Samstag, 31. Dezember 2016

Jahreswechsel


Eins, zwei, drei! Im Sauseschritt Läuft die Zeit; wir laufen mit. Wieder einmal ist Silvester, ein Name, der von dem lateinischen silva abgeleitet wurde. So wie das silvae, das der Titel dieses Blogs ist. Und deshalb muss in SILVAE natürlich etwas zu Silvester stehen. Natürlich muss es einen Hinweis auf ⭐︎Dinner for One geben, aber die Fröhlichkeit, die es noch ⭐︎Silvester 2012 gab, ist dahin. Wir hätten uns das Jahr 2016 anders gewünscht. Silvester ist für viele die Zeit, Böller zu kaufen, was ich für den größten Unsinn überhaupt halte. Was ist denn gegen das Abrennen einer Wunderkerze zu sagen? Vierzehn Tage Pionierlehrgang haben mir einen großen Respekt vor dem Trinitrotoluol beigebracht. Die dreistelligen Millionenbeträge, die die Deutschen am Ende des Jahres für Knallkörper ausgeben (plus die Beträge, die sie für Böller in Fußballstadien ausgeben), könnte man sinnvoller für wohltätige Zwecke verwenden. Treiben die Böller wirklich böse Geister aus? Oder erinnern sie nicht eher an Krieg und Attentate?

Ich stelle heute lieber etwas Nachdenklicheres ein, das ⭐︎Gottfried Benn im Jahre 1956 geschrieben hat:

       Ich erinnere mich der Silvesternacht, in der das jetzige Jahrhundert sich erhob. Diese Nacht lag über einem Dorf jenseits der Oder-Neiße-Linie. Es war für die damalige so glückliche Welt eine Sensation, dass ein neues Jahrhundert begann. Alles wachte, alles feierte, die Kirchenglocken läuteten um Mitternacht, man erwartete irgend etwas ganz besonderes, eine Art Anbruch des Paradieses innen und außen. Mein Vater trat aus seinem Pfarrhaus und umarmte den Dorfschulzen, einen großen reichen Bauern, alles umarmte sich, es war eine schnee- und regenlose Nacht, es war ein großes Ereignis.
   
       Ich erinnere mich an eine Silvesternacht im Ersten Kriege. Wir waren in einer glänzenden eleganten Stadt, einer Hauptstadt. In der berühmten wunderbaren weißen Kathedrale fand die Mitternachtsmesse statt. Das Land war katholisch, der Dom war überfüllt, die meisten mußten stehen, wir fremden Soldaten standen in Uniform zwischen ihnen, und alles gehörte in dieser Nacht zusammen.
   
       Ich erinnere mich an eine Silvesternacht im Zweiten Krieg. In einer kleinen Stadt im Osten, im Warthegau. Es war in einer Kaserne. Ein schneereicher Dezember war gewesen, ungewöhnliche Kälte herrschte seit Wochen, Frost – und wir hatten nichts zu heizen. Wir hatten hundert Gramm Streichmettwurst als Sonderzulage erhalten und Bratlingspulver. Damals feierte man nicht Weihnachten, sondern Wintersonnenwende, und die Kommandeure hatten in der Neujahrsparole über Erneuerung des Lichts zu sprechen. Am Morgen war ein schwerer Angriff auf Berlin gewesen, und man fragte sich, ob die Wohnung noch stünde und was von den wenigen Bekannten, die dort lebten, übriggeblieben war.
   
      1900, 1914, 1944, drei Silvesternächte! Drei Silvesternächte, alle in diesem Europa, in diesem Abendland, tief und gleisnerisch, universal und abstrakt, Olymp und Golgatha, Leda und Maria. Drei Silvesternächte, sie umschließen zwei Generationen, zwei verwundete Generationen, denen alles fraglich wurde, für die es zwar wieder Komfort, aber keinen Inhalt mehr gibt.


Eine Art Anbruch des Paradieses innen und außen werden wir 2017 wohl nicht erleben, aber wir können ja immer hoffen, dass die Welt ein klein wenig besser wird als im letzten Jahr. Ich wünsche all meinen Lesern eine gutes neues Jahr. Und Gesundheit und Frieden.

Freitag, 30. Dezember 2016

Klassentreffen


Der Konny war unser Klassensprecher in der 10 L1, er organisiert heute noch immer die Klassentreffen. Ich war sein Stellvertreter, aber ich organisiere nichts. Klassentreffen sind nicht so meine Sache, das habe ich schon in dem Post ▹Ehemalige gesagt. Und so habe ich dem Konny letztes Mal absagen müssen, obgleich ich mit dem Gedanken spielte, da mal im Havenhaus in Vegesack zu erscheinen. Da haben wir auch unser Abitur gefeiert, ich erkenne mich noch auf dem Gruppenphoto vor dem denkmalgeschützen Haus. Ich weiß von der Feier wenig, außer dass ich gesagt habe, dass ich mit dreißig einen grünen ▹Jaguar mit roten Ledersitzen haben würde. Ich war wohl schon ziemlich betrunken. Um einen Kasten Sekt habe ich mit dem ▹Klaus gewettet, aber niemand hat sich später daran erinnert. Old men forget.

Über das Klassentreffen im vorletzten Jahr war ich bestens unterrichtet, weil ich lange mit dem Burchi, der so phantastisch Klavier spielen konnte, telephoniert habe. Er hat mir beiläufig gestanden, dass er überhaupt keine Noten lesen konnte. Ob der Lizzie, der Jazzpianist hätte werden können, Noten lesen konnte, das weiß ich nicht. Unser Musiklehrer ▹Ernst Meißner war von Lizzies Künsten überhaupt nicht beeindruckt, Jazz war für ihn keine Musik. Für uns schon.

Burchi ist Arzt geworden wie sein Vater. Bei ihnen zu Hause lag ein Eisbärenfell, mit einem richtigen Eisbärenkopf dran, im Wohnzimmer vor dem Klavier. Also so etwas, worüber der Butler in ▹Dinner for One immer stolpert, aber ich glaube, da ist es ein Tiger und kein Eisbär. Und der Peter aus Glückstadt (auch Arzt wie sein Vater) hat mir Dutzende von Photos zugeschickt, die er dann per Telephon kommentierte. Das wird er dieses Jahr nicht tun, denn er ist im April gestorben. Leben ist Brückenschlagen über Ströme, die vergehen, haben seine Kinder auf die Traueranzeige setzen lassen. Das ist jetzt das Problem mit den Klassenfesten der Kriegsjahrgänge, wir werden von Jahr zu Jahr weniger. Für meinen Klassenkameraden ▹Wuddel habe ich schon vor Jahren einen Nachruf geschrieben. Der Konny hat den ausgedruckt und an alle aus der Klasse geschickt, der Konny kümmert sich. Ich bewundere das.

Irgendwie hängen wir immer noch zusammen, ob wir es wollen oder nicht. Es ist ein unsichtbares Netz, das manchmal an einem zieht und zerrt, wenn die Erinnerungen zusammen mit den Todesanzeigen kommen. Immmer dann, wenn Faulkners Satz Die Vergangenheit ist nicht tot, sie ist nicht einmal vergangen wieder einmal wahr wird. Manche aus der Klasse bleiben für ewig verschwunden. Der Dieter, der uns in ▹Paris soviel Ärger bereitete, soll irgendwo im südamerikanischen Dschungel geblieben sein. Ich besaß immer Listen, auf denen alle aus der Klasse mit Adressen (und später mit ihren E-Mail Adressen) standen. Der Achim und der Eckehart haben diese Listen zuerst erstellt. Eckehart hat immer die Mütter angerufen, um nach der Adresse des Sohnes zu fragen. Er konnte gut mit Müttern, meine Mutter schwärmte von ihm. Manche aus der Klasse waren nie auf den Listen, die waren einfach weg.

Was immer aus meinem Freund ▹Charlie geworden ist, der mich damals zur Lektüre von ▹Jack Kerouac gebracht hat, und mit dem zusammen ich Kartenabreißer bei Jazzkonzerten war. Wenn alle drin waren, durften wir auch rein, umsonst. Als ich ihn das letzte Mal sah, trug er die ▹Uniform eines Leutnants der Feldjäger, danach habe ich ihn nie wiedergesehen. In unserer Stammkneipe, wo ich routinemäßig nachfragte, hatte niemand etwas von ihm gehört. Eckehart ist auch schon tot. Er schrieb Gedichte und schickte mir immer seine Bände. Ich mochte ihm nie sagen, wie schlecht die Gedichte waren. Leben ist Brückenschlagen über Ströme, die vergehen ist nicht von ihm, das ist von ▹Gottfried Benn.

