Sonntag, 27. März 2016

Nikolaikirche


Eigentliche sollte Gottfried Semper die Kirche bauen. Der Architekt, den wir immer mit Dresden und der ➱Semperoper assoziieren, kommt schließlich aus Hamburg. Ist in Altona getauft worden, das war damals noch dänisch. Semper will eine romanische Kirche bauen, und jetzt ist Gotik angesagt. Neugotik, um genau zu sein. Man ist dabei, den Kölner Dom zu vollenden. Das wird Folgen haben, auch Hamburg baut gotisch. Der Architekt, der auf dem dritten Platz der Ausschreibung steht, ist ein Engländer, ➱George Gilbert Scott. Engländer mögen die Hamburger ja grundsätzlich, es mag bei der Auftragsvergabe eine Rolle gespielt haben, dass Scott aus London kommt. Allerdings auch, dass er als einziger einen Plan für eine neugotische Kirche eingereicht hatte.

Er ist noch nicht so berühmt, wie er es als einer der Hauptvertreter des ➱Gothic Revival werden wird. Bisher hat er nur Armenhäuser, Gefängnisse und Irrenanstalten gebaut. So etwas braucht man im viktorianischen England, es gibt nicht nur das England der Welt- und Industriemacht, England hat auch eine sehr dunkle Seite. Für die die Armenhäuser, Gefängnisse und Irrenanstalten das beste Symbol sind. Auch diese Bauten kann man im gotischen Stil bauen. Sagt Scott. Wenn man nur dieses Hindernis überwindet, diese absurd supposition that Gothic architecture is exclusively and intrinsically ecclesiastical.

Vielleicht wäre Scott (der am 27. März 1878 starb) kein Vertreter des ➱Gothic Revival geworden, wenn er nicht in den 1830er Jahren Augustus Pugins Buch Contrasts gelesen hätte. Pugin ist ein Fanatiker, er verlässt die Church of England und wird katholisch, schreibt auch theologische Traktate. I feel perfectly convinced the Roman Catholic Religion is the only one in which the grand and sublime style of church architecture can ever be restored, wird er sagen. Der Architekt müsse ein glaubender Christ sein, weil die Handwerker, die die gotischen Kathedralen einst bauten, auch alle gläubige Christen waren. Pugin glaubte allen Ernstes daran, die Verbindung zwischen der gotischen Architektur, der katholischen Kirche und dem Mittelalter sei so groß, dass the revival of the one would automatically lead to the revival of the other.

Pugin baut und baut, zeichnet und zeichnet. Er macht alles selbst, er will keinen Assistenten. Er kann auch mit niemandem zusammenarbeiten, er neigt zu cholerischen Wutanfällen. Er ruiniert seine Gesundheit, er wird nur vierzig Jahre alt. Am Ende seines Lebens verfällt er dem Wahnsinn: My mind has been deranged through over exertion. The medical men said I had worked one hundred years in forty. I have not time to say: more I am ordered to Italy as soon as possible. Sie können die Geschichte seines Lebens, aufgezeichnet von seinem Sohn, ➱hier im Volltext lesen. Was ihn allerdings viel mehr interessiert als seine neugotischen Bauten, ist die Innenausstattung der Bauwerke. 

Er hätte Innenarchitekt werden sollen, er entwirft Kerzenständer und Türgriffe. Und die Tapeten. Oben einer seiner Entwürfe für das Londoner Parlament. Geben Sie doch einmal bei Google Bilder Augustus Pugin wallpaper ein, Sie werden überrascht seinDer Architekt James Fergusson wird 1891 in seinem Buch History of the Modern Styles of Architecture sagen: The true bent of Pugin's mind was l with all the correctness and splendour towards the theatre, and his earliest successes achieved in reforming the scenery and of coratious of the stage; and, throughout life, the theatrical was the one and the only branch of his art which he perfectly understood. 

Das ist nun tödlich, hier wird Pugins fanatischer Katholizismus auf das Showbusiness reduziert. Dies ist das Schlafzimmer von Pugin, zu dem Kamin mit Jesus sagen wir jetzt lieber nichts.

Obgleich er schon todkrank ist, gibt Pugin zwei Bauprojekte nicht auf: das eine ist Alton Castle von Lord Shrewsbury, das andere ist ein Bauwerk, das jeder London Tourist kennen wird. Man weiß bis heute nicht so ganz genau, welche Teile des Palace of Parliament von Barry und welche von Pugin stammen. Wahrscheinlich ist der Turm von ihm, den jedermann Big Ben nennt. Was natürlich falsch ist, Big Ben ist nur die Glocke. Wir merken uns das mal mit dieser wunderbaren Geschichte, die sich in Tom Stoppards Theaterstück Dirty Linen & New-found-land findet (und ich merke gerade, dass in diesem Blog viel zu wenig Stoppard ist (aber in ➱Landschaftsgärten und ➱Christine Keeler kommt er schon vor). Die Geschichte aus dem Stück möchte ich doch mal eben zitieren. Es redet ein gewisser Bernard, ein Beamter des Home Office im Rentenalter:

Lloyd George once asked me whether it was possible to see Big Ben from the upstairs window. I said that it was not. `Surely you are wrong,’ he said, ‘are you absolutely certain?’ ‘Absolutely certain, Prime Minister.’ He replied that he found it difficult to believe and would like to see for himself. I assured him that there was no need. The fact was, my mother was upstairs in bed making out her dinner table: she had the understandable, though to me unwelcome, desire to show me off during my leave. Lloyd George pressed the point, and finally said, ‘I will bet you £5 that I can see Big Ben from Marjorie’s window.’ ‘Very well,’ I said, and we went upstairs. I explained to my mother that the Prime Minister and I had a bet on. She received us gaily, just as though she were in her drawing room, Lloyd George went to the window and pointed. ‘Bernard,’ he said, ‘I see from Big Ben that it is four minutes past the hour. The £5 which you have lost,’ he continued, ‘I will spend on vast quantities of flowers for your mother by way of excusing this intrusion. It is a small price to pay,’ he said, ‘for the lesson that you must never pit any of the five Anglo-Saxon senses against the Celtic sixth sense.’ ‘Prime Minister,’ I said, ‘I’m afraid Welsh intuition is no match for English cunning. Big Ben is the name of the bell, not the clock.’ He paid up at once. . . and that was a fiver which I can tell you I have never spent. Der gute Bernard hat sich sein Leben lang nicht gefragt, wieso der Premierminister das Schlafzimmer seiner Mutter kannte.

Gilbert Scotts Vater ist Geistlicher der Church of England, aber Scott wird nicht daran denken, zum Katholizismus überzutreten. Das fanatische Religiöse von Pugin fehlt ihm, dennoch wird er eine Art Jünger von Pugin. Und er ist auch jederzeit bereit, Atheisten den Weg zum Christentum zu zeigen. Wie diesem deutschen Philosophen, den er in Frankfurt trifft: At Frankfort we were greatly interested by the conversation of Dr. Schopenhauer, an old German philosopher, who usually took his meals at the hotel at which we stayed. I think I never met a man with such grand powers of conversation ; but, alas, he was a determined infidel. I have since met him twice at the same hotel : the last time was as late as 1860, when I with some difficulty drew him out into conversation, which deafness rendered less easy than formerly, and I was quite astonished at his brilliancy, and, but for his infidelity, at the noble philosophical tone of his thoughts and conversation. I meant to have sent him some books on the evidences, &c., of Christianity, but I forgot it ; and when I went to Frankfort last year, and looked out for him, I found his portrait hanging over where he used to sit, betokening that he had departed. May it be that his philosophy had previously become christianized.

Scott glaubt zuerst fälschlicherweise daran, dass die Wiege der Gotik in Deutschland gelegen hätte (I was not then aware of the French origin of the latter style...). Wir wissen das heute besser, die Gotik ist aus Frankreich zu uns geschwappt. Gilbert Scott baut den lutheranischen Hamburgern ihre Nikolaikirche im gotischen Stil des 14. Jahrhunderts. Kostet dreimal so viel wie der Entwurf von Semper, es war schon immer etwas teurer, Dinge aus England zu beziehen. Scott wird sich auch beim Bau des Neuen Rathauses bewerben, aber da ziehen die Hamburger doch lieber eine Gruppe von Hamburger Baumeistern vor. Ist preiswerter.

So sieht die Nicolaikirche heute aus. Die englischen Bomberpiloten haben den Turm stehen lassen, er diente ihnen als höchstes Bauwerk (bis 1877 war die Nicolaikirche das höchste Bauwerk der Welt gewesen) bei der Bombardierung Hamburgs als Orientierung. Dass nun Sanct Nicolaus in lichter Pracht Verherrlicht wieder unsers Hamburgs Mauern, Dann wird der spat'ste Enkel nimmer trauern So lang der Thurm die Vaterstadt bewacht, das sind Zeilen eines Gedichts, das man 1845 mit eingemauert hat. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts macht diese Zeilen zur traurigen Ironie.

Schon Scotts Vater Thomas war an Architektur interessiert gwesen, deshalb hatte er nichts dagegen, dass der junge Scott die Familientradition (Scotts Großvater war ein berühmter Theologe) aufgab und Architektur studierte. Auch Sir Gilbert Scotts Sohn wird Architekt werden. Sein Enkel Sir Giles Gilbert Scott auch. Der baut zwar modern, schmuggelt aber häufig noch ein klein wenig Gotik an seine Bauten. Glücklicherweise nicht bei diesem Bauwerk, das wahrscheinlich sein berühmtester architektonischer Entwurf ist. 


Sir Gilbert Scotts Lebenserinnerungen finden sich ➱hier im Volltext. Das beste Buch zum Gothic Revival bleibt nach über achtzig Jahren immer noch Kenneth Clarks The Gothic Revival: An Essay in the History of Taste. Clark hat das Buch nach dem Krieg noch einmal überarbeitet, die letzte Auflage ist wohl die von 1995. Sie könnten auch noch die Posts Sakralbauten, Kirchen, Gothick und 18th century: Architecture lesen. Und Sommerzeit - es ist mal wieder so weit. Und ich wünsche allen Lesern ein frohes Osterfest.

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