Freitag, 28. Oktober 2016

Haithabu


Die Braut liebt einen anderen, aber sie soll den reichen Bauernsohn heiraten, den ihre Eltern ausgeguckt haben. Als man schon beinahe die Kirche erreicht hat, ruft die Braut aus: Hilf, o Gott! Lieber will ich auf der Stelle zu Stein werden, als einem Manne gehören, den ich nicht lieben kann. Kaum hat sie das gesagt, da erstarren sie und der Brautzug zu Stein, der Brautzug vom Bräutigam auch.

Sie kennen diese Geschichte einer Petrifizierung nicht? Dann kennen Sie das Großsteingrab bei Wildeshausen nicht. Ich war gerade zur Schule gekommen, als mir mein Opa diese Geschichte erzählte. Hinten im neuen ➱blauen Auto, wir waren unterwegs zu den berühmten Steinen von Braut und Bräutigam in Visbek. Es war kaum Verkehr auf den Straßen des norddeutschen Flachlands, 1950 war nie viel Verkehr auf den Straßen. Ich fand die Steinreihen in Visbek furchtbar langweilig. Heute würde ich sagen: eine Art Stonehenge für Arme. Später haben mich Liebesgeschichten, die etwas mit Steinen - und wenn es auch Grabsteine waren - schon interessiert. Also die Geschichten von Prinz Buris Henriksen, der die schöne ➱Liden Kirsten liebt. Oder ➱Elvira Madigan unter ihrem Grabstein in Landet Kirkegård.

Natürlich kann man das Thema von prähistorischen Steinen - Hünengräbern, Dolmen oder Menhiren - auch plakativ verkaufen. Wenn man zum Beispiel (wie in Dolmen: Das Sakrileg der Steine) eine sexy Polizistin in die Krimihandlung mischt. Aber auch ohne die schnuckelige Ingrid Chauvin kann man Archäologie plakativ verkaufen, wie Sendungen wie Terra X zeigen. Es ist eine Sendung, die meinem Freund ➱Kurt Denzer nicht so sehr gefällt. Was er zu dieser ➱Sendung mit der Maus sagt, das weiß ich nicht.

Die Franzosen verkaufen ihre steinerne Vergangenheit sowieso besser als wir, egal ob das Dolmen (mit oder ohne Ingrid Chauvin) oder Hinkelsteine sind. Und sicherlich kann sich die Archäologie auch mit diesem leicht übergewichtigen Gallier beschäftigen. Auf jeden Fall gab es bei der von Kurt Denzer gegründeten ➱Cinarchea einmal einen Referenten, der eine Publikation mit dem schönen Titel Asterix und Co. : Zur Rezeptions- und Forschungsgeschichte der Archäologie in seiner Publikationsliste aufzuweisen hatte. Und Ausstellungen über die Kelten kommen heute ohne die Erwähnung von Asterix und Obelix kaum noch aus.

Visbek und die anderen Hünengräber (die in Norddeutschland manchmal auch Hünenbedden heißen), die ich mit meinen Eltern von Cloppenburg bis Kleinenkneten in den nächsten Jahren besuchte, konnten damals in mir kein Interesse für die germanische Vergangenheit wecken. Meinen Eltern, die das mit den Hünengräbern und Thingstätten voll drauf hatten, missfiel es, dass ich als kleiner Pöks immer von Hühnergräbern sprach. Ich wusste es damals noch nicht, dass zum Beispiel Hühnerstein und Hinkelstein etymologisch verwandt sind. Ich hatte damals auch nicht das richtige Verhältnis zur germanischen Historie. Vielleicht wäre es anders gewesen, wenn mir damals das Kinderbuch von August Clausen, Haithabu, die alte Handelsstadt im Ringwall, in die Hände gefallen wäre. Falls Sie für ihre Kinder noch Bücher über die Wikinger suchen sollten, ich hätte hier eine lange ➱Liste.

Selbstverständlich musste die Freilichtbühne namens Stedingsehre in ➱Ganderkesee, die zur Zeit der Nazis einmal ein Oberammergau des Nordens werden sollte, auch besucht werden. Lag auf dem Weg in den Hasbruch, wohin wir immer zum ➱Kohl- und Pinkelessen hinfuhren. Die steinernen Reste einer germanischen Vergangenheit sind überall über das Land verteilt (wenn Sie wissen wollen wo, dann klicken Sie ➱hier), aber wir haben es heute nicht mehr so mit den Germanen. Die Jugend meiner Eltern fiel in das Dritte Reich, da war das anders. Da wurde jeder Deutsche zum Ur- und Frühgeschichtler und kannte alle Megalithen seiner Heimat.

Ich weiß nicht, wo ich das Lied hier aufgeschnappt hatte (im Heimatkundeunterricht bestimmt nicht), aber ich kannte alle Strophen:

Es lagen die alten Germanen zu beiden Ufern des Rheins,
Sie lagen auf Bärenhäuten und soffen immer noch eins.
Da trat in ihre Mitte ein Römer mit deutschem Gruß:
Heil Hitler, Ihr alten Germanen, ich bin der Tacitus.

Dies ist eine Version des Liedes, die wohl Verbindungsstudenten gesungen haben, beinahe schon ein Lied des Widerstands. Es ist natürlich historisch falsch, dass die alten Germanen zu beiden Ufern des Rheins auf ihren Bärenhäuten gelegen haben. Die alten Germanen lagen am Ufer des Haddebyer Noors. Aber haben sie auf Bärenfellen gelegen? Befragt man heute den Computer, so gelangt man schnell auf ➱Seiten, wo Bücher wie R. Suchenwirth: Die Germanen: Von der Bronzezeit bis zur Völkerwanderung angeboten werden. Der Autor dieses Standardwerks war übrigens der Begründer der österreichischen NSDAP.

Es gibt ungeheuer viel vergleichbare Seiten im Internet, auf denen sich Neonazis, Reichsbürger und Anhänger ➱esoterischer Kraftplätze austoben. Einer dieser Blogs hat den Namen ➱Germanenherz, er druckt viel von Herbert Jankuhn ab. Ein anderer heißt ➱Landser Endlösung Blog, der hat als Favicon ein Hakenkreuz, damit dem Leser alles klar ist. Auf dieser Seite kann man lesen: Das Zeigen eines achtspeichigen Hakenkreuzes auf einem Schild während einer Kampf-Vorführung auf den Wikingertagen in Haithabu erregt die Lügenpresse. Kaum einer der Besucher der traditionellen Wikingertage in Haithabu bei Schleswig Anfang August störte das historisch korrekte Auftreten vieler Darsteller mit Speer, Axt und Schild.