Der Eckehart war eine gute Seele, ich mochte ihm nicht wehtun. Unsere Klasse hat keine wirklichen Dichter oder Romanciers hervorgebracht. Die ▹Gedichte, die wir schrieben, hüteten wir in der Schreibtischschublade. Da waren sie gut aufgehoben. In der Parallelklasse gab es mal einen, der mit mir in der Theater AG war, der hat später Romane geschrieben. In der Jugend sah er aus wie der junge ▹Parzival, da hatte ich ihn während der Proben photographiert. Im Alter ist er fett geworden, als ich ihn vor Jahren traf, hat er mich nicht wiedererkannt. Ich ihn auch nicht.

Der Klassenlehrer unserer Lateinklasse, den ich schon in dem Post ▹Bremer Klausel erwähnt habe (auf dem Photo hier sitzt er neben dem Konny), ist im letzten Jahr ▹gestorben. Er hat mir vor Jahren das Du angeboten, damals haben wir uns lange über das Leben unterhalten. Er ist ein guter Mensch gewesen. Er hat meiner Cousine Hannelore vor vielen Jahren mal beim Kaffee erzählt, dass ich einer der besten Schüler der Schule gewesen sei. Das stimmt nun wirklich nicht, aber es zeigt, wie nett der Gustav war. Der in dem Post Bremer Klausel erwähnte Jürgen, dem Gustav Nachhilfeunterricht in Matte gab, ist natürlich Jürgen Trittin gewesen. Der war auch auf meiner Schule.

Wie auch ▹Bernd Neumann, der Erich Frieds Werke verbrannt sehen wollte. Für den haben wir uns schon damals geschämt. Hatte noch kein Abitur und war schon in der Partei. Ich schäme mich noch immer für ihn. Ist fremdschämen hier das richtige Wort? Ich brauchte keinen Nachhilfeunterricht in Matte bei Gustav. Die Fünf, die ich mir einmal bei ▹Walter Dohrmann (der schon meine Mutter am Lyceum unterrichtet hatte) eingefangen hatte, habe ich ganz einfach dadurch ausgebügelt, dass ich die Schularbeiten gemacht habe. Und sie nicht morgens vom Klassenbesten abschrieb, wie es meine Art war. Und dann habe ich das ganze Schuljahr eine Eins nach der andern geschrieben, bei den schwierigsten Kurvendiskussionen. Das hat das kleine mathematische Weltbild von Dohrmann zum Einsturz gebracht.

Von meiner Volksschulklasse kenne ich noch alle mit Namen, ich brauche nur ein Photo (wie das von der ▹Hafenrundfahrt in Hamburg Anfang der fünfziger Jahre) zu sehen und kann jeden identifizieren. Meine Sandkastenlieben zuerst. Dann die aus der Nachbarschaft. Und die kleine Schlampe unten aus dem Ort, die mit sechzehn mit einem gehäkelten Bikini aus grüner Wolle zum ▹Schönebecker Sand kam, die habe ich natürlich auch nicht vergessen. In der Volksschule (sechs Jahre, dafür hatten die amerikanischen Besatzer gesorgt) gab es selbstverständlich Mädchen, im Gymnasium nicht. Frauen gingen zum Lyceum, dazwischen war eine Straße, die durften wir nicht überqueren. Wir wussten, wovon das Lied von den zwei Königskindern handelte. Irgendwann wurde auch bei uns die Koedukation eingeführt. Ich weiß noch genau, wann das war. Das war das Jahr, als mir Renate ▹Liebesbriefe nach Frankreich schickte.

Die Leute auf dem Photo vom ▹Abtanzball kenne ich beinahe auch alle - bis auf die Frau neben mir, die mir für den Abend zugelost worden war. Ich weiß zwar immer noch, wo sie wohnte, weiß aber nicht mehr, wie sie hieß. Weil ich nur Augen für eine andere hatte. Von vielen kenne ich die ganze Lebensgeschichte. Nicht von allen. Manche habe ich auch schon in diesen Blog hinein geschrieben, der häufig ein Stückchen Autobiographie ist. Wie die Annegret, die so schön singen konnte, die sich jetzt in dem Post ▹Ingeburg Thomsen wiederfinden könnte. Wenn sie diesen Blog lesen würde. Das ist übrigens ein Post, der mir sehr gefällt. Nicht nur, weil er bei Google ganz oben steht, sondern auch, weil so viel tausend Leser den schon angeklickt haben. Annegret, die so herzzereißend schön You are my sunshine singen konnte, war bei uns in der Volksschule ein Star. Im wirklichen Leben nicht, obgleich sie auch mit vierzig noch gut aussah, als sie aus Kalifornien zu Besuch in ihren Heimatort gekommen war. Ingeburg Thomsen, die ich in Hamburg singen hörte, war mal ein Star, aber sie ist leider in der Versenkung verschwunden.

Manche aus der Klasse sind ein bisschen berühmt geworden. Der Konny unbedingt. Hat alle möglichen Titel und war Richter an höchsten Gerichten. Ist aber dank der Siegrun, mit der ich in der Volksschule war, auf dem Boden geblieben. Die machen immer noch Urlaub auf Langeoog, nicht in der Karibik. Langeoog bedeutete uns damals viel, das steht aber ▹hier schon. Und dann ist da noch der Edu, der ist ein hohes Tier bei der Weltbank in Washington geworden. Hätte ihm niemand zugetraut. Viele aus der Klasse sind Politiker geworden.

Wie ▹Gert Börnsen, der leider auch schon tot ist. Hat in diesem Blog einen Nachruf, den die ganze schleswig-holsteinische SPD gelesen hat. Weil die Gisela, die mal ▹Kultusministerin war, den Text an alle geschickt hat. Dann ist da noch der Claus, der mal Bürgermeister von Bremen war, der aber meine E-Mails nicht beantwortet hat. Das mit den E-Mails ist sowieso ein Problem. Ich wollte den Frank erreichen, aber der hat nie geantwortet. Als ich mich bei einem Klassenkameraden darüber echauffierte, sagte der: Weißt Du, der Frank ist zu doof für'n Computer, und seine Sekretärin hat das wahrscheinlich verschusselt. Wahrscheinlich ist das mit dem Claus genau so, denn das letzte Mal, dass wir uns sahen, haben wir uns umarmt und eine Stunde lang inmitten der Menschenmenge eines Volksfestes gequatscht (inzwischen funktioniert das auch mit den Mails).

Das letzte Mal, das letzte Mal ... Jedes Treffen kann das letzte Mal sein. Das letzte Mal, dass ich den Konny gesehen habe, ist auch schon Jahrzehnte her. Das war ein Treffen der Evangelischen Jugend mit unserem alten Diakon ▹Nebelung, der inzwischen längst Pastor war. Es war ein schöner Abend. Der Konny war damals wohl schon Staatssekretär. Ich bin hinterher mit dieser ▹schönen Frau abgeschwirrt, die die Liebe meines Lebens war, und die heute nicht mehr mit mir reden will. Richtig zickig. Da kannste nichts machen, die iss einfach so, hat mir Ute gesagt. Wir kennen uns alle zu gut, wir waren alle in einer Klasse in der Volksschule in der Nachkriegszeit, zusammengepfercht auf engstem Raum. In meiner Erinnerung hat die Nachkriegszeit etwas Klaustrophobisches, dem man am besten entkam, wenn man auf Weserdeichen spazierenging. Die schöne Frau war immer eifersüchtig auf die singende blonde Annegret, denn sie konnte selbst auch sehr schön singen. Das habe ich schon in dem Post ▹Mein Dänemark geschrieben. Ein Post, der offensichtlich ganz viele Leser erfreut. Auch das ▹Schreiben ist Brückenschlagen über Ströme, die vergehen. Ich bin hemmungslos subjektiv, ich erzähle meine Geschichte. Wieder und wieder. Sieh, liebes Kind, das ist ein Vorzug, den die Leute haben, die nicht schreiben: sie kompromittieren sich nicht.

