Mittwoch, 5. Dezember 2012

Schweine


Sie haben doch bestimmt die 'Annals of Agriculture and other useful Arts' von 1785 in ihrer Bibliothek, sagt der Mann am Telephon. Unsere Sekretärin im Geschäftszimmer hatte ihn zu mir durchgestellt. Unsere Sekretärin stellte immer alle Anfragen aus der Bevölkerung zu mir durch, ich habe die auch immer für die Fragenden zufriedenstellend beantwortet. Bis auf ein einziges Mal, da habe ich einen Fragesteller belogen. Es war ein Ministerialrat, der aus seinem Ministerium anrief. Er war während seiner Dienstzeit damit beschäftigt, ein Preisausschreiben zu lösen, mit dem er eine Englandreise gewinnen wollte. Und verlangte jetzt, sozusagen als Amtshilfe, dass ich für ihn die Fragen beantwortete. Habe ich auch getan. Das Preisrätsel kann er nicht gewonnen haben, weil ich ihm neben drei richtigen Antworten auch zwei falsche servierte (die aber überzeugend verpackt waren). Das haste davon, du dummes Schwein, dachte ich mir, als ich den Hörer auflegte. Ich sollte Schweine nicht immer in Verbalinjurien erwähnen, ich bekomme es immer wieder gesagt. Andererseits: Schweine sind horizontale Menschen. Oder um es unmissverständlicher zu sagen: Menschen sind senkrechte Schweine. Der Satz stammt von meinem Anrufer, der es als selbstverständlich ansah, dass ein Englisches Seminar einer Provinzuniversität so etwas wie die Annals of Agriculture and other useful Arts von 1785 im Bibliotheksregal stehen hat.

Der reizende ältere Herr, der nach den Annals of Agriculture fragte, verstand alles von Schweinen. Borstenvieh und Schweinespeck waren sozusagen sein Lebenszweck gewesen. Er war ein promovierter Agronom, dem die Fachwelt Bücher wie Die 20-Ferkel-Sau, Schweinepraxis heute und Ein Leitfaden für wirtschaftliche Schweinefleischerzeugung verdankte. Aber jetzt, wo er gerade in Pension gegangen war, wollte er höher hinaus, er wollte ein Buch über das Schwein in der Weltliteratur schreiben. Sagen Sie jetzt bitte nicht, das liest doch kein Schwein.

Unsere Bibliothek besaß natürlich kein Exemplar von den Annals of Agriculture aus dem Jahre 1785, aber ich gab dem Herrn die Telephonnummer der Bibliothek des Instituts für Weltwirtschaft. Die haben eine der größten Bibliotheken in Europa und waren in der Lage, dem Forscher innerhalb weniger Tage eine Photokopie des gewünschten Artikels zu liefern. Das weiß ich, weil er mich von nun an ständig anrief und mit mir korrespondierte. Ich wurde sozusagen zu seinem Forschungsassistenten für Schweine in der englischen Literatur. Pigs have Wings von P.G. Wodehouse (und alle Castle Blandings Romane, in denen Schweine vorkamen) servierte ich ihm ungefragt, Barbara Kingsolvers Pigs in Heaven war noch nicht geschrieben. Zu Weihnachten schickte ich ihm einen wunderbaren Cartoon, den ich in einem amerikanischen Magazin gefunden hatte: da hatte sich bei der Geburt Christi zu Ochs und Esel ein Schwein dazugesellt, und in der Bildunterschrift sagte eins der Tiere zu dem Schwein: Hau ab, noch sind wir jüdisch. Ich fand das, wie man so sagt, saukomisch.

Als das Buch mit dem schönen Titel ➱Die Sau des Salomo: Fährten des weisszahnichten Schweines in der Weltliteratur bei Rowohlt (Wunderlich) erschien, schickte mir der Verfasser ein Exemplar mit Widmung. Und einen Entschuldigungsbrief, weil er mich im Text nicht erwähnt hatte. Aber im nächsten Buch, da schreibe ich Sie hinein. Ich dachte mir: nächstes Buch? und glaubte nicht so recht daran. Aber er hatte schon einen Vertrag von Reclam (Leipzig) und war längst wieder am Schreiben. Mit dem Schreiben kamen für mich wieder kleinere Aufgaben, so musste ich einen Teil des Tagebuchs von Humphrey O'Sullivan, das noch nie ins Deutsche übertragen war (und in dem natürlich auch Schweine vorkamen), für ihn übersetzen. Ich habe daraus schon etwas vor Jahren ➱hier in den Blog gestellt.

