Freitag, 28. Februar 2014

Karl Lemke


Ich habe ihn schon häufiger in diesem Blog erwähnt, meinen Onkel Karl. Er ist einer von denen in der Familie, die wie ich ein gutes Gedächtnis haben. Er kann sich noch genau daran erinnern, wie er mich kleinen Pöks kurz nach dem Krieg im Sommer am Zwischenahner Meer auf dem Schoß gehabt hat. Damals war er noch im Westen, nach Berlin (Ost), in die SBZ (wie die DDR damals hieß) ist er eher zufällig geraten. Weil er seinem Lehrer Gustav Seitz von West nach Ost folgte, das habe ich ➱hier schon einmal erzählt.

Wird einer Bildhauer, weil er besonders geeignet ist, oder weil ihn seine Jugend gewöhnt hat, auf Vorkommnisse des Daseins in bestimmter Weise zu reagieren? Erzieht die Arbeit an der Skulptur im Umgang mit der Welt?

Ich sage immer Onkel Karl, aber genau genommen ist er der Sohn des Bruders meines Großvaters. Meinen Opa haben dessen Brüder immer bewundert. Weil er Lehrer wurde und nicht Färbermeister, wie es in der Familie üblich war. Und weil er am Anfang des Jahrhunderts reich geheiratet hatte. Hundert Jahre nach der Hochzeit wird Karl fragen: Wie hatte diese Prinzessin aus der reichen Kornhändlerdynastie zu uns herabsteigen können? Er hat meine stille Oma Johanna immer bewundert.

Karls Vater Carl hatte, der Familientradition folgend, wie zwei seiner Brüder in Berlin eine Färberei mit Wäscherei und Chemisch Reinigung. Als Berlin in den dreißiger Jahren noch eine Hauptstadt der Mode war, gab es viel zu färben. Er war sehr erfolgreich, auf jeden Fall reichte es für ein großes Auto und einen Bungalow in einer feinen Gegend in Lichterfelde (vorher war es eine große Stadtwohnung in Steglitz). Onkel August wohnte in einer hübschen kleinen Villa, wo Lichterfelde in Zehlendorf übergeht, schlecht kann es ihnen nicht gehen. Aber wie passt jemand, der Bildhauer werden will, in diese bürgerliche Idylle?

Kaum hatte er 1942 das Abitur gemacht, da ist er schon Soldat. Den ganzen Krieg über schleppt er die Reclam Ausgabe von Hölderlins Hyperion mit sich herum, das war ihm immer ein Trost. Als er auf dem Offizierslehrgang in Holland ist, hat er sich von ferne in ein Meisje verliebt, aber er wusste, es konnte nichts daraus werden. Es klang leise Wehmut in den Zeilen mit, als er mir die Geschichte schreibt. Auch wenn er jemand ist, der hart auf Steine hauen kann, so ist doch in seinen Gefühlen viel Zartheit. Untypisch für die Lemkes, die eher westfälische Dickschädel sind. Wenn er aus dem Krieg in die Heimatstadt Berlin zurückkommt, ist er einundzwanzig. Zweimal schwerverwundet, aber lebendig, nicht alle in der Familie hatten dieses Glück. Er kam gerade nach Hause, als es eine Familienfeier gab, außer seiner zerlumpten Uniform hatte er nichts anzuziehen. Sein Vater hat für ihn etwas parat, er bekommt einen eleganten Anzug 'geliehen', den ein Diplomat der Siegermächte in die Reinigung des Vaters gegeben hatte. Auch wenn die Verhältnisse schlecht sind, man achtet auf das decorum.

Dass ich damals auf seinen Knien saß, das weiß ich heute nicht mehr so genau, aber an den Sommer erinnere ich mich noch genau, weil ich damals zum ersten Mal einen Fisch im Zwischenahner Meer gefangen habe. Ich war frühmorgens, als alle noch schliefen, mit meiner kleinen Angel und einem Eimer zum Bootssteg gegangen und hatte die Angel ausgeworfen, nachdem ich sorgfältig einen Regenwurm auf dem Haken befestigt hatte. Und hatte gleich einen Fisch am Haken. Ich habe mich furchtbar über mein Anglerglück erschrocken. Der Fisch war rötlich, sah ein bisschen so aus wie die Goldfische in Opas Aquarium, dessen Glaswände mit der Zeit immer grüner wurden, bis man gar keine Fische mehr sehen konnte. Ich habe den zappelnden Fisch und den Wurm sorgfältig vom Haken gefummelt und wieder ins Wasser geworfen.

Das war der Anfang und das Ende meiner Anglerkarriere, ich habe niemandem davon erzählt. Vati wird zwei Jahrzehnte später auch mehrere Angeln haben, wenn wir das Haus am Zwischenahner Meer haben. Er ist sogar im Fischereinverein. Nicht weil er angeln will, aber wenn man im Fischereinverein ist, darf man zwei Segelboote auf dem See haben. Vati hat nie geangelt, er isst zwar gerne Fisch, aber er könnte die hundert Fischsorten, die man für die Prüfung des Fischereivereins kennen muss, nicht auseinander halten. Er besteht die Prüfung, die bei uns auf der Veranda stattfindet, auch nur mit Wohlwollen und mit der Flasche Ammerländer Korn, die auf dem Tisch steht. Die trinkt der Vorsitzende des Fischereinvereins während der Prüfung aus, und danach ist alles klar.

Wenn ich mich auch an die Tage mit Karl nicht so richtig erinnern kann, den Sommer damals (und den Fisch) habe ich nicht vergessen. Sicherlich hat Karl das Zwischenahner Meer nicht vergessen, ein Gedicht von ihm hat mich daran erinnert:

das grüne schilfhalmdickicht
in den wind gestellt
beschränkt den blick

gelassen neigen
die schäfte
vor dem übersteigen
der schwestern sich

Die Idylle von einst ist längst vorbei, das Zwischenahner Meer ist umgekippt, man kann nicht mehr bis zum Grund sehen. Man sieht auch keine Fische mehr, es ist eher eine grüne Algensoße. Die Zerstörung der Umwelt ist dem Bildhauer (der heute nicht mehr in Berlin, sondern in der grünen Natur mit Blick auf die Ostsee lebt und für den seine Werke etwas Organisches haben) durchaus bewusst: Aber Zukunft läßt sich nur als Verzicht auf Anmaßung denken. Die uferlose Menschheit bleibt eine unendliche Fülle von einzelnen und ein Splitter im Dasein des Bruders ist nichts gegen das Gebälk der eignen Irrtümer. Doch Keime tödlicher Krankheit, an der auch die Steine sterben, beginnen, Luft und Wasser zu durchdringen. Aus den Städten ist mit Flüssen Gift in die Meere gelangt, von den Feldern fließt es, zu schweigen davon, daß im Ozean Industrie zu siedeln angefangen hat und das Sinnbild schöner Poesie ins Widerliche ändert.

In den fünfziger Jahren werden überall für Schüler Berlinreisen angeboten. Diese einwöchigen Fahrten sind staatlich gefördert, man zahlt für eine Woche Berlin fünfzig Mark. Man will die Jugend an die nur durch Subventionen am Leben erhaltene Stadt der Besatzungszonen binden. Es gibt Klassenfahrten von Schulen nach Berlin, und alle Jugendgruppen machen Fahrten nach Berlin. Man bekommt für eine Berlinfahrt immer eine Woche schulfrei. Als ich begriffen habe, wie das System funktioniert, melde ich mich bei den verschiedensten Gruppen an. Ich bin einer der Vertreter meiner Schule im Landesschülerring, ich weiß immer, wo es noch freie Plätze bei Berlinfahrten gibt.

