Mittwoch, 30. April 2014

Frisia non cantat


Das Zitat Frisia non cantat ist von Tacitus in seinem Buch Germania auf die Holländer gemünzt gewesen. Also diese Nation, der wir Heintje und André Rieu verdanken. Aber es wird häufig leicht bösartig auf ganz Norddeutschland von Ost- bis Nordfriesland bezogen. Und dabei haben wir doch im nördlichsten Bundesland einmal Sänger wie Fiede Kay, Knut Kiesewetter und ➱Hannes Wader gehabt. Und einen Pianisten und Dirigenten wie Justus Frantz. Das wäre jetzt unser Äquivalent für André Rieu. Aber Hannes Wader ist weggezogen, von Knut Kiesewetter hört man auch nichts mehr. Justus Frantz lebt auf Gran Canaria und vermietet seine Villa. Doch das Musik Festival, das er begründete, das gibt es immer noch. Denen habe ich mal einen Gefallen getan, wofür sich Leonard Bernstein persönlich bei mir bedankte. Natürlich nur am Telephon. Ich glaube, er hatte schon einen Whisky getrunken, seine Stimme klang sehr rauchig. Da würde jetzt Frisia non cantat, sed bibit passen. Steht nicht bei Tacitus, ist Küchenlatein.

Aber ich schweife ab, ich muss auf das Frisia non cantat zurückkommen und auf die Dichter des Landes. Ja, das haben Sie richtig gelesen. Und damit meine ich jetzt nicht Autoren wie Theodor Storm, Klaus Groth, Wilhelm Lehmann oder Günter Grass, die einem sofort einfallen würden; es gibt noch viel mehr, wie diese ➱Liste vom Literaturhaus Schleswig Holstein zeigt. Einen schönen  Einblick in diese Vielfalt gibt der Band Stimmenvielfalt: Gedichte aus Schleswig Holstein. Vom Barock bis in die Gegenwart, den Peter Nicolaisen 2012 herausgegeben hat. 656 Seiten stark. Zweisprachig. Auf jeden Fall für die dänischen Gedichte. Bei einem Dichter wie Klaus Groth hat man vorausgesetzt, dass die Leser des Plattdeutschen mächtig sind. ➱Klaus Groth kommt aus Schleswig-Hostein wie Hebbel, Geibel und Storm. Man findet sie mit repräsentativen Gedichten natürlich in diesem Band.

Nicht ganz so selbstverständlich sind die Namen ➱Hans Christian Andersen und Theodor Fontane. Aber auch ihre Aufnahme in den Band ist berechtigt. Kaum ein anderer dänischer Dichter ist so gerne durch Schleswig-Holstein gereist wie Hans Christian Andersen. Und er hat darüber geschrieben, wie das Buch Die fünffache Seereise: Mit Hans Christian Andersen in Schleswig und Holstein von Heinrich Detering und Günter Grass (beide Herausgeber sind als Dichter auch in dem Band Stimmenvielfalt) verdeutlicht.

Und Theodor Fontane, den wir immer mit der Mark Brandenburg, aber selten mit Schleswig-Holstein verbinden, hatte zu den Herzogtümern ein besonderes Verhältnis. Immerhin spielt der Roman Unwiederbringlich nicht in der Mark, sondern in Schleswig-Holstein. Fontane war mit Theodor Storm befreundet, ihr Briefwechsel zeigt eine große Verbundenheit. Fontane mochte auch das Werk von Klaus Groth, zu einer echten Freundschaft kam es jedoch nicht, wie folgende Briefstelle zeigt: ... empfing ich Besuch von Klaus Groth, der eine Stunde lang mit mir plauderte; ich war sehr befriedigt, hoffentlich er auch, trotzdem ich drei oder vier faux pas gemacht habe. Aber in einer Stunde ist dies eigentlich wenig. Für sein Buch über den schleswig-holsteinischen Krieg hat er Land und Leute genau kennengelernt.

Und er plante noch mehr, wie man dem Buch des Fontane Sammlers Christian Andree entnehmen kann, der Mein skandinavisches Buch: Reisen durch Dänemark, Jütland und Schleswig herausgegeben hat. Das Land, das in der französischen Revolution vielen Adligen und nach 1945 einer Million Vertriebener eine neue Heimat bot, hat neben Hans Christian Andersen und Fontane immer wieder Schriftsteller angezogen. Hans Fallada hat Neumünster auf die Landkarte der Literatur geschrieben. Hans-Jürgen Heise kam 1958 aus Berlin nach Kiel, später folgten ihm Günter Kunert und Sarah Kirsch, die die DDR im Unfrieden verlassen hatten.

Einen Autor hat man in diesen Band nicht aufgenommen, vielleicht, weil sein Aufenthalt in Kiel nur wenige Jahre währte. Da wollte er auch überhaupt nicht hin, der Student Georg Neumark, der nach Königsberg wollte. Aber in den Wirren des Dreißigjährigen Krieges war er in Hamburg hängengeblieben, von dort hatte ihn ein Bierkutscher nach Kiel mitgenommen. Ein Pastor namens Nikolaus Becker und der Physikus Poul Moth (der noch Leibarzt des dänischen Königs werden wird und dessen Tochter die Geliebte des dänischen Königs Christian V werden und ihm fünf Kinder gebären wird) nahmen sich des heruntergekommenen jungen Mannes an und stellten ihn als Hauslehrer ein. Aus Dankbarkeit schrieb er ein Lied, das wir bis heute kennen:

Wer nur den lieben Gott läst walten
Und hoffet auf Ihn allezeit
Der wird Ihn wunderlich erhalten
In aller Noht und Traurigkeit.
Wer Gott dem Allerhöchsten traut
Der hat auf keinen Sand gebaut.


Ein reisender Scholar begründet natürlich noch keine Dichterschule, aber für Dierk Puls ist er in seinem Buch Dichter und Dichtung in Kiel der Beginn schleswig-holsteinischen Dichtens. In Peter Nicolaisens Anthologie gibt es jedoch eine Vielzahl von Dichtern vor Georg Neumark. Autoren von denen wir alle wahrscheinlich noch nicht gehört haben: Anna Ovena Hoyers, Anders Arrebo, Heinrich Hudemann oder Gabriel Voigtländer (der einmal Feldtrompeter bei Wallenstein war). Für alle unbekannten (und bekannten Namen) in diesem Band gibt es am Ende selbstverständlich einen ausführlichen biographischen Artikel, der über die jeweiligen Dichter informiert. Eigentlich sind es die vielen unbekannten Weber dieses literarischen Fleckerlteppichs zwischen Eider und Elbe, die das Buch interessanter machen als die Dichter, die man eh schon kennt.

Mit Johann Rist taucht dann eine Name auf, den wir kennen. Und von nun an werden wir vielen Bekannten begegnen. Wie ➱Heinrich Voß oder Friedrich Klopstock (der das ➱Schlittschuhlaufen liebte). Immerhin nannte man ja Eutin einmal das Weimar des Nordens. Und auch Emkendorf. Dort  konnte es sich die Gräfin Friederike Juliane von Reventlow leisten, sich von Angelika Kauffmann malen zu lassen. Das Geld für den Unterhalt des Musenhofs kam natürlich von ➱Pappi, der als dänischer Finanzminister ganz gut verdiente, aber im transatlantischen Sklavenhandel Millionen machte. Das Weimar des Nordens in Emkendorf ist mit dem Blut der Slaven erkauft, das erzählt einem heute im Schloss natürlich niemand.