Der Konny, mit dem ich immer abends beim Bauern Pundt Milch geholt habe, ist zu der Beerdigung von Wuddel und der von Pastor Nebelung gefahren. Ich vermeide Beerdigungen. Wie Klassenfeste. Aber ich habe eine Stunde mit Wuddels Frau telephoniert und Frau Nebelung einen langen Brief geschrieben, ich wahre die Konventionen. Und der Konny hat meinen großen Respekt, weil er sich immer kümmert. Nachdem ich mein Abiturzeugnis bekommen habe, bin ich nie wieder in meiner Schule gewesen. Non vitae, sed scholae discimus. Ich bin ein paar Mal zu den Treffen in der Strandlust gewesen, die von dem Verein der Ehemaligen organisiert wurden und jedes Jahr nach Weihnachten stattfanden. Aber bei diesen Frühschoppen traf man nur die falschen Leute. Die schönen Frauen gingen da nie hin. Weil sie au pair in Frankreich waren. Oder aus Hass auf die Eltern nie wieder in diesen Ort hier zurück wollten. Ich mochte die ▹Strandlust eh nicht besonders, ich konnte den Direktor nicht leiden. Eins, zwei, drei Bälle und der Abtanzball (und ▹Franz Josef Strauß) haben mir da gereicht. Wenn mich der Konny zum nächsten Klassentreffen einlädt, dann schicke ich ihm diesen Post vorbei - und wenn der Klaus dabei sein sollte und sich an die Wette mit dem Jaguar erinnert: ich bin bereit, nach mehr als einem halben Jahrhundert den Kasten Sekt zu bezahlen.

Einen grünen Jaguar mit roten Ledersitzen habe ich immer noch nicht. Brauche ich auch nicht, ich kann jederzeit beim ▹Keith in einem Daimler Double-Six oder einem Bentley sitzen. Ich habe auch nie einen Zettel an meinen Schreibtisch geklebt wie Herman Melville, auf dem steht Keep true to the Dreams of thy Youth. Ich hatte nie große Zukunftserwartungen, mir genügte die middle station of life, die der Vater von Robinson Crusoe seinem Sohn empfiehlt. Der Vater war ja bekanntlich Bremer. Die bleiben vernünftig. Heute träume ich nur noch von der Vergangenheit, häufig sind es Alpträume. Aber manchmal sind es auch schöne Träume, in denen die schönen toten ▹Frauen wieder lebendig sind. Und die zickige Frau, der ich einen Brief mit Oh! je voudrais tant que tu te souviennes des jours heureux où nous étions amis. En ce temps-là la vie était plus belle, et le soleil plus brûlant qu'aujourd'hui vorbei geschickt habe, und die dann nicht mehr böse ist und nur für mich L'amour est un oiseau rebelle singt. Man wird ja noch träumen dürfen.

Dienstag, 27. Dezember 2016

Vierzig Jahre


In seiner Weihnachtskarte schrieb mir der Kunsthistoriker Joachim Kruse, dass es jetzt schon vierzig Jahre her sei, dass wir diese Ausstellung Illustrationen zu Melvilles "Moby-Dick" gemacht hätten. Vierzig Jahre, es ist nicht zu glauben. Die Sonderausstellung des Landesmuseums im Schloss Gottorf vom 18.6. bis zum 19.9.1976 war eine Ausstellung des Landes Schleswig-Holstein für die Feiern des Bicentennials der Vereinigten Staaten. Heute sind die Vereinigten Staaten vierzig Jahre älter. Und wie haben sie sich verändert.

Damals war Gerald Ford noch Präsident und Jimmy Carter wurde als neuer Präsident gewählt, honorige Leute, keine Heiopeis. Ein Mann wie Donald Trump wäre 1976 nicht vorstellbar gewesen. Während des letzten Wahlkampfs haben viele Journalisten Melvilles Werke bemüht. Für manche, wie die NZZ, war er der Schwindler aus The Confidence Man, für andere war Trump der geisteskranke Kapitän Ahab aus Moby-Dick. Der, wie wir aus dem Roman wissen, mit dem Wal untergeht. Wir werden sehen, wie diese Geschichte endet.

Dr Joachim Kruse, dessen Schlattenschammes ich 1976 war, war Direktor in Schleswig, kurz danach ist er der Direktor der Kunstsammlungen der Veste Coburg geworden. Er lebt heute noch dort; wir beide, die wir damals durch die Arbeit an der Ausstellung verbunden waren, schicken uns immer noch Weihnachtskarten und Briefe. Ich habe ihm vor Jahren auch einen Teil meiner Bremensien geschickt, die er als Free Jazz in Prosa bezeichnete. Das war sehr witzig, er hatte sowieso viel Humor.

Als ich einen Cartoon aus dem amerikanischen Playboy anschleppte, der einen Seemann auf dem Bett neben einer sehr voluminösen weißblassen Nutte zeigte, die zu ihm sagt: And stop calling me Moby Dick, sagte Kruse nur: Den nehmen wir. Der Cartoon wanderte in den Katalog. Wir waren die ersten, die auch Cartoons der Melvilleschen Bilderwelt zeigten, später hat ein amerikanischer Professor, dem ich unseren Katalog geschickt hatte, ein ganzes Buch über Moby-Dick in der Popular Culture geschrieben. Und auch Andrew Delbanco geht in seinem sehr guten Melville Buch mit einem Kapitel darauf ein.

Es gab damals noch keine Computer, kein Internet, wo man einen Volltext von Moby-Dick finden konnte. Wann immer Kruse ein Zitat suchte, musste ich Moby-Dick wieder und wieder lesen. Wahrscheinlich habe ich mir deshalb den Namen des ersten Kapitels als Internetadresse meines Blogs genommen. Denn dieses loomings heißt etwas, was man ganz fern am Horizont sieht, es ist eine Augentäuschung, bei der man Dinge sieht, die man eigentlich nicht sehen kann. Der Muret Sanders bietet uns als Übersetzung Kimmung an, damit kann man leben. Wenn man heute loomings bei Google eingibt, dann landet man schnell bei mir, dafür hat mein Blog gesorgt. Ich glaube, es würde Herman Melville, den ich immer wieder in diesen Blog geschrieben habe, freuen.

Auch wenn es keinen Computer und keine Mobiltelephone gab, hatten wir einen vorzüglichen Draht in die USA. Wir gaben am Vormittag unsere getippten Wünsche in der Staatskanzlei ab, am Nachmittag waren die schon bei einem Stab in Washington, der sie an amerikanische Museen weitergab. Wir hätten aus Boston John Singleton Copleys Watson and the Shark bekommen können, das ich für einen Aufsatz im Katalog brauchte. Aber da hatte ich Angst und begnügte mich mit einer hervorragenden klischierfähigen Photographie, die das Museum of Fine Art uns schickte.

Was man in Deutschland und England vor vierzig Jahren auf die Beine stellen konnte, das konnte man in Amerika nicht. Und im Amerika des Donald Trump wird die Kultur und die amerikanische Kulturgeschichte wohl überhaupt keine Rolle spielen. Es gab in den USA keine Ausstellung, die mit der Düsseldorfer Ausstellung The Hudson and the Rhine hätte konkurrieren können. Amerikas Museen, die die Arbeit an den deutschen Ausstellungen wegen tausenderlei Anfragen zu spüren bekamen, hätten den Deutschen jetzt alles ausgeliehen. Unbürokratisch und unkonventionell. Weil sie gemerkt hatten, dass die eigene Nation, die sich eigentlich selbst feiern sollte, überhaupt kein Konzept für gute Ausstellungen hatte. Das Sonderheft von Superman salutes the Bicentennial im ersten Absatz zeigt ungefähr das Niveau der amerikanischen Feiern.

Der Kriegsgegner von 1776 brachte etwas ganz anderes zustande, nämlich die großartige Londoner Ausstellung 1776: The British Story of the American Revolution. Es gab in Amerika viel Remmidemmi und Events, doch das war alles mehr patriotisches Disneyland als eine seriöse Aufarbeitung der Geschichte. George Washington wurde nachträglich zum Sechs Sterne General ernannt, das musste sein. Ein führender amerikanischer Museumsdirektor hat Jahrzehnte später gesagt, dass die deutschen Ausstellungen zur Zweihunderjahrfeier bei den amerikanischen Museen einen Prozess des Umdenken bewirkt haben. Eines der originellsten Produkte aus Amerika war da noch das Time Magazine vom 4. Juli 1976 mit seiner Special Bicentennial Ausgabe to reconstruct with the tools of both history and journalism, and in our [Time’s] distinctive newsmagazine format, at least part of the life and soul of the events that gave birth to our nation.