Sogar die Roten Falken nehmen mich mit. Mit denen fahren wir mal einmal nach Berlin-Ost (mit der Evangelischen Jugend auch einmal), um mit einer Jugendgruppe in Blauhemden zu diskutieren. Meine Leser, die noch Jugend erwach, erhebe dich jetzt, die grausame Nacht hat ein End gesungen haben, werden wissen, wovon ich rede. Wir sprechen, von regionalen Aussprachevarianten abgesehen, die gleiche Sprache, aber wir können nicht wirklich mit denen reden. Sie sind rhetorisch hervorragend geschult und beweisen uns, dass der Marxismus-Leninismus die einzig wahre Philosophie ist. Aber sie dürfen nicht drüben im Zoo Palast französische Filme sehen.

Das ist etwas, das ich persönlich viel interessanter finde als den Marxismus-Leninismus. Diese Diskussionsrunden sind immer ein wenig freudlos. Wir sind da ja Gäste und sollen höflich sein. Nicht nach dem 17. Juni fragen oder so was. Einmal wird es mir zuviel, und ich stelle ganz unschuldig die Frage Und was ist mit Storkow? Gott, ist es da plötzlich ruhig im Saal. Es ist mal gerade ein paar Jahre her, dass man in diesem kleinen Kaff im Fontaneland eine ganze Abiturklasse von der Schule geschmissen hat, nur weil die eine Schweigeminute für den Ungarnaufstand gemacht haben. Die sind dann geschlossen abgehauen und haben ihr Abitur im Westen gemacht. Die Diskussion über die Vorteile des Sozialismus ist danach schnell zuende. Der Jugendleiter zischelt mir beim Verlassen des Saales einige Nettigkeiten zu. Es ist mir schon klar, dass mich die Roten Falken nie wieder nach Berlin mitnehmen werden. Ich bin jetzt so alt wie die aus Storkow damals. Hat sich irgendetwas geändert? Brüder, zur Sonne, zur Freiheit. Wort und Wirklichkeit klaffen damals weit auseinander. Am Stein ist es nicht möglich zu lügen, hat Onkel Karl einmal gesagt.

Unsere private Malgruppe im Jugendheim Alt-Aumund ist offiziell ein Arbeitskreis der Volkshochschule. Also dürfen auch wir eines Tages auch nach Berlin fahren. Unsere Malgruppe wird von dem Bremer Maler Heinz Recker geleitet, der mal bei Kokoschka studiert hat: Mach' da irgendwo Rot rein, Jay, sagt er, Kokoschka hat das mit seiner roten O.K. Signatur auch gemacht. Ich habe meine blaue Periode, meine Bilder sind abgestufte Blauvarianten auf weißgrundierter Leinwand. Ich füge mich, das blaue Bild vom Hamburger Rathaus und dem regennassen Rathausplatz bekommt ein freches rotes Jay Signet. Wahrscheinlich sitze ich als Strafe für diese Kokoschka Imitation Jahre später ein Semester lang in Hamburg neben seinem riesigen Bild, das in dem Hörsaal im Erdgeschoß des Philosophenturms die Wand verziert.

In jener Woche mit der Malgruppe sind wir im Schwimmstadion des Olympiastadions untergebracht. Da muss man bis abends um zehn sein, sonst ist das Tor zu. Kein Problem für mich, aber meine Freundin Traute mit ihrem engen Rock hat doch einige Schwierigkeiten, über das Tor des Olympiastadions zu klettern. Meine Lehrer gucken mich wegen der vielen Berlinreisen schon etwas argwöhnisch an, dürfen aber nichts sagen, weil Reisen in die am Subventionstropf hängende Großstadt staatstragend sind. Staatlich legitimiertes Schuleschwänzen. Man muss ja schließlich auch wieder etwas dafür herauskriegen, dass man auf jeden Brief das blaue Notopfer Berlin drauf kleben muss.

Natürlich werden die Verwandten besucht. Das muss sein. Es gibt immer Kaffee und Kuchen und auch mal einen Geldschein. Und viel Familienklatsch. Immer wird von Karl erzählt, ich bin bestens über den fernen Verwandten unterrichten. Der verlorene Sohn. Der Riss durch Deutschland geht durch die Familie. Es ist schon irgendwie schlimm für Carl und Erna, dass ihr Sohn Künstler geworden ist, aber dann auch noch in der DDR! Und dann noch die Elisabeth geheiratet hat, die Dozentin an der Humboldt Universität ist. Angeblich für Marxismus-Leninismus (in Wirklichkeit war es wohl eher Germanistik), man fragt da lieber nicht nach. Deutsch-deutsche Familiengespräche verlangen in dieser Zeit viel Takt. Ich weiß nicht viel über Elisabeth, sie hat einmal Axel Eggebrecht interviewt, und ihre Adresse in Schöneiche steht noch in einem alten Adressbuch von mir. Der Marxismus-Leninismus hat mich in der Diskussion mit den Blauhemden nicht interessiert. Bei der sogenannten 68er Revolution nicht und heute auch nicht. Aber vor über fünfzig Jahren ist er das Schreckgespenst, das hinter der Grenze lauert.

Die Grenze vor dem Bau der Mauer ist in den Köpfen ja schlimmer als in der geographischen Wirklichkeit. Wenn Dinge in den Osten transportiert werden müssen, macht das Carls Chauffeur. Der ist der Schlattenschammes für alles, Carl kann nicht auf ihn verzichten. Wenn Carl sich einen Bungalow in Steglitz baut, lässt er gleich daneben einen für seinen Chauffeur bauen. Immer wenn ich sie besuche, sind sie am Klagen (aber irgendwie hat man das Gefühl, dass alle Berliner klagen), so nett sie sonst sind. Sie haben alle einen Pass der Bundesrepublik, sind offiziell auf Wohnsitze in Hilter oder Dissen gemeldet, aber in den Osten trauen sie sich nicht wirklich.

Familientreffen finden in Karls Atelier in Friedrichshain statt. Alle Berliner Verwandten lesen die Bild Zeitung, die in diesen Jahren ja Axel Springers Kampfblatt gegen die rote Gefahr ist, echte Frontberichterstattung, wenn man das nicht liest, ist man kein Berliner. Ich werde entgeistert angeguckt, weil ich mit der S-Bahn fahre. Das tut man nicht, hat Axel Springer gesagt, die gehört zur DDR Reichsbahn. Man solle die U-Bahn nehmen. You must take the A Train. Ich fahre weiterhin S-Bahn, ich finde die S-Bahn wunderbar, man kann mit ihr einmal ganz um Berlin fahren. In dem Herbst, in dem wir in Zehlendorf untergebracht sind, nehme ich diese tollen Doppeldeckerbusse, die nachts die Clayallee herunter rauschen. Die passen in meine Inszenierung vom einsamen Stadtwolf, nachts oben in leeren Bussen auf der Clayallee, beschlagene Scheiben, vorbeihuschende Neonleuchten, die nächtliche Lyrik der Großstadt.

Jedes Mal werden Denkmäler besichtigt. Plötzensee. Das Kriegsverbrechergefängnis in Spandau, in dem Rudolf Heß sitzt, die Zitadelle Spandau mit dem Juliusturm. Der Flughafen Tempelhof mit dem Luftbrückendenkmal. Das Kongresszentrum, bei dem kein Busfahrer den Witz mit der schwangeren Auster auslässt. Das sowjetische Ehrenmal im Tiergarten mit dem grünen Panzer davor und das imposante sowjetische Ehrenmal in Treptow. Bei einer Berlinreise habe ich einen gebrochenen Fuß, Sportunfall. Ich wollte aber unbedingt mit nach Berlin, und so humpel ich mit meinem Gipsfuß die lange Kiesallee von Treptow entlang bis zu dem Monument. Da weiß man, was man getan hat. Aber die Mosaiken in dem Kuppelraum unter dem Denkmal sind die Schmerzen schon wert. Onkel Karl wird mir später erzählen, dass das Aktmodell, das vormittags an der Hochschule für bildende Künste in Charlottenburg ist, nachmittags für die russischen Künstler Modell steht, die die Mosaiken des Ehrenmals Treptow schaffen. Dann wird sie Mütterchen Rußland.