Die Wikingertage mit den korrekt gekleideten Wikingern in Haithabu, von denen die ➱Lügenpresse wieder mal falsch berichtet hat, haben in diesem Jahr zwanzigtausend ➱Besucher angezogen. Ob da auch Reichsdeutsche dabei waren? Ich komme auf das mytisch beladene Haithabu (altnordisch: Heiðabýr, aus heiðr=Heide‘ und býr=Hof), weil ich gerade mit Kurt Denzer (Bild) ein langes Telephongespräch geführt habe und zwei Tage später von ihm seinen neuesten ➱Haithabu Film zugeschickt bekam. Kurt hat schon einen ➱Post in diesem Blog, und wenn Sie ihn näher kennenlernen wollen, dann sollten Sie das lange ➱Interview lesen, das der Kieler Filmemacher ➱Helmut Schulzeck mit ihm geführt hat.

Viele bedeutende Städte wurden vergessen und man dachte, es hätte sie nur in Sagen gegeben, bis sie gefunden wurden. Troja ist so eine Stadt. Auch Haithabu kannte man nur aus alten Chroniken, aus Reiseberichten, aber gab es die Stadt wirklich? Sie soll eine der ersten großen Städte Nordeuropas gewesen sein, das "Tor der Wikinger zur Welt". Kieler Archäologen beginnen 1900 viele kleine Löcher in die grüne Wiese am Noor zu graben und werden schnell fündig. Gürtelschnallen, Pfeilspitzen, Münzen - der Boden ist geradezu "kontaminiert" mit archäologischen Schätzen - eine Sensation. Bald wird klar, es gab Haithabu wirklich. Prächtiger als es sich die Forscher ausgemalt haben. Das steht so in einem Text, der eine ➱Sendung von N3 beschreibt. Von diesem Herrn hier ist da nicht die Rede. Das ist der Däne Sophus Müller, um 1900 der berühmteste Archäologe Dänemarks (Sie können sein Buch Nordische Altertumskunde nach Funden und Denkmälern aus Dänemark und Schleswig ➱hier lesen). Sophus Müller hat Haithabu entdeckt. Punkt. Vor 1900. Deshalb braucht man ihn natürlich heute nicht mehr zu erwähnen.

Auch nicht erwähnt wurde in der Sendung diese Frau, ➱Johanna Mestorf, die die erste Professorin an der Kieler Uni gewesen ist. Die Direktorin des Museums vaterländischer Alterthümer in Kiel, die die Brieffreundin von ➱Harro Harring war, hat sich um die Ärchäologie wie keine andere verdient gemacht. Sie hat auch die Bücher von Sophus Müller ins Deutsche übersetzt, über ihre Übersetzertätigkeit war sie überhaupt zur Archäologie gekommen. Dänemark und Schweden (wo sie als Erzieherin bei einem schwedischen Grafen gearbeitet hatte) waren ihr Vorbild: Ich bin fest überzeugt, daß ein wohlgepflegtes Altertumsmuseum in Kiel mit einer Verwaltung, die mit Leuten umzugehen weiß, das eigene Interesse auf andere übertragen versteht, binnen kurzem sich derselben Theilnahme im Lande erfreuen würde, die wir in Dänemark finden, hat sie 1871 in einer Denkschrift geschrieben. Eine Verwaltung, die mit Leuten umzugehen weiß, das wäre eine schöne Sache. In ihrer Schrift Die vaterländischen Alterthümer Schleswig-Holsteins, Ansprache an unsere Landsleute hatte sie 1877 ehrenamtliche Vertrauensleute gefordert, die als Kontaktpersonen zwischen Bevölkerung und Museum dienen sollten. Heute macht das das Landesamt für Vor- und Frühgeschichte.

Dieses Verschweigen von wichtigen Namen ist etwas, was Kurt Denzer ärgert, es ist ja auch eine journalistische Schlamperei. Offensichtlich will man wieder einmal nicht, dass Haithabu nicht von einem Deutschen entdeckt worden war. Kurt hatte damit schon Ärger, als er den Film ➱Die Welt der Wikinger drehte: 1984 bekam ich den Auftrag von der Staatskanzlei, einen Film über die Wikinger zu machen, das heißt eigentlich nur über Haithabu. Viele Filme gab’s nicht, viel Geld hatte ich auch dafür nicht. Wer hätte mir helfen können?... Riskant, weil das Unternehmen doch sehr hoch angesiedelt war. Damals hatte Berlin die große Preußen-Ausstellung im Gropius-Bau, die große Staufer-Ausstellung war in Stuttgart. [Ministerpräsident] Albrecht hatte sein Evangeliar in Niedersachsen. Und wir sollten nun plötzlich durch die Jahrtausende zurückreisen. Das war natürlich schwierig. Ich wollte das machen. Aber da ja gesagt zu haben, mein lieber Mann! Das war ganz schön hart. 

Dann war ich eine Woche lang bei der BBC, habe mir angesehen, was die gemacht hatten. Die hatten nämlich gerade eine zehnteilige Serie über die Wikinger gemacht, anlässlich einer ganz großen Wikinger-Ausstellung in London. Ich war fix und fertig, als ich die Serie gesehen habe. Die war fantastisch. Mit einem Presenter, der durch die Sendung führt: Magnus Magnussen (Bild), ein Isländer, dem man alles abnahm, der nichts ablas. Der hat das gelebt, das ganze. Und noch mit diesem schönen feinen englischen Humor dabei. Das war ganz klar: So etwas haben wir in Deutschland nicht. Der eventuell dem Ganzen hätte nahe kommen können, möglicherweise, wäre Kulenkampf gewesen, aber selbst das schien unmöglich. (Nur um zu zeigen, wo die Problematik lag.) Also das wäre überhaupt gar nicht möglich gewesen. Dann diese ganzen anderen Szenen, so viel Geld hatten wir nicht. Wenn Sie einen Blick auf die im Text erwähnte BBC Serie werfen wollen, dann klicken Sie ➱hier.