Der schleswig-holsteinische Ministerpräsident, der letztens seine im Landtag herumflennende Kultusministerin (die hat übrigens ➱hier einen viel gelesenen Post) trösten musste, behauptete im Parlament, dass die Kieler Uni 450 Jahre alt wird. Aber das stimmt nicht ganz, sie wird im nächsten Jahr lediglich 350 Jahre alt. Sie wirbt heute mit dem Schlagwort Exzellenz und behauptet, dass sie seit 350 Jahren ganz weit oben sei. Dabei war sie jahrhundertelang nur eine bessere Lateinschule. Mit schlechtem Ruf. Viele Studenten sind in einem Zustand innerer Rohheit, schreibt Johann Georg Rist Ende des 18. Jahrhunderts. Aus Kiel kommt nicht viel. Die literarische Kultur blüht auf den Musenhöfen Eutin und Emkendorf oder an den Höfen von Schleswig und Kopenhagen. Und im Verborgenen auf dem Lande. Aber der Adel dichtet auch selbst, so finden sich in dem Band Gedichte von dem Grafen Friedrich Leopold Stolberg, der Prinzessin Feodora zu Schleswig-Holstein, dem Prinzen Emil von Schoenaich-Carolath (den man auch den Dichterprinzen aus der Haseldorfer Marsch nannte) und der Gräfin Franziska zu Revenlow.

Eine solche Anthologie, die das versammelt, was im Gebiet der Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg und im Bistum Lübeck gedichtet wurde, hat es noch nie zuvor gegeben. Nicht, dass hier einer Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften das Wort geredet werden soll, wie sie der Germanist Josef Nadler (dessen Thesen von den Nazis gerne aufgenommen wurden) in den zwanziger Jahren vorgelegt hat. Im Nachwort zu dem Buch weist Peter Nicolaisen darauf hin, dass es schon erste Versuche gegeben hat, die schleswig-holsteinischen Dichter zu erfassen. So veröffentlichte schon 1687 Johannes Moller das Schriftstellerlexikon Cimbria literata: Sive Scriptorum Ducatus Utriusque Slesvicensis Et Holsatici, Quibus Et Alii Vicini Quidam Accensentur, Historia Literaria Tripartita. Aber dann hat es Jahrhunderte gedauert, bis Horst Joachim Frank seine dreibändige Literatur in Schleswig-Holstein herausbringen konnte. Die leider, durch den Tod des Verfasser bedingt, im 19. Jahrhundert steckenbleibt und mit Detlev von Liliencron endet.

Die Mitte des 19. Jahrhunderts markiert einen Einschnitt in der Geschichte des Landes. Bisher hatten Dänen und Deutsche doch mehr oder weniger friedlich in dem Lande gelebt, jetzt bringt der Nationalismus von 1848 alles durcheinander (lesen Sie doch einmal den Post ➱Provisorische Regierung).  Jetzt will man nationalistische Lyrik, das ist die Stunde von ➱Emanuel Geibel, die Stunde des Schleswig-Holstein Liedes. Nein, nicht die Sache von Herrn Pastor sien Kauh, in der sich die schöne Zeile Schleswig-Holstein, meerumschlungen, handelte mit Ossenzungen findet. Jetzt braucht man solche Verse:

Schleswig-Holstein, meerumschlungen,
deutscher Sitte hohe Wacht,
wahre treu, was schwer errungen,
bis ein schönrer Morgen tagt!
Schleswig-Holstein, stammverwandt,
wanke nicht, mein Vaterland
Schleswig-Holstein, stammverwandt,
wanke nicht, mein Vaterland 

Man sucht dieses Lied - wie auch die in der britischen Kolonie ➱Helgoland gedichteten Zeilen Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt - vergeblich in der Anthologie. Ganz bewusst haben wir daher auf nationalpatriotische Lyrik in dem Band verzichtet, hat Peter Nicolaisen bei der Vorstellung des Buches gesagt. Das unterstützte auch Henrik Becker-Christensen, dänischer Generalkonsul in Flensburg: Die Konflikte der vergangenen Jahrhunderte sind Geschichte. Heute herrscht in der Region ein großes Gemeinschaftsgefühl, das Grenzen überwindet... Die Gemeinsamkeiten sind eine Chance für die Zukunft. Vielleicht ist dieses meerumschlungene Land sogar ein Vorbild für das Zusammenleben in Europa.

Wir sind in Kiel heute immer noch ein klein wenig dänisch. Wir haben wir natürlich eine Dänische Straße, es ist unsere hübscheste Straße. Die Dänen würden sagen hyggelig. Hier steht auch das Haus, in dem der ➱Kieler Frieden geschlossen wurde. Und in der Buchhandlung Erichsen und Niehrenheim  gibt es mit Ilse Hackländer (die auch für das Königlich Dänischen Konsulat tätig ist) eine dänische Buchhändlerin. Beim ➱Herrenausstatter Kellys gab es in den Anfangsjahren erstklassige Flanellhosen von Hobson of Copenhagen (der Firmenname dieser untergegangen Firma ist irgendwann einmal von d'Avenza gekauft worden) und Mäntel von Christonette. Die machten damals die besten ➱Mäntel in Europa; später gingen sie unter, der Name wurde von den Miltenberger Kleiderwerken (Daniel Hechter) gekauft. Heute kommt leider keine Luxusmode mehr aus Dänemark, nur noch Freizeitkleidung. Leider die europäische Zukunft. In den fünfziger Jahren trugen Dänen Flanellhosen und Tattersall Hemden und sahen aus wie Engländer, heute ist das leider nicht mehr so.

Einen dänischen Honorarkosul hat die Stadt Kiel auch. Und die Museen ➱Warleberger Hof und Kunsthalle haben in der Vergangenheit eine Vielzahl von Ausstellungen dänischer Kunst (und Kunst der Grenzregion, wie die Künstlerkolonie Ekensund) gezeigt. Die von ➱Jens Christian Jensen organisierte Ausstellung Vor hundert Jahren: Dänemark und Deutschland 1864-1900 ist europaweit beachtet worden. In einer kleineren Dimension hat zum Beispiel die Galerie Rieck in den letzten Jahren sehr schöne Verkaufsausstellungen dänischer Kunst in Kiel organisiert.

Aus dem oben erwähnten Post ➱Dänische Kunst muss ich mal eben einen Absatz zitieren: Selbst wenn ich niemals in Skagen oder Kopenhagen gewesen wäre, wenn man in Kiel Kunstgeschichte studierte, konnte man der dänischen Kunst nicht entkommen. Ich denke noch mit großer Nostalgie an eine Vorlesung des Kopenhagener Professors Otto Norn und an Exkursionen nach Dänemark im Unibus mit Professor Alfred Kamphausen zurück. Und man konnte damals in dem Land, in dem man keine deutsche Flagge hissen darf, wo es köstliche Røde Pølser gab und wo fünfzig Meter hinter der graense ein riesiges Plakat mit der Aufschrift Lesbiesche Libe auf einen Pornoladen hinwies, auch sehr preisgünstig dänische Kunst in den Antiquitätengeschäften kaufen. Das kann man heute immer noch, aber einen Købke bekommt man natürlich nicht mehr.

Und vielleicht sollte ich bei der Vielzahl unserer skandinavischen Verbindungen noch Wolfgang Butt erwähnen, der einmal Professor für Skandinavistik an der Uni Kiel war. Danach hatte er einen Kleinverlag, der skandinavische Krimis - lange vor Henning Mankell (der hier einen ➱Post hat) - nach Deutschland brachte. Der Universität wird Butt nicht nachtrauern, als Übersetzer von Mankell (und Arne Dahl) verdient er heute gutes Geld. Am Gelde hängt natürlich alles, auch die kulturellen Beziehungen zu unseren nördlichen Nachbarn. An dieser Stelle muss ich hier eine Institution erwähnen, die ansonsten kaum positive Erwähnungen verdient, nämlich die HSH Nordbank. Die über ihre Kunststiftung HSH Nordbank die Drucklegung des Bandes Stimmenvielfalt, wie auch eines weiteren Bandes mit dem Titel Klangraum. Erzählungen aus Schleswig-Holstein: Vom Mittelalter bis in die Gegenwart (Herausgeber Heinrich Detering, Maren Ermisch und Peter Nicolaisen) ermöglicht hat. In dieser Reihe, für die der Literaturprofessor (und Dichter) Heinrich Detering verantwortlich zeichnet, sollen noch zwei weitere Bände erscheinen.