Hundert Jahre vor dem Bicentennial - fünfundzwanzig Jahre nach dem Erscheinen von Moby-Dick - hat der New Yorker Zollinspektor Nummer 75 sein episches Gedicht Clarel (hier im Volltext) veröffentlicht. Es fand noch weniger Käufer als Moby-DickThough I wrote the Gospels in this century, schreibt er im Juni 1851 an seinen Freund Nathaniel Hawthorne, I shall die in the gutter. Im November kündigt er Hawthorne Moby-Dick an und schreibt: I have written a wicked book, and feel spotless as the lamb. Fünf Jahre lang, meistens in der Nacht, hat Melville an Clarel geschrieben: A "cynic," perhaps, you might call him, a rover at heart, he knew people only too well, used to say I was told, there was no such thing as gratitude, the word even was not mentioned in the bible, hat Melvilles Verwandte Charlotte Hoadley über ihn gesagt. Was ist er? Agnostiker, Atheist, Skeptiker?

Melville Reise durch das Heilige Land ist eine Suche nach Gott. Aber er findet nur Sand und Steine: Stones of Judea. We read a good deal about stones in Scriptures. Monuments & stumps of the memorials are set up of stones; men are stoned to death; the figurative seed falls in stony places; and no wonder that stones should so largely figure in the Bible. Judea is one accumulation of stones—stony mountains & stony plains; stony torrents & stony roads; stony walls & stony fields, stony houses & stony tombs; stony eyes &stony hearts. Before you and behind you are stones. Stones to the right &stones to the left. Und an anderer Stelle schreibt er: the desolation of the land [is] the result of the fatal embrace of the Deity? Hapless are the favorites of heaven. Und das Go mad I can not: I maintain The perilous outpost of the sane ist vielleicht ein autobiographischer Satz.

Melvilles Gott findet sich vielleicht in dem, was er über den kleinen Pip in Moby-Dick sagt: The sea had jeeringly kept his finite body up, but drowned the infinite of his soul. Not drowned entirely, though. Rather carried down alive to wondrous depths, where strange shapes of the unwarped primal world glided to and fro before his passive eyes; and the miser-merman, Wisdom, revealed his hoarded heaps; and among the joyous, heartless, ever-juvenile eternities, Pip saw the multitudinous, God-omnipresent, coral insects, that out of the firmament of waters heaved the colossal orbs. He saw God's foot upon the treadle of the loom, and spoke it; and therefore his shipmates called him mad. So man's insanity is heaven's sense; and wandering from all mortal reason, man comes at last to that celestial thought, which, to reason, is absurd and frantic; and weal or woe, feels then uncompromised, indifferent as his God.

Zu Clarel, das Robert Penn Warren einen Vorläufer von Eliots The Waste Land genannt hat, hätte man 1976 wohl keine Ausstellung machen können (die deutsche Ausgabe von Rainer G. Schmidt erschien erst vor zehn Jahren). Zu Moby-Dick schon. Denn es ist ein Roman zu dem Regisseure, Maler und Illustratoren immer wieder Bilder beigesteuert haben. Und Joachim Kruse verstand es, die Bilder herbeizuschaffen, ein Organisationstalent und ein Meister der Diplomatie. Quatschte am Telephon den widerstrebenden Horst Janssen herum, ein Bild nach Schleswig zu geben. Band die Meeresforscherin Petra Deimer (lesen Sie mehr in Scrimshaw) in die Ausstellung ein. Und man konnte die Songs of the Humpback Whale von der Platte hören (können Sie hier auch). Vierzig Jahre sind seit der Ausstellung Illustrationen zu Melvilles "Moby-Dick" vergangen, in die ich mich damals mit jugendlichem Elan geworfen hatte. So vergeht Jahr um Jahr und es ist mir längst klar, daß nichts bleibt, daß nichts bleibt wie es war. Vierzig Jahre, ich sehe alles noch vor mir. Mein Peugeot konnte die Strecke nach Schleswig im Schlaf. Zitate in Moby-Dick finde ich, ohne den Computer zu bemühen.

Es hatte schon vor dem Jahr 1976 in Schleswig Ansätze zu einer Ausstellung über den Walfang und Moby-Dick gegeben. Will Sohls Illustrationen wären sicherlich eine Ausstellung wert gewesen, aber die war aus finanziellen Gründen gescheitert. Doch für die deutsch-amerikanische Freundschaft war 1976 aus den Verfügungsmitteln des Ministerpräsidenten Geld da. Und es ging ja nicht nur um Melvilles Meisterwerk, auch genügend Künstler aus dem Land waren in der Ausstellung repräsentiert. Dieser Sturz von der Pequod ist von dem Flensburger Maler Ekkehard Thieme, ich besitze auch eine Radierung aus diesem Zyklus. War damals schwer zu bekommen, weil Thieme kaum verkaufte, aber wo ein Wille ist, da ist am Ende auch eine Thieme Radierung.

Ein Nebenprodukt der Ausstellung war, dass mir Joachim Kruse den schönen Katalog Gemessene Zeit: Uhren in der Kulturgeschichte Schleswig-Holsteins schenkte. Das war nun ein Danaergeschenk, denn von dem Augenblick an wollte ich alles über die tickenden Teufelsherzen wissen. Unser Katalog, den dieser Ahab von Rockwell Kent zierte, ist natürlich längst vergriffen, aber man kann antiquarisch wohl noch ein Exemplar - vielleicht nicht im besten Zustand - bekommen. Als ich mein letztes Belegexemplar dem amerikanischen Professor Sandy Marowitz schenken wollte, winkte der ab. Jeder Melville Forscher in Amerika besäße diesen Katalog, versicherte er mir. So haben wir doch ein wenig Furore gemacht.

In der Ausstellung gab es eine Wand voller Darstellungen des Kapitäns Ahab, alle waren anders. Aber alle waren wie dieser Ahab von Robert Shore ein wenig dämonisch. In seiner Eröffnungsrede sagte Joachim Kruse, der ebenso wie Jens Christian Jensen der SPD nahestand (sie waren damals die beiden einzigen Museumsdirektoren in dem auf allen Gebieten von der CDU beherrschten Bundesland), dass er beobachtet hätte, dass alle Besucher nur auf den Kapitän Ahab geschaut hätten. Er sei eher auf der Seite der Mannschaft. Der Ministerpräsident Stoltenberg, dem ich die Eröffnungsrede geschrieben hatte, war sichtlich verärgert. You can't win them all.

1976 war der Roman Moby-Dick 125 Jahre alt geworden, außer durch die Schleswiger Ausstellung wurde das nicht gefeiert. Dennoch gab es vor vierzig Jahren Schlagzeilen, in denen auch der Name Moby Dick vorkam. Also zum Beispiel Peter, Sue & Marc mit ihrem Song Moby Dick oder der Marvel Classics Comics #8. Der allerdings im Gegensatz zu einer Erstausgabe von Moby-Dick oder dem Schleswiger Katalog von 1976 in den letzten vierzig Jahren nicht an Wert gewonnen hat. Und dann gab es ja auch noch die Indienststellung des Rheindampfers Moby Dick der Bonner Fähr- und Fahrgastschiffahrt. Das Schiff fährt heute immer noch, obgleich es mal gerammt wurde. Allerdings von keinem Wal wie die Pequod.

Vierzig Jahre, ein halbes Leben. Herman Melville ist vierzig Jahre nach dem Erscheinen seines Romans Moby-Dick gestorben, da kannte ihn niemand mehr. Die New York Times bekam nur diese klägliche Notiz zustande: Herman Melville died yesterday at his residence, 104 East Twenty-sixth Street, this city, of heart failure, aged seventy-two. He was the author of Typee, Omoo, Mobie Dick, and other sea-faring tales, written in earlier years. He leaves a wife and two daughters, Mrs. M. B. Thomas and Miss Melville. Das Mobie Dick gefällt mir besonders. Die Zeitung besserte aber wenige Tage später mit einem halbwegs akzeptablen Nachruf nach. Schrieben dabei Moby-Dick auch richtig.