Dem Staatssekretär, der 1986 so viel an Kurt Denzers Film zu bemängeln hatte, gefiel es nicht, dass ein Däne Haithabu entdeckt haben sollte: Und so wurde ich von der Regierung Barschel aufgefordert, im Film deutlich werden zu lassen, dass die versunkene Wikinger-Siedlung von einem schleswig-holsteinischen Schulmeister wiederentdeckt wurde. Mein Einwand, der erste Hinweis auf Haithabu stamme von dem Dänen Sophus Müller, wurde mit der Anordnung quittiert, „da reicht ein Anruf von uns, das war so…“. Hatte der Staatssekretär bei diesen Gedanken den Lehrer Conrad Engelhardt im Kopf, der im 19. Jahrhundert das Nydam Boot (heute im Schleswiger Landesmuseum in Gottorf) ausgegraben hatte? Man weiß es nicht, aber es ist doch eher unwahrscheinlich, dass die Bildung eines Politikers aus dem Kabinett Barschel bis zu Conrad Engelhardt reicht. Selbst die Bildung der schleswig-holsteinischen ➱Kultusminister reichte ja nie weit. Conrad Engelhardt war zwar Lehrer an einem deutschen Gymnasium, aber im übrigen war er Däne wie Sophus Müller.

Dr Denzer tat, wie ihm geheißen. Er fand, wir sollten besser sagen erfand, einen schleswig-holsteinischen Landschullehrer namens Harm Harmsen und präsentierte ihn der Regierung. Nicht ohne dezent darauf hinzuweisen, dass dieser Harmsen selbst dem berühmten ➱Herbert Jankuhn (zweiter von links, noch ohne SA- oder SS-Uniform) entgangen war. Dr Denzers damaliger Brief an die Landesregierung war ein Meisterwerk der Satire. Als der an seinem siebzigsten Geburtstag vorgelesen wurde, erheiterte er den ganzen Saal.

Jetzt hat Kurt Denzer, (hier bei den Dreharbeiten auf der ➱Shangri-la auf den Spuren von Leif Erikson) der im Auftrag der Universität sieben Dokumentarfilme über die Wikinger und die Siedlung und den Handelsplatz Haithabu gedreht hat, mit Haithabu – noch Fragen? einen neuen Film vorgelegt. Der sehr ironisch ist (und an seinen Film ➱Floret Academia anknüpft): Ich habe bewusst die Form der Travestie gewählt, also eine komische, satirische Umbildung ernsthafter Inhalte. Denn es sollten zwar wissenschaftliche Erkenntnisse transportiert werden, gleichzeitig aber mit den Mitteln der Parodie und Satire eine Distanz hergestellt werden, die es dem nachdenkenden Zuschauer ermöglicht, seine eigenen Schlüsse zu ziehen. Harm Harmsen kommt auch drin vor.

Das sagenhafte Haithabu ist nicht untergegangen wie Rungholt, Haithabu ist von dem König Harald von Norwegen (der auch England beherrschte) vernichtet worden. Ein Skalde des Königs besang die Tat:

Verbrannt wurde von einem Ende zum anderen ganz Haithabu im Zorn,
eine vortreffliche Tat, meine ich, die Svend schmerzen wird.
Hoch schlug die Lohe aus den Häusern,
als ich in der Nacht vor Tagesgrauen auf dem Arm der Burg stand.

Danach ist hier beinahe tausend Jahre nichts, und dann kommt das tausendjährige Reich. Und Herbert Jankuhn, Himmlers liebster Archäologe. War in der SA und der SS und vereinnahmte Haithabu für Himmlers Ahnenerbe. 1945 wandert der Obersturmbannführer der SS erst einmal für drei Jahre ins Gefängnis. Da hätte man ihn lassen sollen, doch dann kommt der unaufhaltsame Aufstieg des Herbert Jankuhn. Er erzählt bei der Entnazifizierung, dass er nie in der NSDAP gewesen sei und dass er nur unter Zwang in die SS eingetreten sei.

1949 erhält er (hier mit seiner Gattin ganz in Leder) einen Forschungsauftrag von der Schleswig Holsteinischen Landesregierung und buddelt wieder in Haithabu. Das old boy network funktioniert in Schleswig-Holstein vorzüglich, wo ein großer Teil der Landesregierung (und ein noch größerer Teil der Professoren der Universität) stramme Nazis waren. 1952 wird Jankuhn Gastprofessor an der Universität Kiel, 1956 wird er außerordentlicher Professor in Göttingen. Drei Jahre später Ordinarius. Sein wissenschaftliches Vokabular ist in den 50er Jahren nicht verschieden von dem der dreißiger Jahre (sagt sein Schüler Heiko Steurer), dennoch gilt er immer noch als ein ganz großer Gelehrter. In einem Blog wie ➱Parzifal natürlich sowieso.

Vielleicht sollte man einen Augenblick über den germanischen Tellerrand gucken, in den dreißiger Jahren werden in Dänemark und England Funde gemacht, die archäologisch auch sensationell sind: das Wikingerschiff von Ladby in Dänemark und das Schiff von Sutton Hoo in England. Beides waren Begräbnisstätten für einen Häuptling oder König, reichhaltig mit Grabbeigaben versehen. So wie das auch am Anfang des ➱Beowulf geschildert wird, wenn man dem Schiff mit dem toten Scyld Scefing ins Meer stößt:

Sie schmückten seinen Körper nicht weniger reich
als mit Gaben wie es die ersten einst taten
die ihn als Kind entsendet hatten
und übergaben ihn allein hinaus zu den Wellen.


Die Ausgrabungen von Ladby und Sutton Hoo kamen ohne die Unterstützung des SS Ahnenerbes  zustande und hatten auch nicht das Ziel zu beweisen, dass an den jeweiligen Stellen die Quelle des Germanentums war.