Vierhundert Jahre Lyrik aus dem meerumschlungenen Schleswig-Holstein in beinahe vierhundert Gedichten. Vom Barock bis in die Moderne. Alle Regionen sind vertreten, Lübeck mit Emanuel Geibel, Ostholstein mit Kay Hoff (dem Autor des wunderbaren Romans Bödelstedt oder Würstchen bürgerlich), Helgoland mit James Krüss (den wir heute eher als Kinderbuchautor kennen) auch. Und auch die Landeshauptstadt mit Hans-Jürgen Heise, Heinrich Detering, Arne Rautenberg und Dirk von Petersdorff (der ➱hier schon einen Post hatte). Es ist ein gewaltiges Unterfangen und eine bewundernswerte Leistung des Herausgebers ➱Peter Nicolaisen. Ein Buch, das zum Lesen und Wiederlesen einlädt. Nicolaisen begann sein Nachwort mit einem Zitat von Wilhelm Lehmann, der über seine Landsleute sagte, sie sprächen mit großen schweren Lauten, als gingen die Worte auf Holzschuhen. Und er endet sein Nachwort mit dem Satz: Spätestens, wenn man Gedichte von Karin Johannsen-Bojsen, Arne Rautenberg, Dirk von Petersdorff oder Jan Wagner liest, weiß man, dass die Wörter in der heutigen schleswig-holsteinischen Lyrik leicht und luftig sein können und keineswegs auf Holzschuhen daherkommen, einerlei, welcher der hier angesprochenen Sprachen sie entstammen. Der Werbespruch da oben hat das Land schon eine sechsstellige Summe gekostet und wird à la longue wohl noch teurer. Die Anthologie Stimmenvielfalt kostet den Leser 25 Euro und leistet mehr für das Land als diese überflüssige Kampagne.

Es fällt mir heute nicht schwer, aus den vielen Gedichten in dem Band Stimmenvielfalt für den letzten Tag des Poetry Month eines auszuwählen. Ich nehme einfach mein Lieblingsgedicht. Es ist ein Gedicht von Klaus Groth, das auf der Insel Fehmarn geschrieben wurde und sich in der Sammlung Quickborn findet:

Ik wull, wi weern noch kleen, Jehann,
Do weer de Welt so groot!
Wi seten op den Steen, Jehann,
Weest noch? bi Nawers Soot.
An'n Heben seil de stille Maan,
Wi segen, wo he leep,
Un snacken, wo de Himmel hoch
Un wo de Soot wull deep.

Weest noch, wo still dat weer, Jehann?
Dor röhr keen Blatt an'n Boom.
So is dat nu nich mehr, Jehann,
As höchstens noch in'n Droom.
Ach nee, wenn dor de Scheper sung,
Alleen in't wiede Feld:
Ni wahr, Jehann? dat weer en Ton!
De eenzige op de Welt.

Mitünner inne Schummertied
Denn ward mi so to Moot
Denn löppt mi't langs den Rügg so hitt,
As domals bi den Soot.
Denn dreih ik mi so hastig üm,
As weer ik nich alleen:
Doch allens, wat ik finn, Jehann,
Dat is - ik stahn un ween.

Sonntag, 27. April 2014

Des Königs Jaguar


Die königliche Yacht Dannebrog liegt im Limfjord, im Hafen von Nyköbing. Sie könnte einen neuen Anstrich vertragen, man sieht es ihr an (wenn man auf einem kleinen Unterweserkaff kommt, das nur aus Werften besteht und wenn man bei einem Schiff als erstes auf die Nietenköpfe guckt), dass sie ein Vierteljahrhundert alt ist. Aber nichts ist hier in Dänemark wirklich neu, außer den Exponaten in Den Permanente in Kopenhagen. Im Zweiten Weltkrieg ist die Yacht ein Lazarettschiff gewesen. Die Verwundeten wurden nicht im Vorderteil des Schiffes untergebracht, wo die Mannschaftsquartiere sind, sondern in dem Teil des Schiffes, der für das Königshaus reserviert ist. Das ist Dänemark.

Es ist ein wunderbarer Juliabend. Die Wachen an Bord pfeifen Seite, es wird salutiert. Der König geht von Bord. Er ist schlecht gelaunt und flucht leise vor sich hin, das kann man auch verstehen, wenn man kein Dänisch versteht. Er ist beim Direktor der Austernfischerei zum Abendessen eingeladen und er will pünktlich sein. Punktlighet är kungars artighet, unter diesem Slogan hatte die Schweizer Uhrenfirma Omega vor wenigen Jahren mit einem Bild seines schwedischen Königskollegen geworben, der gerade auf seine Omega schaut. Das Königshaus hatte die leichte Impertinenz der Anzeige durchgehen lassen, um zu zeigen, wie volkstümlich man ist. So was hat Frederik nicht nötig. Er ist volkstümlich. Er ist während der deutschen Besetzung im Zweiten Weltkrieg als Zeichen des Widerstands jeden Abend in Marineuniform durch Kopenhagen geritten, im Winter mit Zeitungspapier unter der Uniform, er hat sich den Judenstern an die Uniform gesteckt, glaubt jeder Däne. Allerdings sind diese Geschichten ein bisschen apokryph und außerdem verwechseln sie ihn inzwischen mit seinem Vater. 

Er ist aber ein vorzüglicher Pianist und hat das Orchester des königlichen Theaters oft ➱dirigiert (heute habe ich sogar CDs von ihm). Niemand im Königreich ist so populär wie der König, vielleicht mit der Ausnahme von Niels Bohr. Nobelpreisträger, Mitglied des Widerstands. Der rothaarige Organist Ebbe A. aus Odense (der im Urlaub immer die Romanen mit die Mörders liest) hat mir erzählt, wie sein alter grüner Saab einmal in Kopenhagen von einem amerikanischen Straßenkreuzer angefahren wurde, der eine Einbahnstraße in falscher Richtung befuhr. Als er wutentbrannt auf den Fahrer zustürzte, sah er, dass er ➱Niels Bohr vor sich hatte, dem das schrecklich peinlich war. Aber Herr Bohr, das macht doch gar nichts, es ist doch gar nichts passiert. Er hat die Beule im Kotflügel nie reparieren lassen, als Erinnerung an diesen Augenblick. 

Frederik lässt am Fuße der Gangway mit lauter Stimme zum Schiff gewandt jeden wissen, was er von unpünktlichen Prinzessinnen hält, die nicht rechtzeitig in ihre Abendkleider kommen. Der König trägt seine Admiralsuniform, mit weißen Handschuhen. Er geht zu seinem Auto, er braucht keinen Chauffeur. Um den riesigen Jaguar Mark VII herum (dass dies ein Jaguar ist, erkenne ich sofort: Jugendliche in dieser Zeit kennen nicht nur alle Photoapparate, sondern auch alle Automarken) steht eine kleine Gruppe von Dänen. Und ich. Es gibt kein Sicherheitspersonal. Man munkelt, dass der König sich einen Rolls-Royce bestellt hat. Was für große Erleichterung unter dänischen Millionären sorgen wird. Denn solange der König keinen Rolls-Royce fährt, gehört es sich in Dänemark nicht, solch ein Auto zu besitzen. 

Aber diesen Wagen liebt der König. Der Jaguar, der aussieht wie ein Rolls, ist dunkelblau, hat auf dem Nummernschild eine kleine Krone und die Nummer 1. Jemand fragt den König nach den PS-Zahlen. Frederik lebt auf, zieht seine weißen Handschuhe aus und öffnet persönlich die Motorhaube, damit alle den Motor sehen können. Dann schüttelt er allen die Hand, steigt in den Wagen und fährt los. Die Prinzessinnen werden wenig später in einen dunkelblauen Buick steigen. Ein richtiger König hat mir die Hand geschüttelt. In der Tiefgarage meines Herzens, wo die Autos stehen, von denen man träumt, wird immer ein dunkelblauer großer Jaguar Mark VII stehen.