Mehr zu der Ausstellung vor vierzig Jahre in Melvilles Moby-Dick

Montag, 26. Dezember 2016

Christmas Cards


Sie werden die Geschichte von dem Geizhals Ebenezer Scrooge kennen, er begegnet uns in ➱Charles Dickens' Christmas Carol. Das griechische Finanzministerium hat in diesem Jahr eine Weihnachtskarte mit der originalen Illustration von John Leech an Journalisten verschickt. Auf der Karte steht: Perhaps all Christmas stories feature a terrifying Ebenezer welcoming the spirits of Christmas in his desolate loneliness, and perhaps our Christmas story is no exception. But dear friends and colleagues, our wishes will prevail over all the Ebenezers of this world. A very happy new year, with health and love focused on those all around us. Mit den Ebenezers of this world sind die Kreditgeberländer gemeint. Da wird sich Frau Merkel sicher freuen.

Dabei sparen sie ja, ➱die lieben, nie zahlenden Griechen. Schon vor der Staatspleite von 1893 war man dabei zu sparen. Es gibt die schöne ➱Anekdote, dass der Premierminister das Finanzministerium damals angewiesen habe, den Posten Katzenfutter zu streichen: Wenn die Katze ihre Arbeit sauber macht, braucht sie das Futter nicht, wenn sie ihre Arbeit nicht sauber macht, dann brauchen wir sie nicht. Dieses Bild hier ist nicht als Weihnachtskarte verschickt worden, es wäre aber vielleicht eine Anregung für das griechische Finanzministerium für das nächste Jahr.

Sie haben doch bestimmt auch Weihnachtskarten verschickt. Solche für einen guten Zweck? Kitschige? Komische? Oder selbstgemachte Karten mit dem guten alten Kartoffeldruck? Wir können den Karten und der Kartenflut gar nicht entgehen. Dabei gibt es sie noch gar nicht so lange. Für eine kleine Geschichte der Weihnachtskarte kommen wir nicht an dem Engländer Sir Henry Cole vorbei.

Sir Henry ist schon mehrfach in diesem Blog gewesen. Dass er die Christmas Card und die Penny Post erfunden hat, stand schon 2011 in dem Post ➱Bill Bryson; die Dinge, für die er eigentlich berühmt wurde, finden sich in den Posts ➱Prince Consort und ➱Alfred Lichtwark. Das hier ist übrigens die erste Weihnachtskarte der Welt, in Auftrag gegeben von Sir Henry Cole und illustriert von John Callcott Horsley. 1843 in einer ersten Auflage von tausend handkolorierten Exemplaren in den Handel gekommen (es gab danach noch eine zweite Auflage). Es hat davon immer wieder Reproduktionen gegeben, besäße man eine originale Karte, dann hätte man ein kleines Vermögen.

John Callcott Horsley, der auch diesen wunderbaren viktorianischen Kitsch produziert hat, ist Mitglied der Royal Academy gewesen; er hatte das Glück, schon als junger Maler die Gunst des Mäzens John Sheepshanks erlangt zu haben. Das ist der Millionär, der einmal aus dem Erster Klasse Abteil der Bahn geworfen wurde, obgleich er einen gültigen Fahrtausweis hatte, er sah so abgerissen aus. Englische Gentlemen pflegen heute immer noch so einen Look, Männer in neuen Anzügen und neuen Schuhe sind Neureiche, keine Gentlemen. Der Kunstsammler Horsley, dem das ➱Victoria & Albert Museum viel verdankt, begegnet uns in diesem Blog immer wieder, so zum Beispiel in den Posts ➱Robert Vernon, ➱Francis Danby, ➱David Wilkie, ➱William Turner in Kiel und ➱Gordale Scar.

Für anglophile Leser kann ich das Buch From Stonehenge to Santa Claus: The Evolution of Christmas von Paul Frodsham empfehlen, in dem auch Weihnachtskarten vorkommen. A propos anglophile Leser: obgleich dies ein Blog ist, in dem viel England und ➱Engländer vorkommt, lesen mich die Inselaffen überhaupt nicht. Das hat nichts mit dem ➱Brexit zu tun, die haben mich auch vorher nicht gelesen. Dafür bin ich seit zwei Monaten der darling der Franzosen, das finde ich très charmant. Im Augenblick lesen mich erstaunlicherweise jeden Tag genau so viel Franzosen wie Deutsche, da kann ich gerne auf die Engländer verzichten.

Obgleich die die Traditionen des Weihnachtsfests sehr kritisch sehen können. So die Historikerin Judith Flanders auf der Seite der ➱British LibraryShould one want to find the ultimate Christmas celebration, the oldest traditions, the most cherished customs, surely Dickens is the author to turn to. The problem is that, during Dickens’s lifetime, most of these traditions were barely traditions at all. The ‘traditional’ British Christmas we know today is not found in the mists of history, but is entirely a product of industrialisation. Alles nur Kommerz. Oder mit den Worten von Ebenezer Scrooge: Humbug, humbug.

In der Kieler Universitätsbibliothek gibt es seit dem Nikolaustag die Ausstellung ➱Alle Jahre wieder - Zur Geschichte der Weihnachtspostkarten, die noch bis zum 26. Februar 2017 zu sehen ist. Das Konzept der Ausstellung wurde von der Kieler Kunsthistorikerin Dr Birthe Gaethke erarbeitet, über zweihundert Karten mit ergänzenden Objekten sind hier zu sehen. Das ist ein Nostalgietrip durch die Welt der Weihnachtspostkarte, aus einer Zeit, als es die ➱Universelle plus noch nicht gab. Im schleswig-holsteinischen Schwarzenbek stehen vierzig von diesen Hightech Maschinen, die handschriftliche Karten schreiben. Falls ihnen der Ortsname Schwarzenbek nicht sagt, dann sollten Sie mal eben den Post ➱Schwarzenbek lesen. Dann wissen Sie, weshalb Louis Armstrong von dem Ort begeistert war. Das hier oben ist übrigens die neue Universitätsbibliothek. Dieses Manche leuchten, wenn man sie liest der Neon Lichtinstallation von Elsbeth Arlt ist natürlich ein ➱Zitat. Ohne Zitate geht es in der Uni nicht. In Krimis wie ➱Morse oder ➱Lewis auch nicht.

Birthe Gaethke, die schon eine Vielzahl interesanter Ausstellungen kuratiert hat, hat auch noch ein Buch zu dem Thema geschrieben: ➱Engelsgrüße aus der Ferne. Weihnachtspostkarten aus alter Zeit, am 1. Dezember im Husum Verlag erschienen. Wenn Sie jetzt merken, dass Sie einigen lieben Menschen keine Weihnachtskarte geschickt haben: schicken Sie doch dieses Buch, es kostet nicht die Welt! Das griechische Finanzministerium hat übrigens auch gespart. Wie Ebenezer Scrooge. Die kleine Haßbotschaft auf die europäischen Scrooges fand sich nicht auf einer gedruckten Karte. Und auch die Universelle plus in Schwarzenbek brauchte nicht in Aktion zu treten: dies war eine E-Card. Ist billig, hat aber keinen Stil.

Samstag, 24. Dezember 2016

Bremer Stadtmusikanten


Bei Janosch sehen sie ein wenig anders aus, diese Bremer Stadtmusikanten. Und im Laboratorium Theater in Oldenburg auch. Da hätten sich die Brüder Grimm gewundert. Aber nur bei ihnen lesen wir: »Ei was« sagte der Esel, »zieh lieber mit uns fort, wir gehen nach Bremen, etwas Besseres als den Tod findest du überall. Du hast eine gute Stimme, und wenn wir mitsammen musizieren, wird es gar herrlich klingen.« So steht es 1819 in der zweiten Auflage der Kinder- und Hausmärchen (die Variationen des Märchens in den verschiedenen Auflagen von 1819 bis 1857 finden Sie hier). Angeblich soll der Ortsname Bremen in der Urfassung gar nicht erwähnt worden sein. Und dabei hatte man sich im Bremer Umland von Syke bis Kirchlinteln schon daran gewöhnt, dass die Tiere von hier auf ihre Reise nach Bremen aufbrechen. Wohin sie ja überhaupt nicht kommen, weil diese Vorläufer von Stadtguerillas und Hausbesetzern ein Räuberhaus in Beschlag nehmen und dort bleiben. Als einzelne sind sie verloren, gemeinsam sind sie stark.