Haithabu war dem Arier Himmler und seinem Ahnenerbe wichtig, weil am Anfang des Jahrhunderts Gustav Kossinna behauptet hatte, dass das indogermanische Urvolk (selbstverständlich eine überlegene Rasse) in Norddeutschland und Dänemark zu Hause gewesen sei. So sollte Haithabu zum Kulminationspunkt des Germanentums werden. Der dunkle Schatten des Nationalsozialismus liegt noch immer über Haithabu. Das Museum hat es niemals fertigbekommen, die Nazi-Vergangenheit wissenschaftlich (und allgemeinverständlich) aufzuarbeiten. Und alle möglichen rechtsradikalen Gruppen blicken voller Glück (Thor sei Dank!) auf die Thingstätte. Oder was immer es für sie ist.

Als im Bremer Focke Museum vor drei Jahren die Ausstellung ➱Graben für Germanien: Archäologie unterm Hakenkreuz gezeigt wurde, gab es dort nichts von Haithabu zu sehen: Leider haben wir aus Schleswig keine Objekte bekommen“, sagt die Bremer Landesarchäologin Uta Halle auf Nachfrage. Und fügt, auf abermalige Nachfrage, hinzu: „Mein dortiger Kollege möchte keine Verknüpfung des heutigen Images von Haithabu mit der NS-Geschichte.“ Wenn sich ein Kleinkind in die Ecke stellt und sich die Augen zuhält, dann ist es unsichtbar.

Vor Jahren sollte Haithabu zusammen mit Fundorten in fünf weiteren Ländern zum Welterbe Wikinger werden. Schweden zog seine Befürwortung des Antrags zurück, raten Sie mal weshalb. Und auch der Antrag des Landes Schleswig-Holstein im letzten Jahr scheiterte erneut. Aber dafür sind wir ja dank Herrn Albig und seinem Gspusi aus der Werbewirtschaft ➱Der echte Norden. Für das Geld, das dieser Unsinn gekostet hat, hätte bestimmt eine Forschungsgruppe die braune Geschichte der Haithabu Forschung aufgearbeitet. Und einen stichhaltigen Antrag für die Anerkennung als Weltkulturerbe formuliert.

Die neueste Publikation zum Thema Haithabu soll zum Schluß kurz erwähnt werden, es ist das Buch Spurensuche Haithabu: Archäologische Spurensuche in der frühmittelalterlichen Ansiedlung Haithabu. Dokumentation und Chronik 1963-2013 von Kurt Schietzel, dem ehemaligen Direktor des Archäologischen Landesmuseums Schleswig (und Gründer des Wikinger-Museum Haithabu). Das Buch ist sehr dick und wiegt 3,9 Kilo. Es hat 640 Seitenund ist reich bebildert mit Illustrationen, die aus einem Kinderbuch sein könnten. Sie können hier einen ➱Blick ins Buch werfen. Ich habe das Buch in der Hand gehabt, aber nach kurzer Betrachtung wieder zurückgegeben. Es wirkt wie ein ausgeschütteter Zettelkasten, ich glaube, weniger wäre mehr gewesen. Von dem SS Obersturmbannführer Jankuhn mag sich Schietzel nicht wirklich distanzieren, man lese dazu einmal die Seite 37 seines Buches.

Wenn Sie mal ideologisch einwandfrei, ohne die Hilfe von Himmler und Jankuhn, in die Steinzeit wollen, dann fahren Sie doch in das dänische Freilichtmuseum Hjerl Hede (in den dreißiger Jahren von einem ehemaligen dänischen Finanzminister gegründet). Landschaftlich wunderschön gelegen (ich habe es schon in dem Post ➱Mein Dänemark erwähnt), und im Sommer gibt es hübsche blonde Däninnen im steinzeitlichen Freizeitdress. So etwas hat Haithabu nicht zu bieten.

Sonntag, 23. Oktober 2016

Ferdinand von Rayski


Heute vor 210 Jahren wurde der Maler Ferdinand von Rayski geboren, ein Maler, den ich sehr mag. Als im Kieler Schloß noch die Stiftung Pommern untergebracht war, konnte man dort zwei schöne Bilder von ihm sehen. Mit viel Schwarz, beinahe einem Markenzeichen seiner Bilder. Ich besitze ein altes Buch über ihn: Ferdinand von Rayski und die Kunst des Neunzehnten Jahrhunderts von Mathias Goeritz. Es ist die Dissertation eines Mannes mit einem erstaunlichen Lebenslauf. Aber ansonsten sieht es mit der Literatur zu dem Maler leider etwas dürftig aus. Nur in Dresden, wo er 1890 starb, hat man ihm zum hundertsten Todestag eine Ausstellung gewidmet; und zu seinem 200. Geburtstag erschien dort das 120-seitige Buch Ferdinand von Rayski in der Dresdner Galerie.

Auch der Kunstmarkt scheint sich wenig für Rayski zu interessieren. Dieses Portrait von Eugen von Bardeleben wurde vor Jahren bei Hampel für einen Schätzpreis von 2.000-3.000 Euro angeboten, das ist für einen Meister des 19. Jahrhunderts nicht viel. Rayskis malerische Ausbildung ist mehr oder weniger autodidaktisch gewesen. Sein Vater, sächsischer Oberst und Generaladjudant, starb in der russischen Kriegsgefangenschaft während des napoleonischen Feldzugs (Rayski Stiefbruder fiel an der ➱Beresina), da war Rayski sieben Jahre alt.

Er wurde der adligen Verwandtschaft anvertraut und erhielt am Freimaurerinstitut in Dresden ersten Zeichenunterricht durch Traugott Faber. Sein erstes Gemälde, das zwei sächsische Grenadiere zeigte, malte er mit dreizehn Jahren. Das Freimaurerinstitut war eine Knabenschule für verarmte oder verwaiste Adelskinder, Rayski ist später auch ➱Freimaurer geworden. Dass er Talent hatte, das hatte man schon früh erkannt, dass er eines Tages den sächsischen König (Bild) malen würde, das konnte niemand wissen. Er hat kurz an der Dresdner Akademie studiert, war aber gleichzeitig schon in der Armee. Die der Secondelieutenant von Rayski 1829 wegen Spielschulden verlassen musste. Sein Abschiedgesuch wurde innerhalb zweier Tage bewilligt. Das Akademiestudium will Rayski 1831 wieder aufgenommen haben, aber für seine Aussage lassen sich keine Beweise finden.