Ich schleppe meine jeweiligen Freundinnen in diesen Jahren immer die Stalinallee, die eines Tages Karl Marx Allee heißt, entlang. Weise mit einer großzügigen Geste auf die Statuen der Helden der Arbeit und erkläre, dass die alle von meinem Onkel Karl sind. Damit kann man junge Frauen damals schon beeindrucken. Es stimmt natürlich nicht, einige der Figuren sind aber von ihm. Er hat diese Auftragsarbeiten nicht besonders gemocht. Sein Maxim Gorki (Bild) von 1971 steht im Gegensatz zu dieser Art von Kunst. In der Familie wird erzählt, dass er auf der Akademie in Moskau gewesen ist, um zu lernen, wie man nackte Arbeiter meißelt. Ich weiß es nicht, aber ich weiß, dass er in dieser Zeit an einer Figurengruppe Ernst Thälmann im Hamburger Aufstand gearbeitet hat (er hat in Junge Kunst 1958 darüber geschrieben). Er hat auch die Büste des von den Nazis ermordeten Schauspielers Hans Otto (dessen Beerdigung Gustav Gründgens bezahlt hatte) geschaffen, die in dem 1957 eingeführten Hans Otto Wettbewerb (eine Art Oscar der DDR) als Wanderpreis verliehen wurde. Eine Abbildung der Büste findet sich im Heft 3 (1959) der Zeitschrift Bildende Kunst. Da steht der Artikel zu Karl Lemke neben einem Artikel zu Carl Blechen, das hat ihn sicher gefreut.

Er beschickt regelmäßig die Deutsche Kunstausstellung, im Jahre 1962 mit der Bronze Maxim Gorki, die jetzt im Plastik-Park Leuna steht. Die Statue ist bei der Berliner Bildgießerei Seiler gegossen worden, wo alle Bildhauer der DDR arbeiten ließen. Und mit den Plastiken von Ernst Thälmann, von Hans Otto und Maxim Gorki bin ich schon mit der Aufzählung seiner 'politischen' Arbeiten am Ende. Man könnte noch die Karl Liebknecht Büste dazu zählen, die er 1978 er für das Schulzentrum in Barth (wohin er 1976 gezogen war) entworfen hat. Ein politischer Vorzeigekünstler, wie manche seiner Bildhauerkollegen, ist der Genosse Karl Lemke nicht. Der Maxim Gorki in Moskau (Bild) ist eine Statue, die man bewundern soll. Karls Maxim Gorki ist ein Mensch, den man begreifen kann. Er hat nichts Heroisches an sich; er wirkt verletzlich, wirkt wie eine Illustration zu Tschechows Satz: Ich glaube, dass eine Zeit kommen wird, wo das Werk Gorkis vergessen ist, aber es ist zweifelhaft, ob man auch in tausend Jahren den Menschen Gorki vergessen wird können.

Auch wenn er kein politischer Künstler war, hat Karl Lemke sich zum Sozialismus bekannt, so schreibt er 1959 in der Zeitschrift Junge Kunst (in der er mehrfach Stellung zur Kunst der Gegenwart bezieht): Und es tut gut, zu sehen, daß eine große Anzahl junger deutscher Bildhauer unter diesen Umständen zu Menschen wurden, für die diese unsere Welt eine erkennbare Welt ist. Aber die Bildhauerei ist nicht schon sozialistisch, weil sie realistisch ist. Der Künstler im Sozialismus muß seine Art zu leben, zu denken und zu empfinden so verändern, daß seine in ästhetische Gebilde umgeschmolzenen Erfahrungen von allen anderen Menschen gleichzeitig auch als ihre eigenen Erfahrungen begriffen werden können.

Es gibt von dem Maxim Gorki noch einen zweiten Abguss, der in Heringsdorf vor der Villa Irmgard (die einmal Maxim Gorki Museum hieß) stand. Die Statue hat man irgendwann einmal abgebaut und eingelagert. Irgendwie gefiel der Gemeindeverwaltung das Kunstwerk nicht (damit müssen Bildhauer immer leben), oder, wie es so schön im Amtsblatt der Gemeinde heißt: Umstritten waren die Persönlichkeit des Schriftstellers sowie die Abbildung seiner rechten Hand, die für viel Kritik sorgte. Aber es ist ja gerade diese rechte Hand, die den Betrachter festhält. Diese Hand ist etwas, was Roland Barthes in seinem Essay über die Photographie das punctum genannt hat.

Auf diese Hand kann der Künstler nicht verzichten. Karl schreibt einen Brief an die Verwaltung der Gemeinde Ostseebad Heringsdorf, in dem er sagt: Niemals habe ich in der Arbeit nur die Abbildung einer bestimmten Persönlichkeit gesehen. Deshalb war mir die Hand so wichtig. Die Größe Gorkis bestand gerade darin, dass ein Mensch aus den untersten Schichten die Kraft aufzubringen vermochte, die Vielfalt und Kompliziertheit der menschlichen Existenz beschreiben zu lernen und so einen vorderen Platz unter den großen Geistern zu erringen. Die Hand, gegen die man anläuft, an der man sich stoßen sollte, bedeutete den Griff des Künstlers nach seiner oft mühsam gefundenen Idee, die keinem in den Schoß fällt, die man sich aber auch nicht von einem gleichgültig Vorübergehenden entwenden lässt. Im Falle Gorkis gab es noch eine andere Bewandtnis. Einer meiner Lehrer schenkte mir den Hinweis, dass Gorkis Annäherung an die Welt nicht nur sehenden Auges erfolgt sei. Ich fand zahlreiche Belege, dass Geräusche, Lauschen ihm besondere sinnliche Eindrücke verschafft haben müssen. Entsprechend aber beschreibt einer seiner Gäste während der Zeit in Italien, Gorki habe nervös und unaufhörlich mit den Fingern getrommelt oder Papierchen, Nussschalen verbrannt, während er den Erzählenden lauschte. Seit dem 16. September 2012 (neunzig Jahre nach Gorkis Aufenthalt auf Usedom) steht Karls Maxim Gorki wieder vor der Villa Irmgard.

Grenzenlose Geduld ist das eigentliche Werkzeug, eine wichtige Voraussetzung, der Langsamkeit in sich zu trauen. Man lernt, eine Hervorhebung behutsam freigeben, die umliegende Fläche abzusenken, gewinnt das Bewußtsein der Hände. Doch sinnliches Glück hat nicht nur mit Berührung zu tun, auch mit dem Glanz, den die Augen trinken. Atmende Haut und zitternd lebendige Körnigkeit des Marmor beschenken mit dem Gefühl, endlich angenommen zu sein. Pygmalion, heißt es, verliebte sich ins Geschaffene, das zu leben begann. In Wahrheit muß nichts erwachen. Dem Schöpfer vertritt die Figur alle Bewegtheit der Welt. Diese Marmorplastik aus dem Jahre 1997 passt zu dem Zitat. Weil sie Geduld heißt.

Heute sind in Berlin noch viele Plastiken von ihm zu sehen. Seine Bremer Stadtmusikanten in Berlin gibt es in Usedom noch einmal (unten). Die vier Figuren, die sich sagten, wir gehen nach Bremen, etwas besseres als den Tod findest du überall, sind wohl auch eine kleine Hommage an die Bremer Verwandtschaft. Und immer umgeben von fröhlichen Kindern, sind sie auch weit weg von den nackten Helden der Arbeit. Wie zwei kleine Engel seien wir in unseren weißen Sommerkleidern über die grünen Rasen geschwebt, erinnert er sich an meine Cousine Hannelore und mich nach einem Besuch in Bremen kurz nach dem Krieg. Auf den Photos sehen meine Cousine und ich etwas erdverbundener als die Engel aus, aber ich verstehe, was er meint. Es ist dieses Photo im Gedächtnis, forever young.