Räuber gibt es immer in Märchen. Damit wir uns von klein auf daran gewöhnen, dass die Welt böse ist. Selten werden Räuber gute Menschen, wie in dem Märchen vom Räuber und seinen Söhnen. Wo der alte Räuber sagt: Ach liebe Kinder warum wollt ihr nicht ruhig leben und mit wenigem zufrieden sein. Ehrlich währt am längsten. Die Räuberei ist eine böse und gottlose Sache, die zu einem schlimmen Ende führet: an dem Reichtum, den ihr zusammenbringt, habt ihr keine Freude: ich weiß ja wie es mir dabei zu Mut gewesen ist. Ich sage euch, es nimmt einen schlechten Ausgang. Der Krug geht so lange zum Wasser bis er bricht: ihr werdet zuletzt ergriffen, und an den Galgen gehenkt.

In Bremen steht diese Plastik von Gerhard Marcks neben dem Rathaus (es gibt an anderen Stellen auch zwei Plastiken von meinem Onkel, dem Bildhauer Karl Lemke). Die Beine des Esels sind ganz hell, immer wieder ist Touristen erzählt worden, dass es Glück bringt, wenn man seine Beine berührt. Das ist so ähnlich wie bei dem Trevi Brunnen in Rom, da soll es ja auch Glück bringen, wenn man eine Münze hineinwirft. Allerdings sind die Schweine in der Sögestraße auch schon ein bisschen blankgestreichelt, und da behauptet niemand, dass das Glück bringt. Die Bremer mochten die Plastik (von der es Abgüsse in der Harvard University und in Milwaukee gibt) zuerst nicht, weil sie ihnen zu abstrakt und nicht lustig genug war. Aber inzwischen sind die bronzenen Musikanten nach dem Roland das beliebteste Denkmal der Stadt. Den Rosselenker von Louis Tuaillon lassen wir mal weg.

Dies hier ist das Schloss Thienhausen, das einmal im Stil der Weserrenaissance umgebaut wurde. Es gehört dem alten Adelsgeschlecht der Haxthausen, nach vierhundert Jahren verkauft es die Familie gerade. Das Schloss liegt nicht im Bremischen, und auch Syke und Kirchlinteln, von wo die Stadtmusikanten angeblich aufbrechen, sind da nicht in der Nähe.

Eher Paderborn. Die Grimms haben in ihrem Manuskript an den Rand der Erzählung von den Stadtmusikanten aus dem Paderbörnischen geschrieben. Ein Viertel der Märchen ihrer Sammlung kommt aus dieser Gegend. Paderborn ist ein Ort, bei dessen Erwähnung mein Opa nie den Spruch Der Herrgott schuf in seinem Zorn Sennelager bei Paderborn zu erwähnen vergaß. Jahrzehnte später wusste ich, was er damit meinte. Ein Herbstmanöver der Bundeswehr bei Schietwetter und dann die rote Erde von Sennelager. Brrrrr. Die rote Erde kommt auch bei Annette von Droste-Hülshoff vor, die Gedichte zu Producte der Rothen Erde – Westfälisches Jahrbuch beigesteuert hat. Sie hat übrigens auch etwas mit diesem Schloss zu tun, denn ihre Mutter war eine geborene von Haxthausen.

Und der Freiherr August Franz von Haxthausen, der ein erstaunlicher Mann war, hat auch die literarische Karriere seiner Nichte gefördert. Und er hat ihr die Geschichte erzählt, aus der dann Die Judenbuche entstanden ist. Die sind da ja alle große Märchenerzähler, mein Opa, der auch ein großer Märchenerzähler war, kam auch aus dieser Gegend. Axthausen sammelte Volkslieder, und er erzählte den Grimms die Geschichte mit den vier Außenseitern der Gesellschaft, die den Tod vor Augen haben. Bis der Esel sagt: Wir gehen nach Bremen, etwas Besseres als den Tod findest du überall. Bremen, die große Hoffnung auf ein besseres Leben. Auch wir kleinen Nikoläuse wollten in unseren Lieder immer nach Bremen: Halli, halli, hallo, nu geiht nach Bremen to.

Dies hier ist das Schloss Bökerhof, das Haxthausen bewirtschaftete, bevor er Thienhausen kaufte. Hier traf sich der Bökendorfer Romantikerkreises (heute ist es ein Literaturmuseum), hier gingen die Grimms bei Werner und August Franz von Haxthausen ein und aus. Der Bremer Journalist Gerrit Reichert hat mal auf die Landkarte geschaut und herausgefunden, dass in nächster Nähe des Schlosses eine Ortschaft namens Bremerberg ist. Die früher einmal die Namen Breme, Bremen oder Lüttekenbremen trug. Muss man noch mehr sagen? Muss die Plastik von Gerhard Marcks jetzt in Bremerberg aufgestellt werden?

Aber vielleicht war ja alles ganz anders. Mein Freund Ekke Dahle, dessen Cartoons hier schon häufig die Leser erfreut haben, hat sich an unsere Jugendzeit erinnert. Damals, als es noch (wie im Märchen) richtige Winter gab. Als man noch Schlittschuhlaufen konnte (lesen Sie mehr dazu in dem Post Schlittschuhlaufen). Auf dem Krümpel, auf der Aue, auf dem Teich vor dem Schönebecker Schloss, auf Hamme und Wümme. Und er hat unsere Bremer Stadtmusikanten auf das Eis versetzt. Da jagen sie dahin, in eine ungewisse Zukunft. Ist aber alles besser, als von der Herrschaft erschlagen oder ersäuft zu werden.

Die Geschichte der Bremer Stadtmusikanten ist eigentlich ein Weihnachtsmärchen, hat Gerrit Reichert gesagt. Wir lassen das einmal so stehen, weil am Ende alles gut ist: den vier Bremer Musikanten gefiels aber so wohl darin, daß sie nicht wieder heraus wollten und der das zuletzt erzählt hat, dem ist der Mund noch warm. Ich wünsche meinen Lesern ein frohes Weihnachtsfest. Und einen gedeckten Tisch mit schönem Essen und Trinken, wie ihn die Musikanten in dem verlassenen Haus vorfinden. Und keine Räuber.

Das Kunstwerk im zweiten Absatz wurde vom Kindern einer Gundschule erschaffen, es steht jetzt im Gerhard Marcks Haus.

Donnerstag, 22. Dezember 2016

Improvisationen


Wenn ich Hannes Meyer, dem Leiter des Jugendheims Alt-Aumund, abends beim Aufräumen half, dann durfte ich im im großen Saal noch am Flügel sitzen und spielen. Bis er nach Hause wollte. Der Saal war schon dunkel, Licht brauchte ich nicht: dies waren Improvisationen. Wäre ich damals technisch besser gewesen als ich es war, dann wäre ich Keith Jarrett geworden. Allerdings ohne die Scientology. Was hätte aus mir werden können, wäre ich besser gewesen? Barpianist ist das erste, was mir einfällt. Aber die nehmen auch nicht jeden in der Kneipe.

Theodor Adornos Bemühungen als Barpianist waren nicht von Erfolg gekrönt, Jean Améry hatte da mehr Erfolg. Der liebste unter diesen Barpianisten, die später richtig berühmt geworden sind, ist mir Alphons Silbermann. Nicht weil er in Australien die erste Fast Food Kette begründet hat, sondern weil er dieses wunderbare imaginäre Tagebuch von Jacques Offenbach geschrieben hat (das wird schon in den Posts ➱Arkadien und ➱Jacques Offenbach erwähnt). Früher gab es in Warenhäusern Pianisten, heute gibt es da Muzak, diese Fahrstuhlmusik, die eigentlich gar keine Musik ist. Auch in besseren Hotels blieb man von Pianisten nicht verschont. Ich kann mich noch daran erinnern, dass in einem holländischen Hotel ein Flügel an den Tisch gerollt wurde, bevor das Essen serviert wurde. Und bevor die Suppe kam, kam der Pianist. Die Suppe hätte man eventuell zurückgehen lassen können, den Pianisten nicht.

Manche Pianisten sind mit ihren Improvisationen berühmt geworden. Keith Jarretts ➱The Köln Concert ist schon ein Klassiker. Kann man nach vierzig Jahren immer noch hören. Seinen Mozart besser nicht. Und dann ist da noch Ludovico Einaudi, der für eine Greenpeace ➱Aktion auf (speziell präparierten) Eisschollen spielt. Das hätte ➱Glenn Gould bestimmt nicht getan, der trug schon in geheizten Räumen Handschuhe.

