Mittwoch, 23. Januar 2013

Stendal/Stendhal


Heute vor zweihundertdreißig Jahren wurde Marie-Henri Beyle in Grenoble geboren. Als Schriftsteller ist er unter dem Namen Stendhal (manchmal auch de Stendhal) berühmt geworden. Den Namen soll er sich genommen haben, weil er mal kurzzeitig in Stendal gewohnt hat. Und weil er Winckelmann verehrte, der hier geboren wurde. In Stendal (das ursprünglich mal ein Steinetal war) haben sie ein Winckelmann Denkmal, aber kein Denkmal für den Mann, der das Kaff durch seinen Namen berühmt gemacht hat. Stendal hat sich vor Jahren umbenannt, und heißt jetzt Hansestadt Stendal. Das klingt großartig, aber ich glaube, die Wirklichkeit ist nicht so dolle. Da hätten sie sich lieber Stendhal nennen sollen. Ich bin da mal vor vielen Jahren (noch zu DDR Zeiten) gewesen, habe aber nur noch das Ortsschild des Bahnhofs in Erinnerung.

Seit dem Winter 1826 bin ich geistreich; vorher schwieg ich aus Trägheit. Ich gelte wohl für den heitersten und fühllosesten Menschen. Allerdings habe ich nie ein Wort über die Frauen gesagt, die ich liebte. Und das tut er jetzt in seinen Bekenntnissen eines Ichmenschen, da zählt er sie auf. Und vergisst auch nicht die Frau, die ihn an Stendal gefesselt hatte: Die ärmste war Minna von Griesheim, die jüngste Tochter eines Generals ohne Vermögen, des Günstlings eines gestürzten Fürsten, der mit seiner Familie von seiner Pension leben mußte. Der Mann, der von sich sagt Ich fiel mit Napoleon im April 1814, konzentriert sich jetzt auf die Frauen: Die meisten dieser holden Wesen haben mich durchaus nicht mit ihrer Huld beehrt, aber sie haben mein ganzes Leben buchstäblich ausgefüllt. Dann erst folgen meine Werke.

Wo immer er ist, neben den Landschaften (Mit ausgesuchter Empfindsamkeit habe ich schöne Landschaften aufgesucht; einzig deshalb bin ich gereist. Die Landschaften waren wie ein Violinbogen, der auf meiner Seele spielte), beobachtet er die Frauen. Als er in Braunschweig die Güter des Herzogs von Braunschweig verwaltet, notiert er: Die Braunschweiger Frauen, besonders die Dienstmädchen, gehören zu den schönsten, die ich kenne. Welche dicht geschlossenen Schenkel, schöne Arme, die schönste Hautfarbe, schöne Haare. Man findet oft griechische Züge in ihren Gesichtern, weit häufiger als in Frankreich. Sie haben oft kleine dünne Nasen, schmale Wangen und niedrige Stirnen. Äußerst selten findet man den kühnen Schwung und die ausgeprägten Züge des Niobekopfes, aber oft eine sehr hübsche, bisweilen schöne, fast stets anmutige Gesichtsform. Schöne Augen, häßliche Zähne und Füße, meist schöne, etwas zu kleine Busen. In der guten Gesellschaft, im Adel, den wir hier allein sehen, findet man viele angezogene Bohnenstangen. Jetzt wissen wir's. So richtig glücklich fühlt sich der Günstling Napoleons mit seiner Aufgabe als Intendant der großherzoglichen Güter nicht: Hätte ich das Unglück, dauernd in einer deutschen Stadt zu bleiben, so legte ich mir einen kleinen Harem an. Man könnte sich sehrleicht ein hübsches Dienstmädchen besorgen, das soundsoviel Lohn bekäme und seinem Herrn ganz zur Verfügung stände. Ich hätte mehr Freude (selbst Herzens- und Geistesfreude) an einem Naturkind, das von mir und ein paar Lehrern erzogen würde, als an irgendeiner Braunschweiger Dame. Dies Mädchen würde keine Niedrigkeiten kennen; es würde das Kleid ihrer Nachbarin nicht in bitterer Weise loben und eine Freundin nicht mit wehleidiger Miene verleumden.

Zu dem Braunschweiger Harem ist es nicht gekommen, denn kurz darauf ist er in Paris. Verwaltet als Generalinspekteur der kaiserlichen Mobilien die Schlösser Napoleons. Mit dem er auch 1812 nach Russland zieht (wurde ich dem Kriegskommissariat zugeteilt, eine Stellung, auf die die Soldaten herabsahen) und Moskau brennen sieht: Wir verließen die vom schönsten Feuer der Welt erleuchtete Stadt; das Feuer bildete eine ungeheure Pyramide, gleich den Gebeten der Gläubigen: die Grundfläche war auf der Erde und die Spitze im Himmel. Der Mond schien, glaube ich, über dem Feuer. Das war ein großartiges Schauspiel, aber man hätte allein sein müssen, um es anzusehen, oder umgeben von geistreichen Menschen. Das Traurige an dem Russlandfeldzug war, dass ich ihn mit Leuten machte, die das Kolosseum und das Meer von Neapel im Wert herabgesetzt hätten. Ja, die Heraufbeschwörung von Edmund Burkes sublime ist nichts für jedermann. Aber Stendhal schreibt eher, wie er am Ende von Le rouge et le Noir sagt, für die happy few.