Karl ist in vielen öffentlichen Sammlungen und auch im Schiller Nationalmuseum Marbach vertreten. Er beschickt regelmäßig Ausstellungen in der Deutschen Demokratischen Republik, sendet aber auch Arbeiten zu Ausstellungen in Finnland, Indien, der Sowjetunion und der Tschechoslowakei. Er hat seinen eigenen Weg gefunden, wahrscheinlich könnte er mit Jo Jastram sagen: Ich habe in und mit der DDR gelebt. Er hat keine Staatspreise erhalten wie sein Kollege Wieland Förster (der auch gerne Meisterschüler von Gustav Seitz gewesen wäre, aber Seitz ging 1958 nach Hamburg zurück).

Ich verfolge damals mit großem Interesse seine Karriere aus der Ferne (was in den Tagen vor dem geschwätzigen Internet nicht so leicht ist), häufig bringt Mammi aus Berlin Photos von neuen Arbeiten mit. Ich glaube manchmal, dass ich wahrscheinlich ein größerer Fan von ihm bin als seine Eltern. Meine Freunde, die Kunsthistoriker sind, reichen mir alle Notizen in Fachzeitschriften über ihn weiter. So entgeht mir nicht, dass er in den siebziger Jahren in Granit meißelt, 1974 schickt er einen Steinkopf aus Granit zur Kunstausstellung der DDR. Ich fand das damals sehr witzig, als ich das las, weil ich dabei sofort an den westfälischen Dickschädel denken musste, den die Lemkes alle haben. Ich habe mir ein Mäppchen angelegt, und lege alle Xerokopien und Notizen darin ab. Ich stückele mir das Puzzle von dem Bildhauer Karl Lemke Stück für Stück zusammen.

Wenig ist damit von dem benannt, was einer im Schädel herumwirbeln weiß. Wandernde Sternhaufen, aufgescheuchte Windhosen über magischen Denkgebirgen, immer gilt brodelnde Vielfalt für ebenso kostbar wie Härte fester Körper.

Und auch der große Stier aus Friedersdorfer Syenit in Schwedt (1975) findet meine Beachtung. Elisabeth und er leben sich auseinander, die Kinder sind schon groß. Bei der Verwandtschaft wird aus der roten Elisabeth (wie die Familie sie liebevoll ironisch nennt) plötzlich die arme Elisabeth, ein sehr witziges Phänomen. Sie kann die DDR verlassen, sie ist Reisekader, wie das so schön heißt. Sie ist auch mehrfach in Vegesack. Mein Vater mag sie sehr, es macht ihn traurig, dass er nach dem Fall der Mauer nichts mehr von ihr hört. Alle Briefe bleiben unbeantwortet. Karl ist 1971 Dozent für Plastik an der Kunsthochschule Weißensee geworden. Er wird Schüler wie Sylvia Hagen, Gertraud Wendlandt und Jan Skuin haben, die sich noch heute an ihn erinnern.

Er wird in zweiter Ehe eine junge Bildhauerin und Grafikerin heiraten, Margret Middell (zweite von links), die auch im Westen als Bildhauerin berühmt wird. Der Photograph Michael Engler (den ich kenne, weil er mit meiner Ex zur Schule gegangen ist und ihr Vater sein Lieblingslehrer war) dreht einmal einen Film über sie, der im Dritten Programm von N3 und bei 3sat gezeigt wird. Karl ist im ganzen Film an keiner Stelle zu sehen; er versteht es prima, sich unsichtbar zu machen.

Margret Middell ist die Meisterschülerin von Heinrich Drake gewesen. 1969 hatte sie den Will Lammert Preis der DDR erhalten (auf dem Photo sitzt sie rechts von Drake). Mit Heinrich Drake haben die Kunstwissenschaftler Peter Pachnicke und Hans-Jörg Schirmbeck auch Karl in Verbindung gebracht. Auf jeden Fall deuten sie in ihrem Ausstellungkatalog Bildhauerkunst aus der Deutschen Demokratischen Republik im Rheinischen Landesmuseum 1987 (der ersten und größten Ausstellung der DDR Bildhauerei in der Bundesrepublik) eine Beeinflussung Karls (und anderer Berliner Bildhauer) durch die Nestoren der Berliner Bildhauerei nach dem Kriege, für Heinrich Drake und Theo Balden an. Ich bin da nicht so sicher.

Als ich eines Tages eine junge Kunsthistorikerin aus Dresden zu Gast habe, zeigt sie auf den kleinen weiblichen Torso, der auf meinem schwarzen T+A Lautsprecher steht und sagt bewundernd: Gustav SeitzNein, sage ich, Onkel Karl. Man kann den Einfluss von Seitz auf seinen Meisterschüler schon erkennen. Selbst wenn man wie ich im Studium der Kunstgeschichte einen Bogen um das Gebiet Plastik gemacht hat. Gut, ich kann wohl einen Rodin erkennen, einen Maillol, ➱Brütt oder Moore. Aber da hört es auch schon auf. Die kleine Statue hat Karl seinem Vater 1965 zum siebzigsten Geburtstag geschenkt. Der hat sie gleich an meine Mutter weitergeschenkt. Kunstbanause. Karl wusste lange nicht, wo die kleine Statue geblieben war. Sein Vater hatte ihm nur gesagt, er habe sie an eine Nichte weiter gegeben. Jetzt habe ich sie, so bleibt sie in der Familie. Die Kunsthistorikerin aus Dresden kannte natürlich auch den Namen Margret Middell (dies ist eine Figur von Margret Middell). Sie hatte gerade einen Katalog der Skulpturen fertiggestellt, da ist Margret auch drin.

Erfährt einer jemals, wie sein wanderndes Augenpaar auf maßvoll beschränktem Körper Wechsel und Veränderung erlebt, wird Sehnsucht zum Genuß. Es gibt so viele Gesichtspunkte, die einzunehmen sind, Verwerfungen oder Überschneidungen, Höhlen und Gebirge. Stets andere Verschiedenartigkeiten schenken die Lust, immer wieder zu erkunden, ob diese oder jene Entsprechungen, Kontraste, Weichheiten, Härten, Tiefen, Höhen in befriedigende oder unzuträgliche Beziehungen zueinander geraten...

Ich habe Karl immer bewundert, seit ich klein war. Ein Bildhauer in der Familie, jemand, der den Absprung aus der bürgerlichen Welt wagt. Wenn ihn die Dombauhütte in Köln 1947 als Steinmetz genommen hätte, wäre sein Leben vielleicht anders verlaufen. Er hatte von der Dombauhütte zwar eine Zusage, bekam aber für das zerbombte Köln keine Zuzugsgenehmigung. Da hat er zuerst in Berlin Steinmetz gelernt, bevor der an die Kunsthochschule Charlottenburg ging. Karl ist nicht nur Bildhauer, er kann auch zeichnen, Holzschnitte drucken und Gedichte schreiben. Eins stelle ich mal eben hier hin, das kann ich tun, weil es schon einmal veröffentlicht wurde:

in jedem wind stehen
von jedem wuchs
alle farben
geduldig
den langen weg

Ich habe noch mehr Gedichte, aber die stehen in Briefen, das bleibt privat. Er ist wohl auch mit Dichtern befreundet. Mindestens einen hat er gekannt, denn ich habe bei Eckart Krumbholz gelesen, dass er dem früh verstorbenen Uwe Greßmann die Totenmaske abgenommen hat. Ich besitze nicht nur Gedichte von Karl und den kleinen Torso, ich habe auch einen Holzschnitt von ihm. Hängt seit Jahrzehnten in meinem Wohnzimmer. Das kleine Bild zeigt ein Seeufer mit einer seltsamen Säule, sehr abstrahiert. Signiert, datiert 1971. Als ich ihn eines Tages frage, was das für eine Säule ist, die mir Jahrzehnte lang ein Rätsel geblieben ist, hatte er völlig vergessen, dass es dieses Bild noch gab. Er wusste aber genau, wie es entstanden war. Er war am Plattensee, zum ersten Mal. Und da waren dieser See, der kleine Hafen und diese seltsame Säule. Ich war zum ersten Mal in Ungarn und vor Glück wie betrunken, sagt er und fügt hinzu und vielleicht auch ein bisschen realiter. Ich kenne das. Die Bilder bleiben, auch wenn man glaubt, sie vergessen zu haben.