Sein Bruder Leo machte eine größere militärische Karriere. Rayski hat den Major Leo von Rayski in österreichischer Uniform gemalt, es ist ein erstaunlich lebendiges Bild: Niemals vorher oder nachher hat Rayski ein Porträt in so frischen, lebhaften Farben gehalten, die leicht und flüssig aufgetragen sind. Was für Rayski auf die kurze militärische Laufbahn folgte, war eine Art Wanderleben von Verwandten zu Verwandten: Ferdinand von Rayski war ein Einsamer. Wer sich die Mühe gibt, in dem systematischen Verzeichnis seiner Gemälde die Lebensdaten der Dargestellten durchzusehen, wird feststellen können, daß Rayski nach seinen Wanderjahren mit wenigen Ausnahmen nur Mitglieder des sächsischen Adels porträtiert hat, die mit ihm und unter sich verwandt waren. 

Der Wirkungskreis des Künstlers war also erschreckend klein. Dazu kommt, daß viele Bildnisse nicht aus Bewunderung für den Maler, sondern aus Mitgefühl mit dem mittellosen Adligen entstanden sind. In der Künstlerschaft Dresdens war er bekannt, aber nicht als Genie anerkannt. Kein Akademieprofessor, kein Kunstschriftsteller hat sich warm und entschieden für ihn eingesetzt. Nicht Haß und Neid zogen seinen Ruf herunter, Gleichgültigkeit umgab ihn. Das Bürgertum kannte seine Bildniskunst nicht, seinen Namen kaum. Wie kam das? 

Das schreibt Otto Grautoff, der das erste seriöse Buch (hier im ➱Volltext) verfasste und einen Katalog von zweihundert Bildern erstellte, was unter den damaligen Umständen (das betont der Verfasser auch im Vorwort) eine riesige Arbeit bedeutete. Grautoff ist in diesem Blog schon erwähnt worden, einmal in dem Post ➱Walter Crane und dann in dem Post ➱Shakspeare, der von der Übersetzung der Shakespeareschen Sonette durch seine Gattin Erna Grautoff handelt. Dieser Herr hier ist der Landrat Graf Haubold von Einsiedel, ein Freund Rayskis. Die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, die sehr viel von Rayski besitzen (sie haben hier auch eine schöne ➱Onlinedatenbank), haben von diesem Bild auch noch eine kleine ➱Studie.

Er hatte zuerst großen Erfolg mit solchen Bildern. Dies hat den Titel: Wohin ist der Hase gelaufen?, es war in der Ausstellung in Dresden Tagesgespräch (dies ist nur ein Stich nach dem dem Originalgemälde). Hätte Rayski diesen faden, humoristischen Ton weiter gepflegt, er wäre der beliebteste Genremaler Sachsens geworden, sagt Grautoff über das Bild. Rayski beendet seinen Ausflug in das Genrefach (im Gegensatz zu seinem Zeitgenossen ➱Ferdinand Waldmüller) schnell und kehrt zum Portrait zurück.

Von diesem Herren habe ich leider kein größeres Bild, aber Sie können ihn auf dieser ➱Seite mit dem Rädchen der Maus beliebig vergrößern. Früher hing er in Kiel, da brauchte ich keinen Computer und keine Maus, aber jetzt ist die Stiftung Pommern (die auch Bilder von ➱Caspar David Friedrich hatte) nach Greifswald gewandert (lesen Sie ➱hier mehr dazu). Der Herr mit dem modisch kurzen Haarschnitt ist der Rittmeister Adam Theodor Rüssing, Ritterguts- und Schloßbesitzer. Und Ritter der französischen Ehrenlegion. Den Orden trägt er stolz auf der Brust. Die leicht gelangweilte Pose (man beachte den aufgestützten Arm mit dem eleganten Handschuh) verraten den sächsischen Dandy. Das Bild ist nicht datiert, man könnte vermuten, dass Rayski es nach seinem Parisaufenthalt (1834-35) gemalt hat.  Damals hatte ihn Horace Vernet, der in diesem Blog immer wieder erwähnt wird (und ➱hier einen Post hat), stark beeinflusst.

Und auch von Delacroix und Géricault wurde er beeinflusst. Unter deren Einfluss er diese scheußliche Ermordung von Thomas à Becket (der ➱hier einen Post hat) malt. So bedeutende Maler die beiden Franzosen sind, sie haben auf manche Maler einen schlechten Einfluss. Auch der Engländer Richard Parkes Bonington (der ➱hier einen schönen Post hat) glaubte, dass er unbedingt Delacroix mit romantischer Historienmalerei nacheifern müsste. In Dresden stellt man das ➱Bild im Kupferstichkabinett aus, man könnte es auch in den Keller verbannen. Ein anderes Werk unter dem französischen Einfluss ist das brauntonige Bild von ➱Königin Christine und ihrem Stallmeister, ist auch nicht viel schöner.

Hier habe ich leider auch kein größeres Bild, Sie gehen bitte wieder einmal auf die ➱Seite des Pommerschen Landesmuseums. Ein anderes herrliches Frauenbildnis des Meisters gehört in diese Reihe: das Porträt der Mademoiselle Clémence Kaempf, ein dunkelhaariges Mädchen, das mit schweren, braunen Augen den Beschauer anruft. Mit pastellartiger Weichheit ist der Kopf gemalt und doch setzen sich die Flächen so bestimmt gegeneinander ab, daß man die Struktur der Formen deutlich abliest, schreibt Otto Grautoff. Das ist das mindeste, das man über das Bild sagen kann. Wenn man sich die Schwarz- und Grautöne genau anschaut (und ich muss gestehen, dass ich in all den Jahren bestimmt einige Stunden vor dem Bild verbracht habe), dann fühlt man sich an Manet erinnert. Aber dies ist Jahrzehnte vor Manet gemalt. Es sind Bilder wie dieses, die Rayski als einen Vorläufer des Impressionismus erscheinen lassen. Mlle Kaempf war Erzieherin in einem adligen Haushalt, das Bild ist von Rayskis Freund Philipp von Mauchenheim, genannt von Bechtolsheim, in Auftrag gegeben worden. Dessen Ehefrau, mit der er witzige Briefe tauschte, Rayski natürlich auch gemalt hat. Die Kinder auch.

