Samstag, 25. Juni 2016

Dementia Americana


Der weiße Klotz in der Bildmitte macht schon etwas her. Das Haus mit dem Namen Rosecliff steht in Newport am Strand. Johann Gerhard Oelrichs, Enkel eines Bremer Kaufmanns, hat es sich von den Architekten McKim, Meade und White bauen lassen. Genau genommen hatte seine Gattin den Auftrag erteilt, sie hatte das Geld. Wir sind in der Zeit des ➱Gilded Age, wo Leute, die man so nett Robber Barons nennt, viel, viel Geld haben.

The problem of our age is the proper administration of wealth, so that the ties of brotherhood may still bind together the rich and poor in harmonious relationship, beginnt Andrew Carnegie sein Gospel of Wealth. Wenn man viel Geld hat, kann man gute Werke tun, man will aber auf jeden Fall repräsentativ wohnen. Und das kann man nur in Häusern, die McKim, Meade und White gebaut haben. Dieses Haus in Newport (für den Anwalt von Cornelius Vanderbilt gebaut) ist architektonisch interessanter als Rosecliff, das nur eine schlechte Kopie vom Grand Trianon mit ein bisschen ➱Palladio ist. McKim, Meade und White haben diesen Shingle Style popularisiert, Frank Lloyd Wright (der ➱hier einen Post hat) hat auch in diesem Stil gebaut. Ansonsten setzt das Architekten Trio auf den französischen Beaux Arts Stil, wirkliche Neuerer sind sie nicht.

Nach der Familie Oelrichs wohnte hier in Rosecliff der große ➱Gatsby, auf jeden Fall in der ➱Verfilmung von ➱Fitzgeralds Roman im Jahre 1974. Und auch Grace Kelly war hier in dem Film ➱High Society zu Hause. Und Teile des Filmes Amistad wurden hier gedreht. Die Geschichte des Sklavenschiffs Amistad wurde schon in den Posts ➱Sklavenschiff, ➱Biographien, ➱Bounty und ➱John Quincy Adams erwähnt.

Ich schreibe diesen Post mal eben, weil Stanford White heute vor 110 Jahren gestorben ist. Nicht am Herzinfarkt wegen Überarbeitung, weil sich die Firma McKim, Meade und White nicht vor Aufträgen retten kann. Nein, erschossen auf dem Dachgarten eines Hauses, das er selbst gebaut hatte. Es geht bei diesem Mord um eine Frau, sie heißt Evelyn Nesbitt. Beruf: Model und Schauspielerin. Stanford White war von ihr hingerissen, als er sie auf der Bühne sah. Sie war sechzehn, als er über sie herfiel, vielleicht war sie auch nur vierzehn.

Wir sind jetzt mittendrin in einer der schmutzigsten Geschichten des Gilded Age. Denn der Millionenerbe Harry Kendall Thaw, der die Nesbitt heiratet, ist genau so schmutzig wie der pädophile Stanford White, der so schöne weiße Häuser baut. Thaw lebt von Drogen und Sado Phantasien, peitscht die kleine Evelyn aus. Auf diesem Photo von der berühmten Gertrude Kaesebier sieht sie auch nicht gerade wie ein Unschuldslamm aus. Harry Kendall Thaw kommt für den Mord vor Gericht, die Presse nennt das Ganze The Trial of the Century. Na ja, das Jahrhundert hat erst angefangen, es wird noch viele Prozesse geben, die diesen Namen tragen.

Evelyn Nesbit wird noch lange in der amerikanischen Popular Culture sein, sie lebt bis 1967 und ist noch als Beraterin bei den Dreharbeiten zu ➱The Girl in the Red Velvet Swing (1955) dabei. Dass E.L. Doctorow sie in seinen Roman Ragtime hineinschreibt, das wird sie nicht mehr erleben. Doch dass Dana Gibson aus ihr ein Gibson Girl gemacht hat, das hat sie natürlich erlebt. Das Gibson Girl ist in diesem Blog keine Unbekannte, klicken Sie doch einmal ➱Somewhere West of Laramie und ➱Liberty Girls an. Der deutsche Wikipedia Artikel zu Stanford White hat das noch nicht mitgekriegt, dass Stanford White und Evelyn Nesbit auch in Doctorows Ragtime vorkommen.