Vor Jahren hat er mir einen Linolschnitt zum Geburtstag geschenkt, mit dem auf meine Vorliebe zu Raymond Chandler angespielt wurde. In einer eigentümlichen Schrifttype, die ich immer wiedererkenne, steht da in Versalien schwarz auf hellblauem Grund: ihr benehmen passt mir nicht muss keiner kaufen chandler. Ich nehme an, dass das die Übersetzung dieser Stelle aus The Big Sleep ist: I grinned at her with my head on one side. She flushed. Her hot black eyes looked mad. «I don't see what there is to be cagey about,» she snapped. «And I don't like your manners.» «I'm not crazy about yours,» I said. I didn't ask to see you. You sent for me. I don't mind your ritzing me or drinking your lunch out of a Scotch bottle. I don't mind your showing me your legs. They're very swell legs and it's a pleasure to make their acquaintance. I don't mind if you don't like my manners. They're pretty bad. I grieve over them during the long winter evenings. But don't waste your time trying to cross-examine me.»

Er kann das wunderbar, Buchstaben über die Fläche tanzen zu lassen. Ich habe einmal einen Linoldruck von ihm gesehen, auf dem der poetische Text stand: Dort überschlugen sich abwechselnd zwei Harmonikas die geschickt und verwegen gespielt aber von Wind und Gesang fast übertönt wurden und tanzten und wirbelten im Rauch des Schneesturms Mädchen wie Hexen dahin. Und diese Buchstaben wirbeln auch wie im Schneesturm dahin, Schrift und Text (von dem russischen Nobelpreisträger Iwan Bunin) werden eins. Es sind sehr poetische Arbeiten, diese Linoldrucke, man merkt, dass auch ein Dichter in dem Bildhauer steckt. Manche Zitate kann ich identifizieren: und die Geburt der Hölle, der mein ganzes Ich hingegeben, in meine Arme liefern würde, und nicht töten konnte diese sündhafte Hoffnung der tiefe Abscheu, der dann wieder wie ein Dolch meine Brust durchfuhr. Das steht bei ETA Hoffmann in der Erzählung Der Elementargeist, einer Erzählung aus der Welt der Bücher.

Aber manche Worte bleiben mir rätselhaft. Sind es Zitate aus der Literatur? Kommt es aus einem eigenen Gedicht? Für das Chandler Zitat bekam ich brieflich eine Erklärung: Beim Lesen (das war ein Kapitel aus dem Bremensien, das ich ihm gerade geschickt hatte) fiel mir Deine Liebe oder Verehrung oder beides für Raymond Chandler auf. Ich stieß einst in einem Patricia-Highsmith-Essay auf ein Zitat von ihm, in dem ich mich wiederzufinden glaubte, was den beigefügten Druck beförderte. Er schreibt immer wunderbare Briefe, voller Liebe und Zuneigung. Und mit einer schönen Schrift. Ich wollte, ich könnte das.

Der Bildhauer Karl Lemke feiert heute seinen neunzigsten Geburtstag. Als sein Kollege Wieland Förster in Dresden eine große Ausstellung bekam, habe ich ihn gefragt, ob ich nicht mal ein paar Strippen ziehen sollte, damit er auch eine Ausstellung bekommt. Aber er wollte nicht, er hat es lieber, dass alles ist wie es ist, beim Begreifen der Wirklichkeit muß die Kraft aufgebracht werden, seine Zeit anzunehmen und auch sich selbst. Er mag von seinen Skulpturen auch nichts weggeben, sie sind für ihn wie seine Kinder. Mit so etwas Schönem wie seinem Linolschnitt zum Geburtstag kann ich nicht aufwarten, da dachte ich mir, ich schreibe mal diese kleine Hommage für ihn. Er hat zwar keinen Computer, aber er wird das natürlich zu lesen bekommen.

Es ist eine eigentümliche Art von Ewigkeit, in der sich das sehr Nahe mit dem sehr Fernen trifft, für die der Torso ein Sinnbild wird. Er bleibt nicht mehr einfach nur Rest eines von der Natur oder dem Toben der Menschen beschädigten Ganzen, sondern wird Bekenntnis zur Vergänglichkeit des Lebens. Wie seltsam stillt die Monotonie des Arbeitens den Hunger, jene nicht von Menschen ersonnenen Gesetze zu entdecken, nach denen Leiber ihre Arme und Bäume ihre Äste sprießen lassen, ihre Wunden zu verschließen suchen.

Wenn man an einem 28. Februar geboren wird, dann wird man unter dem Sternzeichen Fische geboren. Ich weiß nicht viel von Sternzeichen, aber das mit den Fischen weiß ich, weil es auch mein Sternzeichen ist, das haben Karl und ich gemeinsam. Den Fisch verbinde ich mit ihm, nicht nur wegen des kleinen rötlichen Fisches in dem Sommer in Zwischenahn. Denn die erste Grafik, die ich von ihm sah, war die Figur eines Mädchens, das in die Umrisse eines Fisches eingeschlossen ist. Ich habe es Prinzessin Fisch getauft. Ich weiß, dass das ein Roman von Wilhelm Raabe ist, der nichts mit dem Bild zu tun hat. Aber ich habe den Titel immer so wunderbar gefunden. Es ist unten rechts Karl Lemke 1966 signiert, sonst nichts. Ich habe nie gewusst, was das Bild bedeutet. Vielleicht frage ich ihn einmal.

Die Gedichte und den Text über die Bildhauerei habe ich dem Katalog entnommen, der 1998 zur Ausstellung mit dem poetischen Titel Zärtlich wie Geduld im Neuen Kunsthaus Ahrenshoop erschienen ist. Die Redaktion des schönen kleinen Katalogs hatte Michael de Maizière (der Bruder von Thomas de Maizière).

Der Bildhauer Karl Lemke ist am 14. Oktober 2016 im Alter von zweiundneunzig Jahren gestorben. Zärtlich wie Geduld stand auch auf der Traueranzeige. So fern er war, er hat mich sein Leben lang begleitet, seit er mich als kleinen Pöks auf den Knien gehalten hat. Die Kinder, die auf dem Bild da oben im Planschbecken tobten, werden nicht gewusst haben, wer der Schöpfer der Plastik war, aber seine Kunst wird ihn überleben: vita brevis, ars longa.



Donnerstag, 27. Februar 2014

Höre


Vor dreihundertzehn Jahren wurde Johann Gottfried Höre geboren. Er schrieb sich manchmal auch  Hoere oder Horeius. Er sei ein guter Lateiner gewesen, hat sein Schüler Lessing gesagt. Da hätte er sich statt Horeius ja auch Audi nennen können, wenn es schon eine Latinisierung des Namens sein musste. Höre war ein Pädagoge, aber ich weiß nicht, ob er den Gang der Wissenschaft der Pädagogik beschleunigt hat. Er hat allerdings 1740 eine Gedichtsammlung für die Schule herausgegeben, die wohl die erste Lyrikanthologie für die deutsche Schule gewesen ist. Wahrscheinlich war der Inhalt genauso abschreckend wie der Titel des Werkes: Edle Früchte Teutscher Poeten, nach gefundem Geschmack berühmter Kenner für die lehrbegierige Schuljugend ausgedient.