Die dänische Krone hat dann als Staatskarosse einen Rolls Royce Silver Wraith (mit sieben Sitzen) angeschafft, und Frederik hat sich ein Bentley Cabrio gekauft. Da waren die dänischen Millionäre aber froh. Es war mir schon klar, dass die Erwähnung dieser Geschichte in dem Post ➱Traumwagen bei einigen Lesern den Wunsch weckte, sie sofort hören zu wollen. Ich brauchte es nicht aufzuschreiben, es stand schon in meinen ➱Bremensien. Es musste jetzt ein Gedicht dafür gefunden werden. Ich besitze leider nur ein Buch mit dänischen Gedichten. Und aus dem habe ich schon im April 2011 in dem Post ➱Dänische Kunst das Gedicht von Klaus Rifbjerg zitiert. Und ich brauchte etwas, was mit Booten oder Yachten zu tun hat. Und einem maritimen Unglück. Ich habe da noch etwas Kurioses auf der Geschichte der Dannebrog zum Schluss. So nahm ich denn von Jens Peter Jacobsen das Gedicht Fahr hin, mein Boot aus der Sammlung Hervert Sperring:

Fahr hin, mein Boot

Fahr hin, mein Boot, fahr hin, mein Boot,
In unbekannte Weiten,
Der Leidenschaften Strom dich führt,
Laß steuerlos dich gleiten.

Fahr hin, mein Boot, fahr hin, mein Boot,
Längst sank der Hoffnung Fahne,
Du findest keinen Hafen mehr
Geöffnet solchem Kahne.

Fahr hin, mein Boot, fahr hin, mein Boot,
Dir leuchten keine Sterne,
Bald wirbelst du im Wasserfall,
Er braust schon in der Ferne.

Diese schlimmen kleinen Dinger auf dem Cartoon hier sind der Phantasie von Ronald Searle entsprungen. Wie kennen sie als die Schülerinnen von St Trinian's, deren Lebensinhalt Anarchie und Destruktion ist. Wenn Sie sich jetzt fragen, was die mit Frederik und der königlichen Yacht Dannebrog zu tun haben, habe ich natürlich darauf eine Antwort. Der Kapitän einer Fregatte der Royal Navy hatte einmal ➱Ronald Searle gebeten, ihm eine St. Trinian's Charter zu zeichnen, in der die Fregatte verpflichtet wurde to uphold and carry to the four corners of the earth the true spirit and glorious tradition of St Trinian to which they have shown themselves true. Searle tat das auch und wurde zum Ehrenmitglied der Offiziersmesse ernannt. Die Fregatte war dem Geist von St. Trinian's treu. Sie rammte im Hafen von Kopenhagen 1956 die königliche Yacht Dannebrog und radierte ihr den Bugspriet weg. Ich nehme an, dass der König das mit Humor genommen hat.

Wenn die Engländer schon sein Schiff demolieren, dann kann der König auch schon mal einen englischen Bentley zerlegen. Das ist ihm 1970 in Kopenhagen gelungen, wie man dem Buch Kongelige køreglæde – med benzin og blåt blod i årerne von Martin Lund entnehmen kann. Kann ja passieren. Vielleicht hätte er doch der Marke Jaguar treu bleiben sollen wie seine Gattin Ingrid das tat.

Freitag, 25. April 2014

Nachbarn


Aprilwind kommt, er fasst mich kalt und warm und feucht in meinem Zittern, Zögern - und das war immer so, Petrarca: Mehr hat es nie gegeben als die Verwirrung auf der Wendeltreppe hoch zum Dach und diesen traurig-sanften Wind. Der traurig-sanfte Wind gefällt mir, sanfter Wind ist eine lyrische Plattitüde, einen traurigen Wind besingt die Indie Band Schrottgrenze. Ist aber alles nix gegen Et le vent du Nord les emporte, Dans la nuit froide de l'oubli. Das bleibt im Kopf. Egal, wenn ➱Yves Montand oder ➱Juliette das singen. Mit dem traurig-sanften Aprilwind bin ich heute bei einem deutschen Dichter, nämlich Dirk von Petersdorff.

Kennst Du eigentlich Dirk von Petersdorff? fragte mich ein Freund aus Hamburg. Er wollte natürlich nicht von mir wissen, ob ich den deutschen Dichter, der jetzt Professor für Deutsche Literatur in der Stadt der Philosophie des deutschen Idealismus und der deutschen Romantik ist, persönlich kenne. Er wollte wissen, ob ich seine Gedichte gelesen habe. Deshalb war er auch von meiner Antwort überrascht, die Schon als plärrendes Kleinkind lautete. Das ist etwas übertrieben, Dirk ging schon zur Schule, als seine Mutter mit ihrer Familie meine Nachbarin wurde. Seinen Vater sah ich selten, die Eltern hatten sich getrennt. Aber ich habe den noch gut in Erinnerung, weil er als linker Revolutionär immer mit einem roten Schal herumlief. Wie Aristide Bruant auf dem Plakat von Toulouse-Lautrec.

Dirk von Petersdorffs Mutter kannte ich vom Studium her, sie war die schönste Frau unter den Studentinnen der Kunstgeschichte. Sie besaß damals schon ein Auto, das hatten die meisten von uns nicht. Das Fach Kunstgeschichte war in den sechziger Jahren ein Fach für Töchter reicher Eltern, die meistens so lange studierten, bis sie einen Mann fanden. Häufig hatten sie keinerlei wissenschaftliche Interessen. Stürmten wütend aus dem Zimmer, wenn der Ordinarius sie wieder nicht zur Prüfung zugelassen hatte: Und jetzt lerne ich Kindlers Malerei Lexikon auswendig! Das wäre doch schon mal ein schöner Anfang gewesen. Es war eine Szene, die mir in bleibender Erinnerung geblieben ist. Eine Studienordnung gab es in der Kunstgeschichte damals nicht (die Zahl der Studenten war so klein, dass das ganze Institut bei Exkursionen in den Uni-Bus passte), man machte Examen, wenn der Professor fand, dass jetzt die Zeit dafür sei.

Aber die Mutter von Dirk von Petersdorff war nicht nur schön, sie hat trotz der Belastung durch die Kiddies ihre Dissertation geschrieben. Ihr Sohn hat dann in Kiel Germanistik und Geschichte studiert, Staatsexamen, Promotion. 2003 habilitierte er sich an der Universität des Saarlandes, seit 2004 ist er Mitglied der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Seit dem Wintersemester 2008 ist er an der Friedrich-Schiller-Universität Jena als Professor für Neuere Deutsche Literatur. Er schreibt nicht nur Gedichte, er schreibt überhaupt sehr viel (➱hier sein Schriftenverzeichnis).

Er hat auch eine Geschichte der Deutschen Lyrik verfasst, die sich bei C.H. Beck offensichtlich gut verkauft. Wahrscheinlich, weil sie nur 124 Seiten lang ist, das liest man heute gerne. Man hat ja für nichts mehr Zeit. Hier hat sich jemand die Mühe gemacht, Petersdorffs Darstellung in einem Schaubild zu illustrieren. Die Zahlen unter den Namen bedeuten die Zahl der Zeilen, die Petersdorff den jeweiligen Dichtern widmet. Also Wilhelm Lehmann bekommt fünf Zeilen, Robert Gernhardt sechsundfünfzig. Der Dichter Gerhard Neumann bekommt natürlich gar keine Zeile, aber dafür hat der bei mir einen Post. Ja, solch eindrucksvolle Grafiken sind schon aussagekräftig.

Es scheint ein Zeichen der Zeit zu sein, dass es neuerdings bei allen Verlagen ganz kurze Einführungen zu allen Themen gibt. Der Hamburger Junius Verlag hatte mit solchen Einführungen zum Thema Philosophie ja schon vor über zwanzig Jahren begonnen. Am Ende dieser Entwicklung steht dann der Wikipedia Artikel, der Maggiwürfel der Bildung. Früher waren Literaturgeschichten lang, sehr lang. Die Herren Jörgensen, Bohnen und Öhrgaard brauchen für die beispielhafte Darstellung von Sturm und Drang (C.H. Beck) 660 Seiten für fünfzig Jahre deutscher Literatur.