Es kamen nicht nur kleine Aufgaben, es kamen, peu à peu den Briefen beigelegt, auch Textproben - und ich staunte nicht schlecht. Hatte ich bisher geglaubt, dass hier jemand mit der witzigen Kulturgeschichte des Schweins sein Lebenswerk vorgelegt hatte, so merkte ich jetzt, dass hier ein wirklicher Schriftsteller am Werk war. Der schreiben wollte und schreiben konnte; denn kaum hatte er sein Manuskript mit dem Titel Der Schnauzenkuss: Eine Anatomie der Schweine-Menschen in Reinschrift bei Reclam abgeliefert, da hatte er schon einen neuen Vertrag in der Tasche. Und er hatte Wort gehalten, in dem grünen Reclam Band kam ich im Text vor. Hatte Die Sau des Salomo wohlwollende Rezensionen in der Zeit und im Spiegel erhalten, so erkannte bei diesem Buch kein Geringerer als Ludwig Harig, dass Groskreutz ein Formulierer von hohen satirischen Graden sei. Und er fühlte sich in seiner ➱Rezension in der Zeit beinahe verpflichtet, den Stil des Verfassers zu imitieren: In zügigem Satzbau, aufgehellt von grellbunten Metaphern und witzigen Alliterationen, tischt uns der Autor ein poetisches Festmahl auf, erzählt das Märchen von Miss Piggy in Concert und die Geschichte der Wildsau von Killamucky: Ein neuer Fischart, ein nachgeborener Grimmelshausen mit sprachspielerischer Beredsamkeit. Stabreimend blitzt es nur so von Konto und Koitus, von Knebeln und Kerkern, von Kartoffelrosen im Knick. Binnenreimend schwelgt er, vergleicht die Schweineherde des Eumaios mit den zusammengepferchten Schlachtschweinen von Chicago, lobt das antike Würzfleisch, das bespeckte, welches dem Menschen schmeckte, seinen Körper streckte und seine Kräfte weckte - und schilt das heutige Stinkfleisch im Lande der Gülle in Hülle und Fülle.

Bevor ich jetzt als Stilprobe etwas aus Der Schnauzenkuss abtippe, kopiere ich doch einmal hierher eine Stelle aus dem Buch, die sich im Internet findet. Damit man einen Eindruck von der Sprachgewalt des Verfassers bekommt: Das Klötenmassaker beim männlichen Schwein heißt Kastrieren oder Kastration. Nathanael kannte eine Klötenklauerin, eine Klötistin, die ging rasch und routiniert zu Werke. Sie flocht den Klöten keine Kränze. Ihr ging Kastrieren über Karessieren. Ein Schnitt über das strammgezogene Hodensackgewebe der Vier-Tage-Ferkel hinweg genügte, und schon flutschten die Minihödli ins Freie, munteren Delphinlein gleich, die im Spiel mit Licht und Lust der Flut entspringen. Blut floss kaum einmal, nicht ein einziger Tropfen. Sie warf die Keimdrüsen mit flinken Fingern einem nimmersatten, eklig fetten, kastrierten Kater zu, als wären es anstößige Parasiten.
     Als Nathanael ihr einmal assistierte, befiel ihn während einer Teepause der Wahn, dass diese staatlich geprüfte Tierwirtin von ihm verlangen könne, sich auf einen der Strohballen zu platzieren, sich zu entblößen, um ihn mit derselben Kälte des Gemütes und technischen Meisterschaft wie ein Eberferkel zu bedienen, ohne sich dabei durch anderweitige biologische Tatsachen oder Vorgänge ablenken zu lassen. Er ist noch heutigentags, nach Jahrzehnten, davon überzeugt, hätte sie in ihrem Klötenwahn ein kurzes befehlendes Kommando verlauten lassen, er wäre dem wie hypnotisiert gefolgt. Genauso wie der bedauernswerte Pasqualini einst der Lockung des vatikanischen Kastratenmachers Ugolini: 'Es muss sein, wenn du deine schöne, klare, herrliche Stimme nicht verlieren willst; bedenke, die eben noch Engel waren, werden zu kleinen Schweinen, und was eben noch kristallen jubiliert hat, wird grunzen und quieken.' Veluti in Wien. Genevra de Scozia.
     Grillparzer hört den Kastraten und verlässt halbtot das Schauspielhaus. Nathanael sieht noch heute das spöttische Augenfeuer seiner Klötistin, funkelnd wie ihr Skalpell, als er sich durch flüchtige aber zielsichere Sackgriffe zu vergewissern versucht, ob noch alles vollzählig beisammen und am gewohnten Platz zu orten sei. Seitdem versteht Nathanael das panische Entsetzen seiner dunkelhäutigen Geschlechtsgenossen, die plötzlich wie wild in die Gegend ballernd Amok laufen; zumeist befürchten sie dann, dass ein diebischer Klötengeist drauf und dran ist, ihnen von hinten klammheimlich ans Geläut zu langen.