Johann Gottfried Höre ist sicher eine Randfigur der Wissenschaft. Die Allgemeine Deutsche Biographie kennt ihn nicht, und in dem Allgemeinen Gelehrten-Lexikon von Gert A. Zischka, in dem sich die erstaunlichsten Leute finden, wird er nicht erwähnt. Höre wird aber in beinahe jeder Lessing Biographie erwähnt. Zum einen, weil er diesen Schüler (mit dem er große Schwierigkeiten hatte - er hatte wohl überhaupt wie viele Pädagogen Schwierigkeiten mit den Schülern) einmal admirabler Lessing genannt hatte. Und zum anderen, weil Höre Lessings jüngeren Bruder, als der auch zu der berühmten Fürstenschule St. Afra in Meißen kam, folgende Empfehlung mit auf den Weg gab: Nun geh' in Gottes Namen; sei fleissig aber nicht so naseweis wie dein Bruder.

Den naseweisen Lessing hat man schon früh von der Schule genommen, deren Rektor Johann Gottfried Höre eines Tages werden sollte. Denn schon 1746 schreibt der Rektor Theophilus Grabener an Lessings Vater: Er ist ein Pferd, das doppeltes Futter haben muß. Die Lectiones, die andern zu schwer werden, sind ihm kinderleicht. Wir können ihn fast nicht mehr brauchen. Und was tut unser junges Genie, der abmirable Lessing? Er schreibt seiner Mutter von der Universität Leipzig her einen Brief: Hochzuehrende Frau Mutter, Ich komme jung von Schulen, in der gewißen Ueberzeugung, daß mein ganzes Glück in den Büchern bestehe. [...] Ich lernte einsehen, die Bücher würden mich wohl gelehrt, aber nimmermehr zu einen Menschen machen. Ich wagte mich von meiner Stube unter meines gleichen. Guter Gott! was vor eine Ungleichheit wurde ich zwischen mir und andern gewahr. [...]  Ich legte die ernsthafften Bücher eine zeitlang auf die Seite, um mich in denjenigen umzusehn die weit angenehmer, und vielleicht eben so nützlich sind. Die Comoedien kamen mir zur erst in die Hand. Es mag unglaublich vorkommen, wem es will, mir haben sie sehr große Dienste gethan. Ich lernte daraus eine artige und gezwungne, ein grobe und natürliche Aufführung unterscheiden. Ich lernte wahre und falsche Tugenden daraus kennen, und die Laster eben so sehr wegen ihres lächerlichen als wegen ihrer Schändlichkeit fliehen. [...] Doch bald hätte ich den vornehmsten Nutzen, den die Lustspiele bey mir gehabt haben, vergeßen. Ich lernte mich selbst kennen, und seit der Zeit habe ich gewiß über niemanden mehr gelacht und gespottet als über mich selbst.

Komödien, man fasst es nicht. Und dafür hat das Kind Latein gelernt. Im Januar des Jahres 1748 gibt es die erfolgreiche Uraufführung des ➱Lustspiels Der junge Gelehrte durch die Theatertruppe der Friederike Caroline Neuber. Die Eltern rufen den Sohn im Februar besorgt über seinen Umgang mit dem fahrenden Volk nach Hause. Unter dem Vorwand, die Mutter liege im Sterben. Also, so schlimm, wie auf diesem Bild wird es mit ihm nicht gehen. Das Bild stammt aus dem Zyklus A Rake's Progress von William Hogarth. Lessing weiß, wer das ist, er wird die Übersetzung von Hogarths Buch Anatomy of Beauty rezensieren.

In diesem Zusammenhang sollte ich noch erwähnen, dass es von Hogarths moralischem Werk noch eine neuere Version gibt. Nämlich ➱Ronald Searles The Rake's Progress. Schauen Sie bitte unbedingt in ➱diesen Blog hinein, dort werden edle Früchte englischer Mahler, nach gefundem Geschmack berühmter Kenner für die lehrbegierige Schuljugend ausgedient. Zu Beginn des Sommersemesters kehrt Lessing nach Leipzig zurück, studiert jetzt allerdings Medizin. Die Eltern haben seine Schulden bezahlt, der junge Lessing ist allerdings so blöd, für die Schulden einiger Schauspieler zu bürgen. Ist die kleinbürgerliche Weisheit Holt die Wäsche rein, die Schauspieler kommen! nicht bis zu ihm gedrungen? Die Schauspieler verschwinden, er bleibt auf den Schulden sitzen. Ich bin mir niemals selbst zu einer unerträglichern Last gewesen als damals, schreibt er an seine Mutter. 

Hier könnte sein Leben aus der Bahn laufen, der admirable Lessing könnte so enden wie der Wüstling bei Hogarth. Aber was wäre der gymnasiale Deutschunterricht, wenn wir nicht diese moralischen Theaterstücke des bürgerlichen Trauerspiels des naseweisen Lessing hätten? Die Theaterform des bürgerlichen Trauerspiels hat er erfunden, sagt man. In Wirklichkeit haben es natürlich die Engländer erfunden. Die erfinden jetzt ja so ziemlich alles: das bürgerliche Trauerspiel, die ➱Ästhetik, die Tageszeitung (die Times gibt es seit 1785), den Roman. Und last but not least: die bürgerliche Herrenmode. Dass die wichtig ist, das hat unser admirabler Naseweis schon früh erkannt, so schreibt er 1749 in dem Rechtfertigungsbrief an seine Mutter: Ich hätte längst unterkommen können, wenn ich mir, was die Kleidung anbelangt, ein beßers Ansehen hätte machen können. Ja, Kleider machen Leute.

Aber bei unserem gescheiterten Studenten ist das keine philosophische Einsicht. Nein, das Kind will Geld für elegante Klamotten haben: Nun beynahe vor einem Iahre, hatten Sie mir eine neue Kleidung zu versprechen, die Gütigkeit gehabt. Sie schlagen mir es ab, unter dem Vorwande , als ob ich, ich weiß nicht wem zu Gefallen hier in Berlin wäre. Und dann kommt die trotzige Selbstbehauptung: Nach Hause komme ich nicht. Auf Universitäten gehe ich jezo auch nicht wieder, weil außerdem die Schulden mit meinem Stipendiis nicht können bezahlt werden, und ich Ihnen diesen Aufwand nicht zu muthen kan. Ich gehe ganz gewiß nach Wien, Hamburg oder Hannover. [...] Wenn ich auf meiner Wanderschafft nichts lerne so lerne ich mich doch in die Welt schicken. Nuzen genug! Ich werde doch wohl noch an einen Ort kommen, wo sie so einen Flickstein brauchen, wie mich.

In seinem ersten Theaterstück Der junge Gelehrte sieht die Welt natürlich ganz, ganz anders aus. Da empfiehlt schon gleich in der ersten Szene der Vater (Chrysander) dem allzu studierwilligen Sohn (Damis), sich mehr dem Vergnügen und dem Studium der Frauen (Ja, das Studium der Weiber ist schwer) hinzugeben. Aber lesen Sie selbst:

Chrysander. Immer über den verdammten Büchern! Mein Sohn, zuviel ist zuviel. Das Vergnügen ist so nötig als die Arbeit.
Damis. O Herr Vater, das Studieren ist mir Vergnügens genug. Wer neben den Wissenschaften noch andere Ergötzungen sucht, muß die wahre Süßigkeit derselben noch nicht geschmeckt haben.
Chrysander. Das sage nicht! Ich habe in meiner Jugend auch studiert; ich bin bis auf das Mark der Gelehrsamkeit gekommen. Aber daß ich beständig über den Büchern gelegen hätte, das ist nicht wahr. Ich ging spazieren; ich spielte; ich besuchte Gesellschaften; ich machte Bekanntschaft mit Frauenzimmern. Was der Vater in der Jugend getan hat, kann der Sohn auch tun; soll der Sohn auch tun. A bove majori discat arare minor! wie wir Lateiner reden. Besonders das Frauenzimmer laß dir, wie wir Lateiner reden, de meliori empfohlen sein! Das sind Narren, die einen jungen Menschen vor das Frauenzimmer ärger als vor Skorpionen warnen; die es ihm, wie wir Lateiner reden, cautius sanguine viperino zu fliehen befehlen. –
Damis. Cautius sanguine viperino? Ja, das ist noch Latein! Aber wie heißt die ganze Stelle?