Improvisationen für das Klavier habe ich immer gekauft, zuerst Platten, heute CDs. Man kann sie auflegen und hat den Raum voller Musik, strengt nicht an, ist hervorragend zum Tippen. Was ich empfehlen kann, wäre zum Beispiel Craig Urquharts Songs without Words. Der Mann, der lange der Assistent von Leonard Bernstein gewesen ist, spielt nicht so einfach vor sich hin. Dies ist (wie bei Einaudi) durchkomponierte ➱Musik, die auch schon von ➱anderen gespielt wird: Ihr ist eine trügerische Schlichtheit und Ehrlichkeit zu eigen, die in zeitgenössischen Werken nur selten zu hören ist. Sein klanglicher Ansatz ist nicht bloß aufrichtig sondern in seiner ureigenen Schönheit zutiefst ergreifend, hat Bernstein über Urquhart gesagt. Das ist für die Werbung sicherlich schön, aber Werbung braucht der Künstler wohl nicht, die CDs von Craig Urquhart sind beinahe unbezahlbar. Ich habe einen Euro für Songs without Words bezahlt, bei Amazon kann man auch dreistellige Summen dafür bezahlen.

Hier oben im Norden hatten wir auch mal zwei Pianisten, die für Solo Pianomusik berühmt waren. Ist länger her, das sehen Sie an diesem Plattencover. Der Mann mit dem Namen einer Plattenspielerfirma hieß eigentlich Achim Torpus, aber er sang als Achim Thorens. Und er war producer für alle möglichen Leute. Also zum Beispiel ➱Egon Müller, falls Sie sich an den Speedway Weltmeister noch erinnern können. Und für Joachim Kühn, der zwar nicht aus Kiel kommt, aber von Achim Torpus produced wurde. Mein Gott, wie oft hat der Achim mir das erzählt. Ich konnte ihn eigentlich nicht ausstehen, weil er ein furchtbarer Aufschneider war, aber man wurde ihn nicht los. Er ist schon lange tot (seine nette Frau Carola seit einigen Jahren auch), niemand weiß, ob es ein Unfall oder Selbstmord war. Eigentlich war er trotz seines Diplomatenkoffers und seinem nach außen getragenen Selbstbewußtsein ein armes Schwein, das bleibt im Showbusiness wohl nicht aus.

Doch durch den Achim Torpus ihn habe ich Joachim Kühn kennengelernt und durfte bei Proben zuhören, LPs und CDs von Kühn habe ich heute immer noch. Kann man auch immer noch hören. So sah er damals aus (die Sonnenbrille kam nicht ganz an  Zbigniew Cybulski heran), die Platte wurde im Schloss Bredeneek aufgenommen. Wenn Sie jetzt nach dem Anblick dieses Covers noch mehr 70er Jahre Feeling brauchen, dann lesen Sie doch mal eben den Post ➱Nico. Oder den Post ➱Nina van Pallandt.

Und dann war da noch Thilo von Westernhagen, dessen Musik junge Frauen verzauberte. Ich weiß das, weil ich eine kannte, die von mir unbedingt die Adresse des Pianisten haben wollte. Nur weil ich mal beiläufig gesagt hatte, dass ich mal bei ihm zum Kaffee eingeladen war. Seine erste Platte Sunbeam habe ich immer noch (Sie könnten von der ersten Seite einmal ➱Ma Petite hören), sie liegt aber selten auf dem Plattenteller. Ist mir mit dieser Fusion von ➱ECM Jazz und RischarKleidermann irgendwie zu schön. Aber Westernhagen (der mit der Sopranistin Monika Borchfeldt verheiratet war) war ein netter Typ. Ist auch schon tot, wie so viele, die in den 70er Jahren Erfolg hatten.

Dass ich Michael Wollny mag, habe ich schon in dem Post ➱Nachtfahrt geschrieben, von Wollny habe ich mehrere CDs. Neu für mich war der Franzose ➱Didier Squiban. Ist sehr interessant, hören Sie hier doch einmal in seine CD Molène hinein. Und dann habe ich zum Schluss noch eine Zufallsentdeckung, nämlich meinen Klavierstimmer. Das ist unser bester Mann, sagte mir André Urban vom Pianozentrum Hoppe in Kiel. Der junge Mann heißt Philipp Otterstein (Bild), er ist Klavier- und Cembalobauer und hat bei Schimmel in Braunschweig gelernt. Deshalb hält er die Marke auch für die besten Klaviere. Obwohl er mir nach dem Stimmen sagte: Ihr Klavier hat einen wirklich schönen Klang. Einen schönen Klang hat auch das, was Philipp Otterstein bei YouTube spielt (hören Sie ➱hier einmal hinein). Vielleicht ist ja YouTube der erste Schritt auf dem Weg zu einer CD.

Oder auch nicht, denn da sind hunderte von Talenten, die auch auf dem Piano improvisieren. Und das Internet ist voll von Leuten, die angehenden Pianisten beibringen wollen, wie man improvisiert. Früher gab es die Harmonielehre und die Geläufigkeitsübungen von ➱Czerny, heute lernt man offensichtlich improvisieren. Was einmal das Divertimento war, ist heute Easy Listening, etwas, das man nicht unbeschränkt hören kann. Das weichgespülte Zeuch geht einem irgendwann auf die Nerven. Auch Erik Satie (der sicherlich nicht weichgespült ist) geht einem irgendwann auf die Nerven. Das einzige, das man immer hören kann ist Johann Sebastian Bach. Wir hätten ➱Jacques Loussier gar nicht gebraucht, um zu erkennen, dass Bach eigentlich Jazz ist. Du kannst nicht Jazz spielen, ohne auch Bach zu spielen, hat Joshua Redman gesagt.

Montag, 19. Dezember 2016

William Turner


Als er die Nachricht vom Tod seines Freundes ➱Thomas Girtin bekam, sagte er: Poor Tom... If Tom Girtin had lived, I should have starved. Er wusste, wie gut er war, aber er konnte Größere anerkennen. Die Rede ist natürlich von William Turner, der am 19. Dezember 1851 starb. Der Sohn eines Londoner Barbiers war ein erstaunlicher Mann. Jemand, der eine Bettlerin mit bösen Worten von seiner Tür verscheuchte, um dann hinter ihr her zu laufen. Und ihr eine fünf Pfund Banknote zu geben, das war damals sehr viel Geld. Wer keine Biographien Turners gelesen hat und nicht Peter Ackroyds kleines Turner Buch genossen hat, mag glauben, dass Turner derjenige ist, den wir in Mike Leighs Film sehen. Es ist kein guter Film (➱hier ganz zu sehen), ich wünschte mir, dass man den unübertroffenen ➱Leo McKern in dem ➱Film The Sun is God sehen könnte, aber das ist leider bei YouTube nicht im Angebot.

Turner liebte und schützte seine Privatsphäre, seine Nachbarn wussten nicht, wer er war. Die meisten hielten ihn für einen pensionierten Kapitän. Er konnte prollig sein, seinen Cockney Akzent hat er sein Leben lang nicht abgelegt. Peter Ackroyd hat ihn einen Cockney visionary genannt. Er sammelte und hortete alles, was er in die Finger bekam, aber er war kein Geizhals. War er bei Auftraggebern eingeladen, hinterließ er Silbergeld für die Diener unter seinem Kopfkissen, war zu schüchtern, es ihnen in die Hand zu drücken. In seinem Testament verfügte er, dass man ein Armenhaus für decayed artists baute. Einen großen Teil seiner Bilder hinterließ er der Nation.

Die Biographien, die ich zu dem Mann, der gesagt hat My business is to paint what I see, not what I know is there, empfehlen würde, sind A.J. Finbergs The Life of J. M. W. Turner, R.A., Anthony Baileys Standing in the sun: A Life of J. M. W. Turner und Andrew Wiltons Turner in His Time. Und dann gibt es ja noch ganz viel Turner in diesem Blog. Klicken Sie doch einmal diese Posts an: J.M.W. Turner, Sklavenschiff, Thomas Girtin, John Sell Cotman, William Turner in Kiel, måneskinnsmaler, Aquarellmalerei, Landschaftsmalerei, John Thomson of Duddingston, Gordale Scar, John Constables Wolken, Carl Blechen, Walter Scott in Bildern, Richard Parkes Bonington, Lurley, Robert Vernon, Childe Hassam, Emily Dickinson, Le Tréport, Abildgaard, Claude Lorrain, Sir Joshua Reynolds, Drachenfels, Thomas Moran, limited and abstracted art, Karl Friedrich Schinkel, Gustav Christian Schwabe, Sir William Beechey, Heringe

Samstag, 17. Dezember 2016

Esel


Es stand vor eines Hauses Tor
Ein Esel mit gespitztem Ohr,
Der käute sich sein Bündel Heu
Gedankenvoll und still entzwei.