Aber es geht kürzer: die gesamte deutsche Literatur seit dem Mittelalter auf 171 Seiten. Erschienen in der Reihe der Very Short Introductions der Oxford University Press. Diese Reihe gibt es seit 1995 und es sind schon mehr als 100 Titel in dieser Reihe erschienen. Vor fünfzig Jahren gab es in Frankreich schon einmal ein ähnliches Unternehmen mit der Reihe Que Sais Je? (lesen Sie ➱hier mehr dazu). Das Ganze kann natürlich nur funktionieren, wenn man für diese Bände wirklich kompetente Spezialisten gewinnt. Für die deutsche Literatur hat man bei der Oxford University Press Nicholas Boyle ausgewählt, den wohl führenden englischen Germanisten seiner Generation. Boyle hat 1991 und 2000 die ersten beiden Bände seiner vielgerühmten Goethe Biographie vorgelegt, er schreibt zur Zeit am dritten Band. Und nebenbei hat er diese nette very short introduction der Deutschen Literatur geschrieben. Fünf Kapitel, zwei Seiten Literaturverzeichnis, ein Index und zahlreiche Illustrationen. Es ist eine tour de force, geistreich, amüsant und sehr provokativ. Mehr kann man auf 171 Seiten zu dem Preis nicht verlangen.

Dirk von Petersdorff ist mit Literaturpreisen geradezu überschüttet worden, Zeitungen wie ➱Zeit oder Welt drucken seine Gedichte, die Medien und die Kritiker sind nett zu ihm. Nicht alle, aber dazu später mehr. Seine Kollegen sind auch nett zu ihm, lesen Sie doch einmal ➱hier, was Harald Hartung über ihn schreibt. Zu Hartung muss ich sagen, dass ich jahrzehntelang gelesen habe, was er über Literatur schrieb, seine Gedichte aber vernachlässigt hatte. Das ist jetzt anders geworden, ich habe ➱hier vor Wochen über ihn geschrieben. Nicht alle Dichter haben diesen frühen Erfolg, den von Petersdorff hat. Aus Kindern werden Leute.

Inzwischen ist das Nachbarskind selbst Vater. Seine Vaterrolle und die ersten Jahre der beiden Zwillinge hat er emphatisch und geschickt in dem Buch Lebensanfang vermarktet. Ich fand es beruhigend, dass Meike Fessmann von der Süddeutschen in den lobhudelnden Chor der Rezensenten über die Leiden der jungen Väter nicht einstimmen konnte: Meike Fessmann ahnt Schlimmes. Bei der Lektüre von Dirk von Petersdorffs Buch über sein ganz persönliches Vaterglück hat sie das Gefühl, als führe die Entdeckung der Vaterrolle den neuen Mann direkt ins Reich des Pathos und im Falle Petersdorff auch zu dem "Gefühl, heiligen Dingen beizuwohnen". Allzu viel, findet Fessmann dabei, ist über das "Kind im Naturzustand" ja nicht zu sagen, und "Schreien, Saugen und Kacken" sind auch aus der Vaterperspektive noch keine Revolution. Und von der Selbstreflexion, die der übernächtigte Autor dagegen auffährt, denkt Fessmann, wird das Baby auch nicht trocken.

Dirk von Petersdorff erinnert sich noch immer an Kiel: Die Bilder ziehen vorüber: Ich in Tunesien. Ich als Nihilist. Ich mit einer Sektflasche auf den Stufen des Olympiazentrums in Kiel- Schilksee. Schnitte, und bei keinem halt ich an. Segeln im Juli, durch Felsenbuchten, Fjorde, flimmernde Seen. Du siehst über die Schulter und lachst. Ich sah die Liebe erkalten. Nicht alle Erinnerungen handeln von Sektflaschen im Olympiazentrum, manches ist offensichtlich in der Vergangenheit nicht so schön gewesen, wie das Gedicht Hochhausbanden zeigt (➱hier mit anderen Gedichten des Autors). Es ist viel Nostalgie in den Gedichten: 'Ach, ich bin ermüdet, zornig eher nicht – so endet das Gedicht 'In der Tiefe' des 1966 geborenen Dirk von Petersdorff. Es ist kein Widerspruch, dass diese Verse in Petersdorffs Band mit dem Titel 'Wie es weitergeht' erschienen sind. Denn am Ausgang des 20. Jahrhunderts galten Melancholie und Ironie als angemessenes Fortbewegungsmittel – und Müdigkeit als Souveränität. Aber: So geht es, buchstäblich, nicht weiter, schrieb Florian Illies (der die Generation Golf erfand) 2010 in der Zeit.

Was soll der Dichter dichten in dieser Zeit?

Die Zukunft beginnt
wie auf Raffaels Madonna:
Am unteren Bildrand lehnen
die Engel – nächste Generation.
Sie müssen fast gähnen.

Häufig, sehr häufig greift von Petersdorff zur Ironie. Da erscheint er beinahe wie ein Ziehsohn von Enzensberger (mit dem zusammen er 2013 auch die Tübinger Poetik-Dozentur hatte und über den er auch das Buch Hans Magnus Enzensberger und die Ideengeschichte der Bundesrepublik herausgegeben hat) Oder wie ein verspäteter Peter Rühmkorf. Manchmal - nein, vielleicht doch eher häufig - finden sich auch Klagen in seinen Gedichten. Wie in dem Gedicht, das Klage heißt:

Wir haben keine Lieder. Unsre Dichter reden rum. 
Hören Sie Eichendorff und Müller, die sangen 
von Sehnsucht bzw. ungestilltem Verlangen. 
Brentano sang: oh Kleid, oh Zeit, 
wir haben keine Lieder.

Dichter sollen natürlich nicht rumreden, sie sollen uns etwas sagen. Beschreibungen des Alltags sind ein Weg, den schon ➱Rolf Dieter Brinkmann, oder auf eine andere Weise, ➱Uli Becker gegangen sind. Aber gegen die - oder gegen ➱Hannelies Taschau - kommt von Petersdorff nicht an, irgendwie ist mir das alles zu weichgespült, traurig-sanft aprilfrisch und softig. Mit einem leisen Ton des Wehklagens. Da hat Florian Illies schon recht, wenn er diese Generation einer gewissen Mutlosigkeit zeiht. Ich zitiere mal eben das titelgebende Gedicht aus dem Band Nimm den langen Weg nach Haus:

Wenn Du immer an diesen Pfau denken musst, der plötzlich
im strömenden Regen auf der Straße stand, planlos herumwackelte,
dann nimm den langen Weg nach Haus. Wenn in der Nacht
ein dicker Zwerg vor deinem Bett steht, der erstaunlich genau
die treffendsten Vorwürfe gegen dich kennt, dann nimm
den langen Weg nach Haus. Geh durch den Park. Diese Jugendlichen
mit zu langen Armen und Beinen, die auf Bänken sitzen,
in die Ferne starren, schweigen, sind ein Trost.
Sei sentimental. Es ist gut, dass Du
die alte Lederjacke noch hast. Denk an den Sommerhof,
wo zärtliche Nachthemden über die Gänge glitten,
am Morgen Spinnenweben silbrig glänzten,
wo euch die Arbeit an einem Kugelschreiber-Comic-Bild
den ganzen Tag gefangen hielt, und nimm den langen Weg nach Haus.
Hans konnte so wunderbar „As tearsgoby“ pfeifen,
als die Dunkelheit und das Wellenglucksen in der Bucht
euch immer tiefer einhüllten, ihr ward unsichtbar, ihr ward
zu Hause. Und heute bist du schon dankbar,
wenn die Frau im Getränkemarkt lächelt –
deine Kisten mit Pfandflaschen sind vollständig, aber sonst?
Wegen des Pfaus hast du beim Zoo angerufen, sie sagten:
„Locken Sie den Pfau in eine Garage“, aber du hast keine Garage,
dreh noch eine Runde
durch den warmen Oktober, durch das Blättergeraschel,
auf das nun weicher Regen fällt.
Der WM-Ball 1986, in einem fantastisch hohen Bogen
aufs Meer geschossen, trieb so schnell ab,
uneinholbar, er nahm den langen Weg nach Haus.
Damals habt ihr in halbdunklen Räumen
eure traurigen Lieder getanzt, baumelnde Glühlampen
und Klebstreifen, die von der Decke hingen, über und über
mit Fliegen besetzt. Seitdem ist alles anders geworden
und alles ist gleich geblieben, noch immer frage ich:
Wo auf diesem mondbeschienenen Planeten
führt der lange Weg nach Haus?