Karl August Groskreutz hat sein letztes Buch leider nicht mehr vollenden können. Ich besitze ein Dutzend Seiten seines Manuskripts, und da stehen Sätze von solcher Sprachkraft und Inhaltsschwere, dass ich jedesmal einen Anflug des Bedauerns empfinde, wenn ich das Mäppchen mit dem Manuskript sehe. Vielleicht tippe ich irgendwann einmal ein paar Seiten daraus ab, aber für heute soll dies als eine Art von kleinem Denkmal für Karl August Groskreutz ausreichen.

Wie komme ich auf Schweine? Ich lese gerade den wunderbar komischen Roman Der letzte Dandy: Ein Kierkegaard Roman von Klaas Huizing. Und der hat dieses schöne Kierkegaard Zitat als Motto:

Um mich steht es ungefähr so, wie von dem Schwein der Lüneburger Heide erzählt wird. Mein Denken ist eine Leidenschaft, welcher ich folgen muß. Ich verstehe mich trefflich darauf, Trüffeln aufzuwühlen; selbst habe ich an ihnen keine Freude. Ich nehme die schwierigsten Fragen auf meine Nase; aber mehr kann ich mit ihnen nicht anfangen, als sie über meinen Kopf hinweg hinter mich werfen.

Das könnte auch ganz fett gedruckt über diesem Blog stehen.

P.S. Dieser wunderbare Cartoon mit dem Titel Zukunftspläne erreichte mich heute als Kommentar:


1 Kommentar:

  1. Was die Experten sagen

    Professor Stanley Curtis von der Penn State University fand heraus, dass Schweine spielen und hervorragend sind bei Videospielen mit Joysticks. Er beobachtete, dass sie "einer abstrakten Vorstellung fähig sind" und "in der Lage, sich ein Ikon zu merken und sich zu einem späteren Zeitpunkt daran zu erinnern."

    Professor Curtis meint, dass "bei den Schweinen sehr viel mehr im Bereich des Denkens und Beobachtens vor sich geht, als wir je vermutet hätten." Schweine sind viel schlauer als Hunde, so die Wissenschaft, und waren bei Videospielen sogar besser als manche Primaten. Dazu Dr. Sarah Boysen, Curtis' Kollegin: "[Schweine] sind imstande, sich mit einer Intensität zu konzentrieren, die ich nie bei einem Schimpansen gesehen habe."

    Schweine bilden komplexe soziale Einheiten und lernen von einander in einer Weise, die wir zuvor ausschließlich bei Primaten beobachtet haben. So bedienen sich Schweine beispielsweise einer schlauen List, um sich gegenseitig auszustechen. Schweine lernen häufig, anderen zum Futter zu folgen, um es ihnen dann wegzuschnappen. Diejenigen, die reingelegt wurden, lernen, ihr Verhalten zu ändern, um so nicht mehr so häufig das Nachsehen zu haben. Und Dr. Mike Mendyl bemerkt, dass Schweine ihre kompetitive Stärke signalisieren können und "diese Information einsetzen können, um offenkundige Aggressionen bei Streitigkeiten um den sozialen Rang zu minimieren", genau wie viele Primaten (und auch der Mensch). Er erklärt, dass "Schweine ein recht ausgeklügeltes soziales Wettbewerbsverhalten entwickeln können, ähnlich dem, das man von einigen Primatenarten kennt." [source: www.peta.de]

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