Auf der Flucht, nein, das ist nicht richtig, Sie fliehen nicht. Gott bewahre! Diesen Franzosen darf man die Wahrheit nicht sagen, wenn sie ihre Eitelkeit verletzt, die Worte des jungen Fabrice del Dongo in der Kartause von Parma, gelten auch für Napoleons Armee. Also auf dem Rückzug hat er irgendwo in Polen seinen Mantel weggeben. Er hatte nicht gewusst, dass die Knöpfe aus Goldstücken bestanden, die seine Schwester mit Stoff überzogen hatte. Etwas mehr als ein Notgroschen, für alle Fälle. Nach einem kurzen Intermezzo in Sagan, wo er sich ein Klavier lieh, um sich Mozart vorspielen zu lassen, bedeutet Napoleons Sturz das vorläufige Ende der Karriere des jungen Henri Beyle (und schließlich fiel ich 1814. Wer sollte es glauben? Mir persönlich war dieser Sturz lieb!).

Nach diesem Sturze Studium, Schriftstellerei, Liebestorheiten, Drucklegung der 'Geschichte der Malerei in Italien' (1817), Stendhal kann sehr lapidar sein, wenn er will. Die Geschichte der Malerei in Italien hatte er 1811 begonnen, einen Teil des Manuskriptes hatte er in Russland verloren, jetzt hat er es endlich beendet. Und er widmet es, da ist er kaisertreu, Seiner Majestät Napoleon dem Grossen, Kaiser der Franzosen, gefangen auf der Insel Sankt Helena. Ich zitiere das mal eben nach meiner schönen alten Stendhal Ausgabe mit dem roten Lederrücken, herausgegeben von Friedrich von Oppeln-Bronikowski. Der ist ein schönes Vorwort von dem Kunsthistoriker Heinrich Wölfflin beigegeben. Eigentlich wollte ich die Bände der Propyläen Ausgabe im Regal stehen lassen. Zum einen, weil ich schon zweimal länger über Stendhal geschrieben habe (➱Stendhal, ➱Henri Beyle), zum anderen, weil ich über die Stendhal Biographie von Robert Alter schreiben wollte.

Die heißt A Lion for Love: A Critical Biography of Stendhal, ist 1979 bei Basic Books in New York erschienen, sieben Jahre später gab es sie bei der Harvard University Press als Paperback. In Deutschland gab es sie 1982 bei Hanser und 1985 als Taschenbuch bei Ullstein. Ab 1992 hatte Rowohlt den Titel im Programm, offensichtlich schien in Deutschland ein Bedarf für eine Stendhal Biographie zu sein. Robert Alter ist Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft in Berkeley. Er hat in Harvard promoviert, das sollte schon für eine gewisse Qualität bürgen. Tut es auch. Diese Biographie gehört zu dem Besten und Lesbarsten, was über Stendhal geschrieben wurde. Als Mitarbeiterin fungiert im Titel Carol Cosman, das ist die Ehefrau von Robert Alter. Die kennt sich in der französischen Literatur auch aus, sie hat immerhin Sartres Monsterwerk über Flaubert Der Idiot der Familie ins Englische übersetzt. A Lion for Love ist ein erstaunliches Buch über den Mann, der für seine Suche nach dem Glück den Namen beylisme erfunden hatte. Es ist keine trockene Biographie zweier Akademiker, es ist auch schon ein Stück kongenialer Literatur. Es besitzt eine gewisse Magie - als ich gelesen hatte, habe ich es gleich ein zweites Mal gelesen. Wenn man Stendhal mag - und wer könnte diesen Autor nicht mögen? - dann sollte man dieses Buch unbedingt lesen!

Ich bin übrigens nicht der einzige, der das Buch gut findet. Beifall kam so unterschiedlichen  Schriftstellern, wie Anita Brookner (An excellent and balanced biography) und ➱Larry McMurtry ('A Lion for Love' is a model of critical biography—a fascinating biography of a fascinating man). Und natürlich von Kritikern. So John Simon: The publication of 'A Lion for Love', by Robert Alter with the collaboration of his wife, Carol Cosman, supplies at last a fine, perceptive, concise critical biography of Stendhal, written with a clarity and good sense worthy of its subject... Alter and Cosman...wear their erudition with becoming lightness. Ähnlich äußerte sich John Sturrock (Mitherausgeber des Times Literary Supplement) im New York Times Book Review: This excellent short biography... brings out both the charms and the complexities of Stendhal. The tone of the book is discreetly admiring, but ironic enough when need be to remind one of the saving and consummate irony of its subject. Sie sehen, wenn Sie sich jetzt ein Exemplar von A Lion for Love bestellen, sind Sie auf der sicheren Seite.

Lesen Sie auch: ➱Stendhal, ➱Henri Beyle.

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