Der Freiherr von Bechtolsheim war nicht nur ein Freund, er war auch ein Jagdfreund, wie es der Katalog der Stiftung Pommer formuliert. Denn unser Maler ist eigentlich nur Gelegenheitsmaler, der seine Freunde und Verwandten portraitiert. Ansonsten ist er ein verarmter Adliger, der vom Jagdsport begeistert ist. Ich lasse die ganzen Bilder der Jagd, von Jägern, Hasen und Pferden mal draußen vor. Ist nicht meine Sache, das klang wohl schon in dem Post Hunde an. Ein Bild vom Jagdsport will ich hier wenigstens zeigen: dreimal Rayski, einmal ➱Friedrich von Boxberg als Jäger, daneben reinstes Biedermeier und ganz links ein Bild, wo Rayski wirklich genial ist.

Das Portrait des elfjährigen Grafen Haubold von Einsiedel zählt zu den schönsten Bildern von Rayski. So hübsch der junge Graf ist, er ist dem Tode geweiht, vielleicht deuten das die roten Flecken auf den Wangen schon an: Hier sieht man den jungen Haubold noch in frischen Farben, mit roten Lippen, holfnungsstark in die Zukunft blicken. Damals glaubten die Eltern noch, daß er den Keim der Krankheit, den er schon in sich trug, überwinden werde. Zwei Jahre darauf hat Rayski noch ein Profilbild des Knaben geschaffen. Der frische, lebhafte Gesichtsausdruck ist verschwunden. Die noch vor zwei Jahren lustigen Augen blicken in übernatürlicher Größe ernst und schmerzlich. Das ehemals frische Inkarnat ist blaß und durchsichtig geworden. Ein lichtdurchsetztes silbernes Kolorit vermittelt die Zartheit des gebrechlichen Körpers, der trotz sorgsamster Pflege zehn Jahre später durch Lungenschwindsucht zerstört werden sollte. Es sind die Kinderbilder, hier die ➱Dresdener Malerin Therese Judeich als Kind, in denen dem kinderlosen Maler einfühlsame Portraits gelingen.

Und ja, Landschaften konnte er auch malen, also solche Landschaftsbilder wie dieses hier, ohne Personen, Pferde oder Hasen (die ein wenig nach ➱Dürer aussehen). Wenn da noch jemand mit einer roten Jacke drauf wäre, könnte man es für einen ➱Wilhelm Busch halten. Otto Grautoff vermutet, dass ihm die Erfahrung einer Italienreise fehlt, die ihn (wie zum Beispiel ➱Carl Blechen) zu einem großen Landschaftsmaler hätte werden lassen.

Ich werde allerdings um die Pferde nicht herumkommen, und das hängt wieder mit dem Grafen Einsiedel zusammen: Graf Einsiedel, ein großer Pferdeliebhaber, unternahm 1862 eine Reise nach England, um dort Pferde einzukaufen. Er lud Rayski ein, ihn zu begleiten. Als Sechsundfünfziger hat er also zum ersten Male englischen Boden betreten, englische Sitten, englische Menschen und englische Kunst kennen gelernt. Irgendeinen entscheidenden Einfluß konnte in diesem Alter die Reise nicht mehr auf ihn gewinnen. Das Ergebnis trat rein äußerlich in Erscheinung in einer Reihe von Pferde- und Reiterbildnissen, auf denen in Tieren und Menschen englische Typen in Erscheinung treten. Die Engländer haben nicht nur ➱George Stubbs, sie haben Pferdemaler en masse, aber dennoch hätte Rayski auch dort sein Brot verdienen können, wie dieses Bild beweist.

Und zum Schluss hätte ich noch etwas Morbides, venit mors velociter, rapit nos atrociter: nemini parcetur! Rätselhaft bleibt eine Zeichnung, die vor 1840 entstand, die den Titel ➱Selbstmord im Atelier trägt: Rayskis Künstler hat sich an seiner Staffelei erhängt, auf der eigentlich sein Werk stehen sollte. Doch die zerschnittene Leinwand befindet sich dahinter, an die Wand gelehnt – das Kunstwerk ist ebenso ›getötet‹ worden wie der Künstler selbst, der den Platz des Kunstwerks eingenommen hat. Werk und Mensch erscheinen austauschbar. In die Zeichnung ist ein Vierzeiler von Rayskis Freund Franz von Malitz (der das Blatt ebenso wie Rayski signiert hat) hinein geschrieben: Auf dem wahren Künstlergange / Lebt’s hienieden sich nicht lange. / Trägt in sich des Todtes Kern / Wahre Künstler sterben gern! Der Kunsthistoriker Oskar Bätschmann vermutet, dass diese Zeichnung die Reaktion auf zwei Künstlersuizide (Louis Léopold Robert und Antoine-Jean Gros) im Jahre 1835 ist, von denen er in seinem Jahr in Paris erfuhr (es gibt hier zu dem Thema eine ➱Dissertation zu lesen).

Ferdinand von Rayski wird keinen Selbstmord begehen. Er wird vierundachtzig Jahre alt werden, wird an seinem Geburtstag am 23.Oktober 1890 sterben. Die amtlichen Dokumente bezeichnen ihn als Privatmann. Dass er ein Maler war, hatte man vergessen. Erst die Jahrhundertausstellung in Berlin 1906 wird ihn bekannt machen. Ein Besucher notiert in seinem Tagebuch: 30.6.1906 Samstag Jahrhundert Ausstellung. Von Rayski ein erstaunlicher Auerhahn in schwärzlicher Landschaftsstimmung, ein graues Grün, frühe Dämmerung; Courbet'sch im Gleichgewicht der Töne. Auch ein Volk Rebhühner unter einem Strauch. Dann ein Hirschkopf äugend, 1847 datiert, das Fell so reich und fein in den braunen und grauen Tönen, dass es kaum hinter Courbet zurückbleibt. Porträt von Oswald von Schönberg als Jäger in einer schwarzen Sammet Joppe mit Flinte und Rebhühnern von derselben Qualität. Wenn ich das lese, bekomme ich doch leichte Zweifel am überlegenen Geschmack von ➱Harry Graf Kessler. Gab es da wirklich nix anderes als Auerhähne und ➱Rebhühner von Rayski zu sehen? Diese Dinge gibt es bei mir nicht zu sehen, ich schließe das hier heute mal mit dem schönen Portrait seiner Schwester Minna Pompilia von Rayski aus dem Jahre 1843.