Nun kommen da und bleiben stehn
Der naseweisen Buben zween,
Die auch sogleich, indem sie lachen,
Verhaßte Redensarten machen,
Womit man denn bezwecken wollte,
Daß sich der Esel ärgern sollte.

Doch dieser hocherfahrne Greis
Beschrieb nur einen halben Kreis,
Verhielt sich stumm und zeigte itzt
Die Seite, wo der Wedel sitzt.

Fangen wir doch einmal mit Wilhelm Busch an, das passt dann auch schön zu diesem Photo. Das liefert uns Google, wenn man Donald Trump und donkey eingibt. Wenn einer die absolute Macht hat, dann kann er alle Ämter besetzen wie er will. Wir sehen das gerade in Amerika. Kaiser Caligula hat einen Esel zum Konsul ernannt und das Volk damit verhöhnt. Wir haben einen Esel als Außenminister, der das deutsche Volk verhöhnt. Das sagte Heiner Geißler damals, als der Außenminister Guido Westerwelle von der spätrömischen Dekadenz gesprochen hatte. Heiner Geißler irrte. Nicht darin, dass Westerwelle ein Esel war, das war schon richtig. Doch Caligula hatte keineswegs einen Esel zum Konsul ernannt. Es war ein Pferd namens Incitatus. Auf jeden Fall erzählt das Sueton in seinem Leben der CaesarenIncitato equo, cuius causa pridie circenses, ne inquietaretur, viciniae silentium per milites indicere solebat, praeter equile marmoreum et praesaepe eburneum praeterque purpurea tegumenta ac monilia e gemmis domum etiam et familiam et supellectilem dedit, quo lautius nomine eius invitati acciperentur; consulatum quoque traditur destinasse. 

Die Unterschiede zwischen Pferd und Esel sind nicht immer so klar auszumachen. Das hier ist Napoleon beim Überqueren der Alpen. Auf jeden Fall auf der Leinwand von Jacques-Louis David. In Wirklichkeit hat Napoleon die Alpen auf einem Lastesel überquert. Nicht vorneweg, ganz weit hinten im Tross. In George Orwells Roman Animal Farm heißt der Diktator Napoleon. In Frankreich wäre so etwas strafbar. Denn die Franzosen haben ein Gesetz, dass niemand sein Schwein Napoleon nennen darf. Von Eseln ist nicht die Rede. Zumindest ist Regine Schindler nie belangt worden, als sie das Buch Der Esel Napoleon geschrieben hat.

Politiker und Esel sind ein eigenes Thema. Das Parlament ist kein Ort für Esel und Fohlen, Affen und Frauen, hat vor kurzem ein iranischer Abgeordneter gesagt. Und ich darf daran erinnern, dass vor Jahren im Zuge der Steuerziehungsaffäre um den französischen Minister Jérôme Cahuzac ein französischer Senator namens Christian Bourquin erklärte, dass er nichts außer einem acht Monate alten katalanischen Esel besitze. Das ist eine schöne Geschichte. Die Franzosen sind immer wieder gut mit solchen Affären, wir haben die Sache mit Elf Aquitaine und den Berluti Schuhen für den Minister noch nicht vergessen. Donald Trump besitzt keinen Esel, aber er kann ständig auf Esel schimpfen. Weil der Esel das Symboltier der Demokraten ist. Das hat der Zeichner Thomas Nast erfunden, dem wir auch den Nikolaus verdanken.

Und das bringt mich zu dieser Karikatur, auch einem Nikolaus, der aber Jahrhunderte älter ist als der rundliche bärtige Herr von Thomas Nast. Das Bild von Jost Amman, das heute im Louvre ist, hat den Titel Saint Nicolas sur un âne costumé en Vielfrass ou glouton. Dieser Nikolaus auf einem Esel ähnelt mehr einem Waldschrat als dem heiligen Nikolaus von Myrna. Diesem Heiligen sind allerdings niemals Esel als Attribute zugeordnet worden, ich habe das ganze Kleingedruckte im achten Band des Lexikon der christlichen Ikonographie gelesen. Aber warum dann dieses Bild im Jahre 1588?

Die Antwort ist einfach: es ist religiöse Propaganda der Reformationszeit. Manchmal werden Volksbräuche von einem Herrscher verboten - so wie der Kinderbischof in England von Heinrich VIII verboten wurde - manchmal funktioniert die Verleumdungskampagne auch ganz gut. Der Heilige Nikolaus kommt aus der katholischen Kirche, er wird verehrt. Im Russischen findet sich das Sprichwort Wenn Gott stirbt, haben wir noch immer den Heiligen Nikolaus. Solchen Aberglauben müssen Protestanten natürlich bekämpfen. Zumal dieser Nikolaus im Volksglauben seltsame Gesellen um sich geschart hat, die man nicht mit einem Gottesmann assoziiert. Und eigentlich auch nicht ins Haus lassen würde. Wie Knecht Ruprecht, Belsnickel und den Krampus, der eher einem Teufel ähnelt (Bild). Die protestantischen Bemühungen, Nikolaus zu verdrängen, zielten teilweise auch darauf ab, ihn mit seinen teuflischen Begleitern wie dem Krampus zu identifizieren und ihn so zur Karikatur werden zu lassen, schreibt Paul Werner in Weihnachtsbräuche in Bayern: Kulturgeschichte des Brauchtums von Advent bis Heilig Dreikönig.

Der Heilige Nikolaus kommt nicht immer auf einem Esel daher wie bei Jost Amman, häufig reitet er ein weißes Pferd (wenn er nach Holland kommt, heißt das Pferd Amerigo und Sinterklaas bringt den Zwarte Piet als Gehilfen mit). Aber ebenso häufig hat er einen Esel, schließlich kann er die Geschenke für die Kinder der Welt nicht alleine tragen. In Holland legten die Kinder am Abend vor dem Nikolaustag Karotten und Heu für den Esel vor die Tür. Solange sie kein Heineken Bier dazu stellen (die Grachtenpisse trinkt ja nur James Bond), ist das in Ordnung. In Tirol stellt man Schnaps (und Schnupftabak) für den ermüdeten Alten vor das Haus, ich weiß aber nicht, ob das wirklich gut für den alten Herrn ist.

So toll das Lexikon der christlichen Ikonographie (von dem ich leider nur den achten Band mit den Heiligen von M bis Z besitze) ist, es hilft uns bei all den Fragen nach dem Brauchtum nicht weiter. Da müssen wir schon die Volkskundler fragen. Als ich vor Jahren Hermann Bausinger, dem Doyen der deutschen Volkskunde, zum Geburtstag gratulierte, war er überrascht und erfreut. Überrascht und erfreut war ich auch, denn diese kleine Einführung in Volkskunde und Popular Culture Studies ist von vielen tausend Lesern gelesen worden. Heute muss ein anderer Volkskundler hervorgehoben werden. Nämlich Werner Mezger, der mit seinem Buch Sankt Nikolaus: zwischen Kult und Klamauk: zur Entstehung, Entwicklung und Veränderung der Brauchformen um einen populären Heiligen etwas Fundamentales geleistet hat.

Und was machen unsere Literaturwissenschaftler, sind die etwa untätig geblieben und haben nicht über das Thema des Esels in der Literatur geschrieben? Apuleius' Roman Der goldene Esel ist doch ein Klassiker. Und dann ist da noch der Esel, der bei den Gebrüder Grimm seine Kumpane auffordert, mit ihm nach Bremen zu gehen. Denn: Etwas besseres als den Tod findest du überall. Glücklicherweise hat Jutta Person es mit ihrem Buch Esel: Ein Portrait unternommen, eine kleine Kulturgeschichte des Esels zu schreiben. Der Esel vom Nikolaus ist noch immer auf kitschigen Weihnachtskarten, aber zu Weihnachten brauchen wir Kitsch.

Und den Esel. Schließlich steht er mit dem Ochsen an der Krippe, da darf er nicht fehlen: Tertia autem die nativitatis Domini egressa est Maria de spelunca et ingressa est stabulum et posuit puerum in praesepio, et bos et asinus adoraverunt eum. Tunc ad impletum est quod dictum est per Isaiam prophetam dicentem: «Cognovit bos possessorem suum et asinus praesepe domini sui.» Vielleicht ist der Esel auch ein Engel, hat der Ratzinger angedeutet.


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