Sonntag, 21. April 2013

Hippolyte Taine


Man sitzt in der Vorlesung und schreibt mit: Hippolyte Taine, Histoire de la littérature anglaise, vier Bände, race, milieu, et moment. Der Professor redete über den französischen Literaturkritiker und Historiker Hippolyte Taine und seinen Einfluss auf Literatur und Literaturwissenschaft. Den kann man in dem, was wir heute Naturalismus nennen, nicht leugnen. Bei Zola merkt man das überall. Und auch bei Thomas Hardy kann man die Zauberformel mit der Herkunft (race), der sozialen Umgebung (milieu) und den Zeitumständen (moment) anwenden, the production of a work of art is determined by the material and intellectual climate in which a man lives and dies. Hippolyte Taine orientiert sich an Auguste Comtes Positivismus und an der Naturwissenschaft, er will die Literaturwissenschaft zur Wissenschaft machen. Sie wegbringen von der subjektiven Literaturkritik: Abstraction, hypothèse, vérification, tels sont les trois pas de la méthode. Wenn wir im Deutschen von der Literaturwissenschaft reden, sollten wir bedenken, dass diese Wissenschaft wissenschaftlich immer auf schwachen Beinen stand. Das Englische kennt den Begriff gar nicht erst, da heißt das Ganze literary criticism.

Hippolyte Taine ist mit seinem Unterfangen ein Kind seiner Zeit, das 19. Jahrhundert ist das Jahrhundert der Wissenschaft. Wenn auch viele seltsame Theorien das Jahrhundert nicht überlebt haben. Vielleicht ist seine Literaturgeschichte ja auch ein wenig schräg. Denn der Professor, der den Erstsemestern damals Hippolyte Taine nahezubringen versuchte, brachte zum Abschluss der Vorlesung eine wunderbare Geschichte, die ich nie vergessen habe. Angeblich hat Hippolyte Taine geschrieben, dass die englischen Frauen immer große Füße haben. Die die Engländerinnen entwicklungsgeschichtlich in Jahrhunderten bekommen hätten, damit sie nicht im Moor einsinken. Wenn das wirklich bei Taine steht, ist es der bezauberndste Schwachsinn aller Zeiten. Andererseits: Jean Shrimpton hat Schuhgröße 10 (Jean Shrimpton Fans können jetzt noch ➱dies und ➱das anklicken). Und englische Zeitungen vermelden seit einigen Jahren, dass die Füsse der Frauen größer werden. Aber wo ist das Moor geblieben? Hatte der Hund der Baskervilles große Füße?

Oder hat Hippolyte Taine etwas gegen Frauen? Ein Satz wie Donner à une femme du raisonnement, des idées, de l'esprit, c'est mettre un couteau dans la main d'un enfant ist ja definitiv misogyn. Da kann man verstehen, dass Nietzsche Taine gemocht hat. Soll man Hippolyte Taine heute noch lesen? Man druckt viele neue Bücher; man würde gut tun, wenn man einige alte Bücher von neuem druckte, hat er selbst gesagt. Das Projekt Gutenberg bietet viel von ➱Taine. Soll ich das alles lesen, um herauszufinden, ob die Sache mit den großen Füßen stimmt? Nein, das Leben ist zu kurz dafür. Wir rubrizieren das mal unter ungelöste Menschheitsfragen.

Ein Gedicht muss noch her. Und da ich Thomas Hardy oben schon erwähnt habe, nehme ich eins von ihm. Es heißt Weathers, ich habe es ➱hier schon einmal im Blog zitiert. Ich mag es sehr - und vielleicht lockt es ja den Frühling hervor:

This is the weather the cuckoo likes,
And so do I;
When showers betumble the chestnut spikes,
And nestlings fly;
And the little brown nightingale bills his best,
And they sit outside at 'The Traveller's Rest,'
And maids come forth sprig-muslin drest,
And citizens dream of the south and west,
And so do I.

This is the weather the shepherd shuns,
And so do I;
When beeches drip in browns and duns,
And thresh and ply;
And hill-hid tides throb, throe on throe,
And meadow rivulets overflow,
And drops on gate bars hang in a row,
And rooks in families homeward go,
And so do I.

Hippolyte Taine, Philosoph, Soziologe, Literaturwissenschaftler und Katzenliebhaber (J’ai beaucoup étudié les philosophes et les chats. La sagesse des chats est infiniment supérieure) wurde heute vor 185 Jahren geboren.

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