Freitag, 21. Oktober 2016

Denis Scheck


Sieh, liebes Kind, das ist ein Vorzug, den die Leute haben, die nicht schreiben: sie kompromittieren sich nicht, hat Goethe gesagt. Wenn man schreibt, kompromittiert man sich, dann kommen die Kritiker. Aber auch Literaturkritiker haben es nicht leicht, sie sind leicht zu kritisieren. A person who boasts himself hard to please because nobody tries to please him, so definiert Ambrose Bierce in seinem ➱Devil's Dictionary die Kritiker. Und bei Gustave Flaubert heißt es in Das Wörterbuch der übernommenen Ideen: Kritiker. Literaturpapst. Großkritiker - Soll alles kennen, alles wissen, alles gelesen, alles gesehen haben. Wenn er einem mißfällt, nenne man ihn einen Beckmesser, Kritikaster oder Eunuchen (sie wissen wie, aber sie können nicht). Das ist heute eine Platitüde, sie war es schon, als Flaubert sie in das Dictionnaire des idées reçues hineinschrieb. Wir müssen mal eben über Denis Scheck reden, und das hängt mit dem Nobelpreis für ➱Bob Dylan zusammen. Denis Scheck ist nicht jedermanns Sache. Auch nicht die von jederfrau, wie Elke Heidenreich weiß:

Ich sehe sie auch nicht als Kollegin, weil sie eben keine Literaturkritikerin ist. Bei ihr ist Literatur ein Mittel gegen seelische Blessuren. Für mich ist Literatur nicht dazu da, um uns über unsere Seelenwehwehchen hinwegzutrösten. Ich glaube, dass Literatur uns Menschen sehr viel geben kann, aber sie darf nicht reduziert werden auf dieses therapeutische Faktum, da verlieren wir die ästhetische Dimension aus den Augen. Aber es ist Platz für beide Sendungen. Wir gehen in die Welt und Frau Heidenreich eben in ihr Herz – und von dort aus gibt sie Lesetipps, hat Denis Scheck über Elke Heidenreich gesagt.

Die Beleidigungen, die da hin- und hergingen waren wunderbar. Elke Heidenreich hatte Scheck als hysterisches Rolltreppendickerchen und Tchibo-Literatur-Vertreter bezeichnet. Und es wird die Schöpferin der Metzgersfrau ➱Else Stratmann sicher freuen, dass Hannes Hansen Denis Scheck in seinem ➱Blog als beckmessernden Besserwisser, der die Rollen von Scharfrichter, Scherzkeks und Literaturkritiker auf Hartz IV-Niveau mühelos in sich vereint bezeichnet hat. Hannes liebt eine klare Ausdrucksweise. Als ich über ➱Brigitte Kronauer schrieb, rief er mich an und sagte: Das wurde auch Zeit, dass der Dame mal der Scheitel gezogen wurde. Er hat es nicht fertig gebracht, einen Roman von ihr zu Ende zu lesen.

Was Hannes Hansen nicht so gefallen hat, ist die Tatsache, dass Dennis Scheck über die Vergabe des Nobelpreises für Literatur an Bob Dylan gesagt hat: Gelegentlich erlaubt sich die Akademie ein 'Späßken'. Und hinzufügte Die Auszeichnung von Bob Dylan ist genauso ein Witz wie es die von Dario Fo war. Am besten, man lacht mit. Der Hinweis auf Dari Fo hat jetzt einen faden Beigeschmack, denn just an dem Tag war der Nobelpreisträger Fo gestorben. Es gibt wohl keinen Literaturkritiker, der in Deutschland ähnliches Ansehn genießt, keinen, der so bekannt ist und keinen, der so polarisiert, steht auf der Seite von ➱54books. Ich weiß nicht, wer das ist. Ich würde das Wort Ansehen auch nicht so schreiben wie 54books das tut, aber es steht ja viel im Netz.

Der Blogger 54books ist gebildet, er zitiert in dem Interview mit Scheck den Satz von Charles-Augustin Sainte-Beuve: Der Scharfsinn des Kritikers erweist sich besonders an neuen Schriften, die noch nicht durch das Publikum erprobt sind. Erraten, vorauseilen, auf den ersten Blick beurteilen, das ist die Gabe des Kritikers. Wie wenige besitzen sie! Dieser Sainte-Beuve ist derselbe, über den Proust sein Contre Sainte-Beuve schrieb, und über den Theodor W. Adorno von einem bequemen second hand-Realismus des menschlich Näherbringens und einer versierten Oberflächlichkeit sprach. Da ich Adorno gerade erwähne, hätte ich an dem auch etwas herumzukritteln, aber ich lasse das und verweise auf den Post ➱Wiesengrund.

Als Ben Jonson in seinem Gedicht auf Shakespeare von small Latin and less Greek sprach, hat er das gar nicht einmal böse gemeint, aber wann sind Schriftsteller schon einmal nett zu ihren Kollegen? Es wird häufig behauptet, dass Literaturkritiker verhinderte Schriftsteller seien, manchmal mag das stimmen. Andererseits sind Schriftsteller als Literaturkritiker häufig genau so schlimm wie jene, die niemals einen Roman schreiben wollten. Ich kann da nur das von Jörg Drews herausgegebene Buch Dichter beschimpfen Dichter: Die ultimative Sammlung aller Kollegenschelten empfehlen. Schriftsteller mögen Literaturkritiker meist nicht so besonders, Harold Pinter hat sie als einbeinige Weitspringer bezeichnet, die es immer wieder versuchen.

Martin Walser und ➱Günter Grass haben unter dem gelitten, was Reich-Ranicki über sie gesagt hat. Andere Autoren nehmen ihre Kritiker nicht so richtig ernst. Mein Lieblingszitat kommt da von meinem Lieblingsautor ➱P.G. WodehouseA certain critic -- for such men, I regret to say, do exist -- made the nasty remark about my last novel that it contained 'all the old Wodehouse characters under different names.' He has probably by now been eaten by bears, like the children who made mock of the prophet Elisha: but if he still survives he will not be able to make a similar charge against 'Summer Lightning'. With my superior intelligence, I have out-generalled the man this time by putting in all the old Wodehouse characters under the same names. Pretty silly it will make him feel, I rather fancy.