Hans-Herbert Räkel war in der Süddeutschen Zeitung nicht so begeistert, man könnte sagen, dass er underwhelmed war. So heißt es in seiner Rezension zum Schluss: Wie zu erwarten, aber mit welcher Verve entfaltet der Refrain dann sein metaphysisches Potential: „der WM-Ball 1986, in einem phantastisch hohen Bogen / aufs Meer geschossen, trieb so schnell ab, uneinholbar, er nahm den langen Weg nach Haus“. Nach einem weiteren Umweg zur Jugend in „halbdunklen Räumen“ fliegen die Gedanken noch höher als der Fußball: „Seitdem ist alles anders geworden / und alles ist gleich geblieben, noch immer frage ich: / Wo auf diesem mondbeschienenen Planeten / führt der lange Weg nach Haus?“ Wenn Dirk in einem schwachen Augenblick starker Inspiration so etwas schreibt, sollte dann nicht Professor von Petersdorff es am nächsten Morgen in den Papierkorb werfen? Oder arbeiten sie gar nicht mehr zusammen? Und jemand, der sich thursdaynext nennt, schreibt irgendwo im Internet: Gedichte für die Midlife Crisis. Teilweise recht nett, wird diese Lebensphase aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet. Kein wahrer Spassbringer, eher reflektiv, egozentriert, dennoch durchaus lesenswert. Nett: das ist ein Wort, das mir auch die ganze Zeit auf der Zunge lag, aber man darf es nicht sagen, weil es in der Literaturkritik so ein Hackebeilwort ist. So ähnlich wie der beißt nicht, der will nur spielen. Spielerisch ist von Petersdorff auf jeden Fall, und er spielt auch gerne mit Zitaten, manchmal deutsche Romantiker zitierend.

Etwas, das sich wiederkehrend bei von Petersdorff findet ist das Liebesgedicht. Das ist ja eine der ältesten Formen der abendländischen Lyrik, die auch irgendwie unkaputtbar ist. Wenn von Petersdorff in den Zeilen ganz oben auf der Seite ➱Petrarca erwähnt, dann zitiert er nur wieder einmal den Stammvater des Liebessonetts. Petersdorff, der auch Niklas Luhmann verehrt, zitiert wie alle Kinder der Postmoderne ja gerne. Und zur Postmoderne fällt mir nur der schöne Dreizeiler von Uli Becker ein:

Gott ja, die Postmoderne, sagt der Minirock
zum Existenzialistenrolli, anything goes
und alles kommt wieder, für 15 Minuten.


Uli Becker hat auch Liebesgedichte geschrieben, die manchmal etwas schräg ausfallen, wie zum Beispiel das Haiku:

Tun kein Auge zu
heut nacht vor lauter Vögeln,
Hommage à Hitchcock.


Wenn Uli Becker den Kalauer verwendet, dann ist das bei ihm ein Stilmittel, jemand wie Uli Becker darf das ungestraft tun. Wenn Dirk von Petersdorff allerdings in dem ➱Gedicht Liebesanfang schreibt der Sommer lang wie ihre Beine, dann ist das irgendwie peinlich. Der ➱Rezensent des Gedichtbandes Die Teufel in Arezzo fand in der FAZ die Kalauer in dem ➱Bierlied mit Benn gerade noch erträglich, resümierte aber Für die Mehrzahl der Gedichte dieses Bandes stellt die zweite Strophe von "Aufräumen" nicht nur die treffendere Diagnose, sondern auch schon die entscheidene Frage: "Da wächst und wuchert das Kleinklein / aus Jobs und Lust, man muss, man will - / und weiß nicht mehr, soll ich das sein?" Man wüßte es wirklich gerne.

Hier könnte ich Schluss machen, aber ich will noch nicht. Die Frage von Herbert Räkel geht mir nicht aus dem Sinn. Vor allem, wenn man Verse liest wie

In der Tiefe 
sprach ich, ich stand in einem 
U- Bahnhof, ich rief mir zu: 
EVALUIERE DICH SELBST! 
Aber mir fiel nichts ein. 
Wie stehe ich denn da?

Fragen, auf die ich leider auch keine Antwort weiß. Das postmoderne Selbst ruft nicht mehr aus der Tiefe zum Herrn, es flottiert nur auf einer Signifikantenkette, ist ermüdet aber nicht zornig. Je mehr man von Petersdorffs Lyrik liest, desto mehr drängt sich die Frage Räkels auf: Wenn Dirk in einem schwachen Augenblick starker Inspiration so etwas schreibt, sollte dann nicht Professor von Petersdorff es am nächsten Morgen in den Papierkorb werfen? Ich habe den Fehler gemacht, die Masse der Gedichte von Petersdorff erst zu lesen, als ich alle Gedichte von Harald Hartung gelesen hatte. Wenn ich es mit einem Vergleich aus der Fußballwelt sagen sollen: Wenn Harald Hartung (der ja aus dem Ruhrgebiet kommt) Borussia Dortmund ist, dann ist Dirk von Petersdorff Holstein Kiel (da kommt er auch her). Die spielen in einer anderen Liga.

Es gibt Kritiker, die böser sind als ich. Glücklicherweise. Bei der gegenseitigen Beweihräucherung von Dichtern und Literaturprofessoren untereinander, hatte ich ein klein wenig das Gefühl, das den Kieler Dichter Hans-Jürgen Heise beschlich, als er einer Einladung von Hans Werner Richter zur Tagung der Gruppe 47 im schwedischen Sigtuna erhalten hatte. Er schrieb kurz danach einen Erlebnisbericht, in dem sich die Sätze fanden: Ich vermute jedoch: es gibt, ganz wie im wirklichen Leben, mehrere Mafia-Familien, die sich untereinander teilweise aufs heftigste befehden, dabei aber irgendwie vernetzt sind — auf undurchschaubare Weise. Ich war richtig glücklich, als ich auf Alban Nikolai Herbst (der auch eine sehr schöne ➱Laudatio auf von Petersdorff geschrieben hat) stieß. Denn der schreibt auf seiner ➱Seite im Internet (die vom Deutschen Literatur Archiv in Marbach archiviert wird: Tatsächlich meidet Petersdorff in seinen „Gedichten” nicht eine einzige Banalität, ja er gefällt sich und, schlimmer, suhlt uns darin: das gilt für die Formen wie den Inhalt. Wo es hingeht, fleddert er in den letzten Knochen Gernhardts herum, der auch schon lyrisch ein, wenn auch ungewollt, Scharlatan war. Geht es, wie nahezu immer, schlecht, ist Petersdorff kaum mehr als eine Mary Roos der Alltagsgedingse. Das desavouiert die Formen, derer er sich bedient – immer auf das schnellstgefundene Reimwort gehüpft. Zwar ist dies nicht ohne Kunsthandwerk, denn das ist freilich recht toll, wenn selbst die Glätte klappert. „Ein Replikant”, dachte ich aber, „meine Güte: So schreiben Replikanten Gedichte.” Wo wahres Gefühl wäre zu erwarten, Betroffenheit, jaja: sagen Sie nur „sentimental” - das heißt doch nicht, das Engagement sei sentimental auch in Worte zu fassen... - kurz: wo L e b e n ein Gedicht beseelte, wirkt durch Petersdorffs Verse nichts als Mainstream-Prothetik. Und auf derselben Seite bedankt sich ein Student: Danke für die Worte zu diesem Professer, ich hatte damals eine LIT I bei ihm und es ist ihm nicht gelungen, mir die Literatur auszutreiben. Nur seine Veranstaltungen habe ich danach gemieden. Alle.

Wenn Sie Dirk von Petersdorff Fan werden wollen, lesen Sie niemals zuvor Harald Hartung oder Hannelies Taschau. Oder Carl Guesmer, dessen erste Gedichte Alfred Döblin 1949 veröffentlicht hatte. Die Zeit hatte immerhin schon 1955 sein Talent erkannt: Einer dieser Autoren der „Eremitenpresse“ heißt Carl Guesmer – sein Band, dem wir unser Gedicht entnahmen, trägt den Titel „Ereignis und Einsamkeit“. Die Gedichte dieses Bandes sind die Spuren eines sehr Begabten, der aber zuweilen noch nicht genau weiß, wie begabt er eigentlich ist. Dann dichtet er zu sehr in traditionellen Bildern. Er wird sich davon frei machen. Über diesen kaum beachteten und beinahe vergessenen Dichter hätte ich eigentlich noch im Poetry Month April schreiben wollen, aber ich bin nicht dazu gekommen. Kann ja noch werden.