Cur timet flavum Tiberim tangere? cur olivum
Sanguine viperino
Cautius vitat? – –

Oh, ich höre schon, Herr Vater, Sie haben auch nicht aus der Quelle geschöpft! Denn sonst würden Sie wissen, daß Horaz in ebender Ode die Liebe als eine sehr nachteilige Leidenschaft beschreibt, und das Frauenzimmer – –
Chrysander. Horaz! Horaz! Horaz war ein Italiener und meinet das italienische Frauenzimmer. Ja vor dem italienischen warne ich dich auch! das ist gefährlich! Ich habe einen guten Freund, der in seiner Jugend – – Doch still! man muß kein Ärgernis geben. – Das deutsche Frauenzimmer hingegen, o das deutsche! mit dem ist es ganz anders beschaffen. – – Ich würde der Mann nicht geworden sein, der ich doch bin, wenn mich das Frauenzimmer nicht vollends zugestutzt hätte. Ich dächte, man sähe mir's an. Du hast tote Bücher genug gelesen; guck einmal in ein lebendiges!
Damis. Ich erstaune – –
Chrysander. O du wirst noch mehr erstaunen, wenn du erst tiefer hineingehen wirst. Das Frauenzimmer, mußt du wissen, ist für einen jungen Menschen eine neue Welt, wo man so viel anzugaffen, so viel zu bewundern findet – –
Damis. Hören Sie mich doch! Ich erstaune, will ich sagen, Sie eine Sprache führen zu hören, in der wahrhaftig diejenigen Vorschriften nicht ausgedruckt waren, die Sie mir mit auf die hohe Schule gaben.

So entsteht die Literatur. Aus dem, was wir nicht haben im Leben.

Dienstag, 25. Februar 2014

Ludwigslust


Ich hätte gar nicht anhalten und aussteigen dürfen, das wusste ich. Aber diese seltsame Kirche da in Ludwigslust war ein zu verlockender Anblick. Ich war gerade dabei, sie zu photographieren, als sich auch schon der Ärger in Gestalt einen Volkspolizisten näherte. Man darf auf der Transitstraße Nummer 5 durch die DDR nicht aussteigen, auch jegliche Kontakte der Transitreisenden zur Bevölkerung waren offiziell unerwünscht. Wir sind in den achtziger Jahren, es gibt zwei Deutschlands.

Ich hätte ja die Autobahn von Helmstedt nach Marienborn nehmen können, um nach Berlin zu kommen. Da gab es immer diese gefürchteten Grenzkontrollen, die mit Gänsefleisch begannen. Also in einem Satz wie Gänsefleisch mal 'n Kofferraum uffmachen? Am Ende der ganzen Prozedur kam dann das stereotype gute Weiterfahrt. Irgendwie war ich die Autobahn leid, ich kannte die Strecke im Schlaf. Wenn man nicht durch die Werbung auf einer Autobahnbrücke aus dem Schlaf gerissen wurde (lesen Sie ➱hier mehr). Diesmal hatte ich also die Fernstraße 5 genommen. In Lauenburg war unser Deutschland zu Ende, dann kamen Orte wie Boizenburg (damals völlig verlassen), Ludwigslust, Perleberg und Kyritz. Der Ort wurde in diesem Blog im Zusammenhang mit ➱Nick Knatterton schon einmal erwähnt, Kyritz an der Knatter ist ein Ortsname, den man nie vergisst.

Mein Rencontre mit der Staatsmacht endete mit einem Happy End. Mein Photoapparat namens Werra (lesen Sie ➱hier mehr dazu), der die gleiche Farbe wie die Uniform des Vopos hatte, erwies sich als deus ex machina. Als ich nämlich meine Ausfuhrbescheinigung präsentieren konnte. Hier war ein Westler, der seine Kamera nicht wie hunderttausend andere aus der DDR geschmuggelt hatte, hier war einer, der sie im Westen gekauft hatte. Der Ton änderte sich völlig, ich durfte photographieren. Bekam natürlich auch Gute Weiterfahrt gewünscht. Devisen verändern alles. Die schwedischen Laster, die von Saßnitz durch die DDR bretterten, brauchten die am Straßenrand in ihren Wartburgs lauernden Vopos nicht zu fürchten.

Die monumentale Stadtkirche, die zuerst eine Hofkirche war, ist ein Teil größerer Bauanlagen, hier hatte sich im 18. Jahrhundert der Großherzog von Mecklenburg-Schwerin ein Schloss errichten lassen. Ein mecklenburgisches Versailles oder ein Sanssouci des Nordens hat man die Anlage genannt. Der kleine Ort Klenow bekommt 1754 auf Weisung des Herzogs Christian Ludwig den Namen Ludwigslust. Die alte Klenower Kirche wird abgetragen (die dort begrabenen von Klenows werden umgebettet), und der Baumeister Johann Joachim Busch errichtet diesen Bau mit den sechs dorische Säulen für die Vorhalle. Das Ganze erinnert ein wenig an Palladios Villa Rotonda (Bild), aber der Palladianismus breitet sich im 18. Jahrhundert überall aus, nicht nur in ➱England und ➱Amerika. Der Kunsthistoriker Carl von Lorck hat in der preußischen Schlichtheit eine latente Grundstruktur und eine ewige Klassizität gesehen. Und dieser Klassizismus findet sich zuerst im Ostseeraum, bevor er nach Berlin findet.

Die Kirche ist nicht geostet (ich musste dieses selten verwendete Wort mal eben in den Text schmuggeln. Wann kann man es schon mal gebrauchen?), sie ist von Nord nach Süd orientiert. Etwas anderes passte nicht in die Planung. Der Rest von Ludwigslust wurde später um Schloss, Kirche und den barocken Park herum gebaut. Damals wohnten hier nur die Hofbediensteten und die Handwerker, an einer Anlage wie dieser baut man Jahrzehnte. Der Park hat alles, was in der Kunst der Parkanlage damals chic ist, einen Englischen Garten, ein Schweizerhaus (auch von Johann Joachim Busch gebaut, es war der Lieblingsaufenthaltsort der Gattin des Erbprinzen Friedrich) und eine künstliche ➱Ruine. Der heutige Landschaftspark ist eine Zutat des 19. Jahrhunderts, die ursprüngliche barocke Gartenanlage wurde von 1852 bis 1860 durch Preußens berühmten Gartenarchitekten Peter Joseph Lenné umgestaltet.

Im Park gibt es eine Grabplatte für einen russischen Major aus dem napoleonischen Krieg, den Grafen Mussin Puschkin aus dem Isumschen Husarenregiment (ich nehme einmal an, dass er ein Verwandter des Dichters ist). Der war 1813 in dem Gefecht von Lüneburg gefallen, er hatte sich ein Grab in der Nähe einer russisch-orthodoxen Kirche gewünscht. Er wird es bekommen. So notiert der Erbprinz von Mecklenburg in seinem ➱Tagebuch im Jahre 1813: d. 4ten Aprill. Heute waren viele Menschen hier von Schwerin. Abends Ball. In Wismar hat der Dänische Consul officiel bekannt machen lassen daß von Dänischer Seite die Schiffarth völlig frey sey. Man sagt auch daß ein bedeutendes corps Dänen zu den Russen stoßen wird. Ein Schwedischer adjutant war gestern hier um den Durchmarsch von 20 - 30 000 Schweden anzuhalten welche alles baar bezahlen werden. Die guten Nachrichten folgen eine auf die andere. Gott gebe sein Gedeihen.

