag, 19. November 2012

lettre de lecteur


Manche Leser kennen meine E-Mail Adresse und schicken mir von Zeit zu Zeit Leserbriefe. Manche tun das einmal im Monat, dann ist der Leserbrief eine meterlange Sammelrezension von all dem, was ich geschrieben habe. Und dann merke ich: die wissen viel mehr über manche Thema als ich. Natürlich bekomme ich dabei auch eine Vielzahl von Anregungen, und dafür bin ich sehr dankbar. Ich habe ja schon ein oder zwei Mal aus einem Leserbrief zitiert, aber hier möchte ich doch einmal einen Brief eines Freundes (der eigentlich nicht für eine Veröffentlichung gedacht war) wiedergeben. Es war die Antwort auf meine Frage, ob er Proust-Leser sei, mit der ich ihm den Post Temps retrouvé vorbeischickte. Ich weiß, dass er mehr Bücher als ich besitzt. Wir haben in den letzten Jahrzehnten über viele Bücher geredet, aber seltsamerweise nie über Proust, deshalb wusste ich das nicht so genau. Ich hatte übrigens ein klein bisschen Bammel, als ich gestern ➯Temps retrouvé ins Netz stellte: wird das überhaupt jemand lesen? Aber um Mitternacht hatte ich mehr als 1.200 Leser, das fand ich erstaunlich. Es ist ebenso erstaunlich wie die Reaktion auf den Post zu ➯Gerhard Neumann. Ich dachte, das liest kein Mensch. Und was passierte? Tausende von Lesern.

Aber nun, der im Original belassene Brief von Friedhard Radam, der hier schon einmal in dem Post ➯Maciejowice erwähnt wurde:

Lieber Jay, Danke Dir herzlich! Eine Fülle von Anregungen, wieder einmal. - Die ersten Seiten der Recherche kenne ich fast by heart, habe sie - sowohl frz. als auch dt. - wohl mehr als ein Dutzend mal gelesen. Wahrscheinlich habe ich keinen Text der Welt je öfter zu mir genommen. Ich bleibe sozusagen immer an diesem Anfang hängen; vielleicht ist das der Grund, weswegen ich selten mit der Lektüre weiterkomme. Aber ich bin guter Hoffnung, den Originaltext wenigstens einmal in meinem Leben zu Ende lesen zu können. Bei Leben und Gesundheit, wie eine Art Konkurrent von Proust mal formuliert hat.
   Übrigens geht es mir so, dass bestimmte Passagen des Romans leichter im Original zu verstehen sind als auf deutsch - was natürlich mit der einsichtigeren Grammatik des Französischen zu tun hat. Bei einem "sie" muss man erst einmal nach dem richtigen Anschluss suchen, "ils", "eux", "elle", "elles" or whatever machen es umso einfacher, je länger die Periode.
   Einige Jahre war ich auch Mitglied der Proust-Gesellschaft, bin aber wieder ausgetreten, weil dort so viele schöne Dinge wie Festessen auf Schlössern angeboten werden, die man dann als normal Finanzierter nicht wahrnehmen kann. Ein weiteres sind die regelmäßigen Publikationen, meist einmalig zwar und oft hochinteressant, aber vieles im Stile von Heteropien und Figuren des Begehrens in der 'recherche', das man doch nie liest und Buchliebhabern mit Platzproblemen das Leben noch schwieriger macht.- Ich besitze zum Beispiel seit Jahrzehnten die Bibliographie Marcel Proust und Deutschland von George Pistorius. Wie oft habe ich das Werk in der Hand gehabt mit dem Gedanken Wohin damit?, denn es wirklich zu konsultieren bin ich denn doch nicht Experte und Wissenschaftler genug. Natürlich werde ich es bis an mein Ende behalten, denn wo sind die Hände, in welche man es geben könnte?
   Die von Dir aufgeführten Titel besitze ich ja zum Teil, und/aber ich bin sehr dankbar für Deine systematischen Vergleiche und Besprechungen - und natürlich für die Tips zu Neukäufen, die denn doch in einigen Fällen notwendig werden (obgleich ich offiziell ja keine Bücher mehr erwerbe)…
   Sehr angetan war ich, als vor einigen Jahren eine Tagung der Proust-Gesellschaft in Hamburg stattfand, natürlich mit und unter der Regie von Reiner Speck, der auch eine Reihe seiner Proust-Manuskripte und Lektüre-Beispiele P.'s zeigte. Das ist ein Mann, dem man es anmerkte, ihm geht es nicht um seine Person, sondern darum, Proust zu vermitteln und zugänglich zu machen. (Sind alle illustren Büchersammler so? Heribert Teschner vielleicht nicht).
   Es gab bei der Tagung u. a. den hervorragenden Vortrag eines niederländischen Gelehrten über Proust und die oder in der Belle Epoque; es gab einen Teil der berühmten Lesung 2er Kölner Schauspieler, die vielleicht inzwischen beendet, aber auch sehr teuer ist; und es gab natüürlich Musik von Reinaldo Hahn…
   Noch eins: um auch das Umfeld kennenzulernen, habe ich mir Modern Painters von John Ruskin zugelegt, auch weil Turner einer meiner Lieblingsmaler ist; und ich habe das Werk auch zu lesen begonnen. I must say: Ruskin ist quasi Proust auf langweilig.

Dies als Antwort auf Deine Frage, ob ich Proust-Leser sei. 

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