Wo bleibt das Positive? würde Erich Kästner fragen. Ich will jetzt nicht sagen, Ja, weiß der Teufel, wo das bleibt. Nein, das Positive kommt hier. Nicht unbedingt mit diesem Photo. Das ist nicht die neueste Beate Uhse Kollektion, die wir aus der Fernsehwerbung kennen, dieses Photo findet sich in der Welt unter dem Titel Lyrische Erotik zur Illustration eines ➱Liebesgedichtes von Dirk von Petersdorff. Wie T.S. Eliot schon sagte, nimmt die Lyrik am wenigsten Platz weg. Diese U-Wäsche (oder sagt man da schon lingerie?) auch. Aber ein bisschen Platz bekommt hier noch ein Liebesgedicht von Dirk von Petersdorff.

Liebeslied

Der Herz-, der Sonnengong. Auf steiler Küste,
Wasserluft-Kamille-Gemisch.
Prise Segel in der Bucht.
Die Sandlinie
kurvt ins Land -

sah dich im schmalen Dress,
von Locken umspielt, Botticelli-like,
1-a-Kurven-Kelch. Steh auf,
sagt das Leben; ich stehe,
gut geblendet noch immer,
auf schwachen Füßen.
Weizenfeld bis geht nicht mehr.
Ruhig schneller noch, Herzlauf,
wohin ich niemals dachte.
Furchtlos gehen kann ich,
nicht genug kosten
von dringenden Lippen -
so muss ich immer reden -
volle Verklärung? Ach,

nennt es wie ihr wollt. Auf hoher Küste
schmaler Pfad. Ostsee
glitzert, Aura-Punkte.
So spielt der Wind
mit dem Meer. Alles gut.
Du. Alles da. Der Herzgong.

Donnerstag, 24. April 2014

Shirley MacLaine


Ich stelle heute etwas ein, was ich hier schon am 30. August 2012 veröffentlicht habe. Das hat seinen Grund, denn ➱Shirley MacLaine wird heute achtzig Jahre alt. In dem ➱Film In den Schuhen meiner Schwester (In Her Shoes) spielt nämlich nicht nur Cameron Diaz (der der Post gewidmet war) mit, sondern auch Shirley MacLaine. Und das Gedicht von e.e.cummings, das ich damals zitierte, ist so schön, dass man es mit einem Happy Birthday an Shirley MacLaine auch heute zitieren kann:

Auf dem Kalenderblatt von Wikipedia habe ich gesehen, dass Emily Ruete heute Geburtstag hat. Ich brauche über diese erstaunliche Frau aber nichts zu schreiben, ich habe das längst getan. Vor genau zwei Jahren stand sie ➱hier im Blog, und dieser Post ist erstaunlich häufig gelesen worden. Hat es sogar bei Google unter die Top Ten geschafft. Man sieht das als Amateurblogger ja gerne, dass man mal bei den Google Ergebnissen ganz vorn ist.

Nein, heute ist ein anderes Geburtstagskind zu feiern. Cameron Diaz wird an diesem Tag - man darf es ruhig sagen - vierzig Jahre alt. Da wollen wir doch gerne gratulieren. Man freut sich ja immer, sie auf der Leinwand zu sehen. Am liebsten in den frühen Komödien wie She's the One (obwohl ihr Maxine Bahns da die Show stiehlt), Head Above Water und There's Something About Mary.

In dem Film In Her Shoes sagt Cameron Diaz bei der Hochzeit ihrer Schwester ein ➱Gedicht auf. Es ist ein kleines Gedicht von e.e. cummings, das aber so hübsch ist, dass wir es heute hier einmal zitieren. Für alle Geburtstagskinder.

i carry your heart with me (i carry it in
my heart) i am never without it (anywhere
i go you go, my dear; and whatever is done
by only me is your doing, my darling)
i fear
no fate (for you are my fate, my sweet) i want
no world (for beautiful you are my world, my true)
and it’s you are whatever a moon has always meant
and whatever a sun will always sing is you

here is the deepest secret nobody knows
(here is the root of the root and the bud of the bud
and the sky of the sky of a tree called life; which grows
higher than soul can hope or mind can hide)
and this is the wonder that's keeping the stars apart

i carry your heart (i carry it in my heart)

Mittwoch, 23. April 2014

William Shakespeare


Es ist über Shakespeare schon so viel gesagt, daß es scheinen möchte, als wäre nichts mehr zu sagen übrig, und doch ist dies die Eigenschaft des Geistes, daß er den Geist ewig anregt, schreibt Goethe unter dem ➱Titel Shakespeare und kein Ende! Der Dichter aus Stratford upon Avon hat heute seinen 450. Geburtstag, auf jeden Fall wurde er am 26. April 1564 getauft. Wir wissen nicht so viel über ihn (mit dem Maler ➱William Shakespeare Burton wird ihn aber keiner verwechseln), aber das mit dem Datum der Taufe wissen wir. Und dass er am Ende seines Lebens seiner Gattin Anne Hathaway im Testament das zweitbeste Bett vermachte.

Shakespeares Dichtungen sind ein großer belebter Jahrmarkt, und diesen Reichtum hat er seinem Vaterlande zu danken. Überall ist England, das meerumflossene, von Nebel und Wolken umzogene, nach allen Weltgegenden tätige. Der Dichter lebt zur würdigen und wichtigen Zeit und stellt ihre Bildung, ja Verbildung mit großer Heiterkeit uns dar, ja er würde nicht so sehr auf uns wirken, wenn er sich nicht seiner lebendigen Zeit gleichgestellt hätte. Nur in England, This precious stone set in the silver sea, konnte Shakespeare schreiben, glaubt Goethe. Und nur in der Zeit, die wir heute manchmal auch die Shakespearezeit nennen: Freilich hatte er den Vorteil, daß er zur rechten Erntezeit kam, daß er in einem lebensreichen protestantischen Lande wirken durfte, wo der bigotte Wahn eine Zeitlang schwieg, so daß einem wahren Naturfrommen wie Shakespeare die Freiheit blieb, sein reines Innere, ohne Bezug auf irgendeine bestimmte Religion, religios zu entwickeln

Goethe, der schon mit einundzwanzig Jahren in seiner Rede Zum Schäkespears Tag ausrufen konnte, Natur! Natur! Nichts so Natur als Shakespaeres Menschen! hat mit Shakespeare gemein, dass man eine Zeit nach ihm benannt hat, die Goethezeit (und wenn Sie Shakespeares Namen im Goethezeitportal im Suchfeld eingeben, bekommen Sie sehr viele Ergebnisse). Eine Schillerzeit gibt es nicht, aber eine Goethezeit. Klingt toll. Und wir haben auch gleich einen Klassiker dazu: Geist der Goethezeit: Versuch einer ideellen Entwicklung der klassisch-romantischen Literaturgeschichte von Hermann August Korff. Nur blöd, dass der ein Nazi war und den dritten Band (über die Frühromantik) Den Helden unseres Freiheitskampfes widmete. Damit meint er nicht die napoleonische Zeit sondern die Wehrmacht. Und das Vorwort datierte er mit Leipzig, am Tage der Einnahme von Paris, 14. Juni 1940. In der dritten Auflage von 1956, die bei mir im Regal steht, finden sich diese Worte wohlweislich nicht mehr.

Shakespeare und kein Ende. Womit anfangen? Wenn man etwas über den Hintergrund der Shakespearezeit wissen will, dann wäre meine Kauf- und Leseempfehlung unbedingt Das elisabethanische Zeitalter von Ulrich Suerbaum. Ein Reclam Band, der das gebündelte Wissen der Forschung bietet - und das unschlagbar preiswert. Und dann könnte man noch Shakespeare - Wie er euch gefällt mit dem Untertitel Die Geschichte einer Plünderung durch vier Jahrhunderte von ➱Gary Taylor lesen. Ein ➱Buch, das jedem Leser zeigt, dass William Shakespeares Werk mit den Abstrusitäten des heutigen Regietheaters sehr wenig zu tun hat.