Der Ball endigte nicht sehr erfreulich, indem ein Detaschement Russischer Husaren ankam welches auf morgen die Ankunft der Leiche des Majors Grafen Mussin Puschkin meldete welcher in der glänzenden affaire von Luneburg blessirt und heute in Boitzenburg gestorben war. Die Leiche soll hier nach den Gebräuchen der Russischen Kirche begraben werden. d. 6ten Aprill. Diesen Morgen ist der Major Mussin Puschkin in meinem Garten nahe an der griechischen Capelle beerdiget worden. Die Ceremonie war äusserst angreifend und rührend, der Schmerz des unglücklichen Bruders war gränzenlos u. hat mich tief erschüttert. Nachmittags bin ich nach Schwerin gereiset. Das schöne Bild, das François Gérard vom Erbprinzen Friedrich Ludwig zu Mecklenburg gemalt hat, habe ich ➱hier schon einmal abgebildet.

Gérard hat die meisten seiner Portraitierten mit diesem verträumten romantischen Gesichtsausdruck gemalt, aber hier ist es schon richtig, Friedrich Ludwig war kein wirklicher Soldat. Seine Uniform ist keine Kostümierung, er war schon ein General. Aber wie ein Biograph schreibt: Friedrich Ludwig hat nie ein besonderes Interesse für militärische Angelegenheiten gehabt, hat auch deshalb, weil er selbst seine Unkenntnis auf diesem Gebiet erkannte, immer vermieden, eine praktisch-tätige Rolle, wie sie sonst einem Thronerben zuzukommen pflegte, zu spielen, und nur eine repräsentative eingenommen, sobald auch diese nicht zu umgehen war. So blieb auch diese Generallieutenants- und Regimentschefstellung eine reine Titelsache.

Friedrich Ludwig hat auch eine russische Generalsuniform, der Zar hat ihn zum Generallieutenant ernannt, als er dessen Tochter Elena Pavlova (hier im Portrait von Joseph Grassi) heiratete. Jahre später wird er bei Napoleon um Schonung seines Landes nachsuchen, Talleyrand fragt ihn, in welchem Militärdienst er sich befände, ob er in russischen Diensten sei? Darauf konnte Friedrich Ludwig nur entgegnen, daß Kaiser Paul ihn seinerzeit nur aus Gründen der Verwandtschaft zum Generallieutenant ernannt und ihm ein Regiment verliehen habe, dessen Uniform er abwechselnd mit der mecklenburgischen trage. In russischen Diensten sei er nie gewesen, er sei überhaupt militärischen Dingen abgeneigt. Doch als es im Freiheitskrieg wirklich darauf ankommt, ist Friedrich Ludwig der erste deutsche Landesherr, der Napoleon die Gefolgschaft aufkündigt und sich mit den Russen verbündet. Viel kann er den Russen an Truppen nicht anbieten, das Mecklenburg-Strelitz’sche Husaren-Regiment (aus dem das 1. Großherzoglich Mecklenburgisches Dragoner-Regiment Nr. 17 hervorgeht) ist gerade erst von Ernst Friedrich Wilhelm von Warburg gegründet worden. Die Verbundenheit mit den Russen wird in Ludwigslust bis 1992 dauern, aber das ist eine andere Geschichte.

Der Erbprinz hatte für seine Gattin eine kleine Kapelle eingerichtet, da hatte sie es besser als ihre Schwester Alexandra, die einen Habsburger heiratet und der in Wien nur Feindschaft entgegenschlägt, weil sie nicht auf ihren Glauben verzichten will. Aber die kleinen deutschen Fürsten sind in Glaubensdingen flexibler: Bei der Ankunft Ihrer Kaiserlichen Hoheit, der Frau Großfürstin Helenen Pawlowna, Erbherzogin von Mecklenburg-Schwerin in Ludwigslust Jahre 1800, wurde ein Zimmer im hiesigen Schloß zu einer griechischen Kapelle eingerichtet und hierin wurde der Gottesdienst bis zum Tode Ihrer Kaiserlichen Hoheit bis zum Jahre 1803 durch die von Rußland mitgebrachten Geistlichen, namentlich durch den Hofprediger Gabriel Dankow, und die Cantoren Stephan Maliutin, Joachim Rewin und Paul Dankow verrichtet. Im Jahre 1804 kehrten der Pope Dankow und der Cantor Dankow nach Rußland zurück.

Seine Gattin Elena Pavlova ist früh gestorben, der Erbprinz baut ein Mausoleum für sie. Mit dem von vier Säulen getragenen Portikus sieht es ein wenig wie eine Miniaturausgabe der Stadtkirche aus (oben). Das Mausoleum ist eben das, welches Friedrich Ludwig in seinem Tagebuch als seine griechische Capelle bezeichnet. In dessen Nachbarschaft er den russischen Grafen Mussin Puschkin beerdigen läßt. Die Pläne für das Mausoleum lieferten der Däne Joseph Christian Lillie (der das Lübecker Behnhaus gebaut hat und die Inneneinrichtung für Schloss Liselund entwarf) und der damals in Hamburg lebende Franzose Joseph Ramée. Die Hamburger erinnern sich an diesen Franzosen gern (an ➱Davoût und ➱Bourienne weniger), nicht zuletzt, weil er Baurs Park angelegt hat. Diese kolorierte Zeichnung des Innenraums des Mausoleums stammt von Johann Heinrich Suhrlandt. Der auch im Auftrag seines Landesherren die Hofkirche Ludwigslust ausgemalt hat.

Das Gemälde habe ich an jenem Sommertag Ende der siebziger Jahre nicht sehen können. Suhrlandt hatte mit dem monumentalen Gemälde etwas vollendet, was sein Vorgänger der Hofmaler Johann Dietrich Findorff (der Bruder des Moorkommissars ➱Jürgen Christian Findorff) Jahrzehnte zuvor begonnen hatte. Ein mehrdimensionales Gemälde, das die Verkündigung der Hirten darstellt. Mit mehr als 350 Quadratmeter Fläche überspannt es den den gesamten Altarbereich, hinter den auf Karton gemalten Ebenen des Bildes sind die Orgel und die Sängeremporen verborgen. Da feiert das Barock seinen letzten Triumph, draußen Klassizismus, innen Barock.

Ich habe in der letzten Woche das Buch Die Stadtkirchen in Mecklenburg von Horst Ende, 1984 im Auftrag der Evangelischen Kirche der DDR gedruckt, für einen Euro antiquarisch gefunden. Faszinierend. Ich bin zwar in meinem Studium bei zwei Exkursionen zum Thema norddeutsche Backsteingotik gewesen, aber damals war Deutschland für uns hinter Lübeck zu Ende, sodass ich vieles gar nicht kannte. Beim Durchblättern des Buches sah ich plötzlich die Kirche von Ludwigslust, da fiel mir die Sache mit meinem Photo wieder ein. Und dann musste ich natürlich alles darüber lesen. Um ein wenig darüber zu schreiben. Der Fremdenverkehrsverein Ludwiglust wird mir dankbar sein. Es ist heute natürlich alles schöner als an jenem Nachmittag, als ich die Kirche photographierte. Die russische Garnison ist abgezogen, die Wilhelm Pieck Straße heißt wieder Schlossstraße, der ICE hält hier und einen Tatort Mord in Ludwigslust gab es auch schon.

Und für die Literaturfreunde sei noch angemerkt, dass das die Vorlage für das kleine Fürstentum von Thomas Manns Roman Königliche Hoheit (ja, das sind natürlich ➱Dieter Borsche und Ruth Leuwerik) wahrscheinlich Mecklenburg-Strelitz ist. Der Film wurde aber nicht in Schwerin oder Ludwigslust gedreht, sondern in Göttingen und Fulda. Aber ein schönes Gedicht auf Ludwigslust habe ich noch, geschrieben von Gertrud von le Fort, die ihre Jugend hier verbrachte. Lesen Sie ➱hier Meine kleine Stadt und ich. Peter Maffays Konzert in Ludwigslust erspare ich Ihnen mal.