Vor zwanzig Jahren ist über den Architekten Stanford White (der in dem Film Ragtime von Norman Mailer gespielt wird) ein seriöses Buch von Suzannah Lessard geschrieben worden: The Architect of Desire: Beauty and Danger in the Stanford White Family. Nicht so seriös ist das, womit die Assistenzprofessorin Paula Uruburu durch die Lande zieht. Sie können sich ihren etwas wirren Vortrag hier anhören. Stanford White und seine Kollegen McKim und Meade sind in diesem Blog schon aufgetaucht, so zum Beispiel in den Posts ➱Louis Henry Sullivan, ➱William Merritt Chase und ➱West Point.

Das hier ist der Madison Square Garden, erbaut von Stanford White, irgendwo da oben auf dem Dachgarten ist er zu Tode gekommen. Sein Mörder plädierte auf temporary insanity und sah sich als Rächer der Ehre und Unschuld der amerikanischen Frau, der durch das, was Stanford White ihm angetan hatte, aus der Balance geraten war. Die Boulevardpresse hat dafür einen neuen Begriff, dementia Americana, gefunden. Da muss man ja geradezu freigesprochen werden. Diese dementia Americana ist eine schöne Wortschöpfung, uns allen fallen für die amerikanische Demenz sofort viel Beispiele ein. Selbst ohne ➱Donald Trump zu zitieren. Sie können die Rede von Thaws Verteidiger Delphin Delmas, der als erster die dementia Americana bemühte, ➱hier lesen.

Die Mutter des Mörders (der hier im Gefängnis luxuriös speist) hatte für Ärzte und Anwälte Millionen ausgegeben, damit sie sich diese Sache mit der temporary insanity einfallen ließen. Ihm musste eine Geisteskrankheit attestiert werden, damit er der Todesstrafe entging, aber er durfte nur ein klein wenig geisteskrank sein (nicht so geisteskrank wie viele in seiner Familie). Also erfanden die Juristen die temporary insanity und die Yellow Press die dementia Americana.

Diese Dementia Americana hat sich der amerikanische Schriftsteller Keith Maillard 1994 als Titel seiner Gedichtsammlung genommen. Es sind 27 Sonette, die thematisch um den Golfkrieg kreisen, um Tod und Gewalt. Die kanadische Dichterin Marilyn Bowering (die ➱hier einen Post hat) hat zu den Gedichten gesagt: In 'Dementia Americana' Maillard puts the emotional extremes of America under the knife. The surprise is the song, an icy mountain stream of language that spills through forms as old as Ovid and Petrarch: it is human, sorrowful, cruelly acute.

Ich zitiere mal eben eins dieser ➱Sonette:

There’s plenty to do without the Ninja Turtles. It’s better
to be out of work in Moundsville, West Virginia, and bored,
than to be a soldier in Baghdad and owe your life to the whim
of some miserable little turd—and American skies still bleed
beauty down the sunset over the puzzling flatness of North Dakota.
Even now, the night is preparing a single, perfect
diner in Georgia where everything will be revealed.
In a tender moment, thin as a dime, all American boys and girls
are brave and beautiful and true; angels with bent, grey wings
enfold all roads that go nowhere. Now you can forgive
each other, and neither you, nor anyone, anywhere, will ever again
be slaughtered in your beds. Learn to be harmless, for those at war
reflect each other. There’s plenty to do. Don’t trust the word
of men who stand at Armageddon and battle for the Lord.

Da sind wir noch auf der Ebene des Golfkrieges, doch am Schluss des Bandes, da sprechen Stanford White, Evelyn Nesbitt und Harry Kendall Thaw zu uns. Weil für Maillard diese Geschichte vom Anfang des Jahrhunderts der Beginn von Mord, Lüge und Wahnsinn in Amerika ist. Es lohnt sich, mal darüber nachzudenken.

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