Um einen Zugang zu dem beinahe unüberschaubaren Werk Shakespeares zu finden, würde ich empfehlen, mit der Lektüre der Sonette anzufangen. Auch da bietet Reclam einen Band mit allen 154 Sonetten, Englisch-Deutsch. Und das alles für sechs Euro sechzig. Das Interessante ist bei diesem Band, das man nicht einen Übersetzer bevorzugt hat, sondern eine Vielzahl deutscher Übersetzungen präsentiert. Man wollte bei der Auswahl jene Übersetzung nehmen, die den jeweiligen englischen Text am besten verständlich machen. Wenn man als Leser keine Übersetzungen braucht, dann könnte man die Sonette natürlich in einer Faksimile Ausgabe lesen, das finde ich persönlich sehr charmant. Und für den Shakespearefreund, der schon alles hat, habe ich hier noch einen ganz schrägen Tip: ... lesen, wie krass schön du bist konkret. Sie haben richtig gelesen, das ist der Buchtitel. Der Untertitel sagt schon etwas mehr: William Shakespeare, Sonett 18 vermittelt durch deutsche Übersetzer. Erschienen bei der Edition Signathur. Lesen Sie hier mehr dazu.

Und da das Buch das Sonett Nummer 18 zum Thema hat, fangen wir mit dem doch gleich einmal an:

Shall I compare thee to a summer's day?
Thou art more lovely and more temperate:
Rough winds do shake the darling buds of May,
And summer's lease hath all too short a date;
Sometime too hot the eye of heaven shines,
And often is his gold complexion dimm'd;
And every fair from fair sometime declines,
By chance or nature's changing course untrimm'd;
But thy eternal summer shall not fade,
Nor lose possession of that fair thou ow'st;
Nor shall Death brag thou wander'st in his shade,
When in eternal lines to time thou grow'st:
So long as men can breathe or eyes can see,
So long lives this, and this gives life to thee.

Shakespeares Sonett Nummer 18 ist wohl das Sonett, das am häufigsten in Anthologien abgedruckt worden ist. Es ist schon für alles gebraucht worden: die darling buds of May sind zu einem Romantitel geworden (Prousts Übersetzer Scott-Montcrieff nahm sich Sonett 30 für den Titel Remembrance of Things Past), und Lehrer haben schon ihre Schüler aufgefordert, es für einen ➱Rap zu gebrauchen. Von Cartoons wie diesem wollen wir lieber nicht reden. Da hören wir uns doch lieber ➱Michael York an. Klicken Sie ➱hier.

Das berühmte Sonett hat immer wieder zu Parodien und Pastiches  herausgefordert, das Internet (in dem es aber auch so schöne Dinge gibt wie ➱Al Pacinos Looking for Richard) ist voll davon. So etwas liest sich dann zum Beispiel so:

Shall I compare you to a pizza pie?
you are more cheesy and more temper-hot,
as overcooking turns the dough too dry,
so summer days cause dough to bubble-spot,

Ein berühmt gewordenes Pastiche von Shall I Compare Thee to a Summer's Day stammt von Howard Moss, dem langjährigen Poetry Editor des New Yorker:

Who says you're like one of the dog days?
You're nicer. And better.
Even in May, the weather can be gray,
And a summer sub-let doesn't last forever.
Sometimes the sun's too hot;
Sometimes it is not.
Who can stay young forever?
People break their necks or just drop dead!
But you? Never!
If there's just one condensed reader left
Who can figure out the abridged alphabet,
After you're dead and gone, 
In this poem you'll live on!

Das ist etwas, was man neuerdings als shrinklit bezeichnet; etwas, wofür ein amerikanischer Dichter namens Maurice Sagoff berühmt geworden ist. Seine Fassung des altenglischen Beowulfliedes liest sich dann so:

Monster Grendel's tastes are plainish.
Breakfast? Just a couple Danish.
King of Danes is frantic, very.
Wait! Here comes the Malmö ferry
Bring Beowulf, his neighbor,
Mighty swinger with a saber!
Hrothgar's warriors hail the Swede,
Knocking back a lot of mead;
Then, when night engulfs the Hall
And the Monster makes his call,
Beowulf, with body-slam
Wrenches off his arm, Shazam!
Monster's mother finds him slain,
Grabs and eats another Dane!
Down her lair our hero jumps,
Gives old Grendel's dam her lumps.
Later on, as king of Geats
He performed prodigious feats
Till he met a foe too tough
(Non-Beodegradable stuff)
And that scaly-armored dragon
Scooped him up and fixed his wagon.
Sorrow-stricken, half the nation
Flocked to Beowulf's cremation;
Round his pyre, with drums a-muffle
Did a Nordic soft-shoe shuffle.

Dahin werden wir kommen, eines Tages wird es die ganze Weltliteratur nur noch als Maggi Würfel geben. Das erste Mal trat der Dichter in diesem Blog  in dem Post ➱Blankvers auf. Seitdem ist er wieder und wieder erwähnt worden. Als ich noch studierte, musste man ein Shakespeare Mittelseminar bei der Baronin ➱Gisela von Stoltzenberg besuchen, das mit einer vierstündigen Klausur endete. Wenn man die nicht bestand, kam man nicht ins Hauptstudium. Heute hat Shakespeare im Studium nur noch einen geringen Stellenwert. Studenten der Literaturwissenschaften lesen ungern, words, words, words. Warum die Werke von Shakespeare lesen, wenn es Bücher wie How to Become Ridiculously Well-Read in One Evening: A Collection of Literary Encapsulations von E.O. Parrott gibt? Hamlet in fünfzehn Minuten? Kein Problem, ➱Tom Stoppard hat es vorgemacht. Klicken Sie ➱hier.

Und so sei es genug an diesen wenigen Worten, wodurch Shakespeares Verdienst keineswegs erschöpft ist. Seine Freunde und Verehrer werden noch manches hinzuzusetzen haben. Das war natürlich noch einmal Goethe, Plattitüden hat er drauf. Und ja, wir haben noch etwas hinzuzusetzen an diesem Tag. Nämlich einen Limerick, den mir ein Leser (natürlich ein pensionierter Englischlehrer) schickte und den ich hier vor einem Jahr schon vorstellte. Aber er ist immer noch gut. Er ist ein klein wenig schmutzig, aber das ist Shakespeare auch. Der Fachterminus ist hier bawdy. Der berühmte Eric Partridge, dem wir viele Slang Dictionaries verdanken, hat das in seinem Buch Shakespeare's Bawdy ausgeführt.

Auf dem Buchdeckel steht: "Shakespeare's Bawdy" must rank as one of the great Eric Partridge's most outstanding accomplishments. In it Partridge, regarded by Anthony Burgess as 'a human lexicographer, like Samuel Johnson', was able to combine his detailed knowledge of Shakespeare with his unrivalled knowledge of Elizabethan slang and innuendo. It is, as he describes it, 'a literary and psychological essay and a comprehensive glossary', which opened the window upon a long-avoided aspect of Shakespeare's plays. "Shakespeare's Bawdy" is a work of delight and insight that has an appeal that transcends time and class. Acclaimed by Stanley Wells, editor of The Oxford Shakespeare, as 'a classic of Shakespeare scholarship', it takes its place alongside other classics with a well-deserved, if slightly cheeky, impunity. For sheer reading pleasure, "Shakespeare's Bawdy" is a wonderful addition to any bookshelf. Alles davon ist wahr. Aber nun das Gedicht des Tages, das Shakesparents, Shaken heißt:

Shakespère to Shakesmère, "Our Willie,
He shaketh his spear willy-nilly,
And with Anne hath a way
That her girth will display
He bangeth and screweth her silly."

Und wenn Sie endlich eine Antwort auf die Frage Why Shakespeare? haben wollen, dann schauen Sie sich diesen ➱Film von Lawrence Bridges an.