Wenn Literaturkritiker den Clown spielen, dann werden sie bekannt. Das hat Denis Scheck von Reich-Ranicki gelernt. Er hält sich an Shakespeares Satz Better a witty fool than a foolish wit. Schecks Clownerien verstellen, dass er manchmal wirklich etwas zu sagen hat. Am Ende steht dann die Verhohnepiepelung durch die Kabarettisten. Die beste Szene von Reich-Ranicki bleibt die Interpretation von dem Lied Wir versaufen unsrer Oma ihr klein Häuschen. Das ist zwar von ➱Thomas Freitag, das macht aber nichts. Wenn Literaturkritiker nicht den Clown spielen, dann kennt sie niemand. Haben Sie schon einmal von Heinz Ludwig Arnold gehört? Der war sicherlich ein bedeutenderer Mann als Reich-Ranicki. Die Google Statistik bietet da allerdings Erstaunliches: Wenn man Arnolds Namen bei Google eingibt, erhält man 556.000 Ergebnisse. Reich-Ranicki bringt es nur auf 381.000 und Denis Scheck auf 232.000. Das sind verblüffende Zahlen. Und wenn man den Namen Dieter E. Zimmer (der es als Literaturkritiker nie nötig hatte, den Clown zu spielen) bei Google eingibt, dann kommt man auf über 18 Millionen Treffer.

Denis Scheck hat seine Verdienste. Ich habe in dem Post ➱Donder und Blitzen geschrieben: Ich kannte Denis Scheck schon lange, bevor dieser putzige kleine Kerl im Fernsehen berühmt wurde. Immer korrekt im Anzug, in dem Punkt ist er so ähnlich wie Götz Alsmann. Ich kannte Denis Scheck, weil ich das Buch King Kong, Spock & Drella besaß und es allen Studenten zum Kauf empfahl. Das Buch hatte den Untertitel Ein amerikanisches TriviaLexikon und war in den Tagen vor Computer & Google das beste Nachschlagewerk für die amerikanische Alltagskultur.

Denis Scheck, der im Jahr 150 bis 180 Bücher liest und mit dreizehn Jahren sein erstes Literaturmagazin gründete, gibt viele Interviews. Meist sagt er da witzige Dinge. Ein Interview mit ➱Cicero ist Kein Sex in Entenhausen betitelt. Das ist nun nichts Neues, als einer der Autoren der Broschüre ➱Entenhausen das neue Jerusalem weiß ich das schon lange. In dem Interview mit Cicero hat Denis Scheck die Rolle der Literaturkritik für alle Zeiten definiert: Selbstverständlich ist Literaturkritik die höchste Form menschlichen Lebens auf diesem Planeten. Der Ziel- und Gipfelpunkt menschlicher Evolution. Dafür sind wir angetreten, dafür haben sich die ersten Amöben zusammengeschlossen und Staaten gebildet: Damit am Ende als Krone der Schöpfung der Literaturkritiker steht.

Das ist natürlich Ironie. Oder?


Denis Scheck wird schon in folgenden Posts erwähnt: Donder and BlitzenPadgett PowellDonald Ducksilvae: Wälder: Lesen Wenn Sie mehr über Hannes Hansen wissen wollen, dann klicken Sie den Blog ➱Hansen & Munk an. Und lesen unbedingt hier den Post ➱Schwarzenbek.

Mittwoch, 19. Oktober 2016

Peepshow


Er hat erstaunliche Dinge gemalt, dieser Samuel van Hoogstraten, der am 19. Oktober 1678 in Dordrecht starb. Dieses kleine Objekt hat er auch gebastelt. Man guckt in den kleinen ➱Perspektivkasten (der im Holländischen Perspectiefkast oder Kijkdoos heißt), und man hat eine Peepshow der besonderen Art: ein Blick in das ➱Interieur eines holländischen Hauses. Die Holländer lassen sich ja gerne in ihre Häuser schauen. Ich muss an dieser Stelle einmal etwas zitieren, was schon in dem Post ➱Holländer steht. Eine kleine Theorie über die Holländer, selbst zurechtgebastelt aus vielen Besuchen des Landes und den Romanen von ➱Nicolas Freeling:

Der brave Handwerksbursche aus Tuttlingen von Johann Peter Hebel, der im Leichenzug des Herrn Kannitverstan mitgeht, würde noch vor einem halben Jahrhundert in jeder holländischen Straße bei Anbruch der Nacht festgestellt haben, dass man in jedes Wohnzimmer hineinschauen kann. Keine Vorhänge. Lauter aneinandergereihte holländische Interieurbilder. Die uns sagen: wir haben nichts zu verbergen. Die roterleuchteten Wohnzimmerstübchen der Nutten in den Walletjes sowieso. Das reine Gewissen, die makellose Sittlichkeit des Kalvinismus wird, vielleicht nicht gerade im roten Licht vom Rosse Buurt, aber sonst überall in Holland, demonstrativ zur Schau gestellt. Aber niemand ist ganz gut, wir haben alle etwas zu verbergen.

Everything could be seen. The Dutch, especially the more provincial Dutch, do not draw their curtains even at night. There are many explanations of this. Van der Valk had always thought it was due to anxiety – the Dutch neurosis. The anxiety lest anyone think them not normal, not conforming, not respectable, heißt es in Freelings Roman Double Barrel.

Zwar hält Albert Vigoleis Thelen, der vom Niederrhein kommt und lange im holländischen Exil gelebt hat, diese Offenheit des Wohnzimmers und des Lebens in seinem wunderbaren Roman Der schwarze Herr Bahßetup für eine zivilatorische Errungenschaft, aber wahrscheinlich sollten wir doch eher dem Kommissar Van der Valk von Nicolas Freeling trauen. Dessen Schöpfer ist zwar in London geboren, kennt aber sein Amsterdam genau. Und so ist für ihn der fehlende Fenstervorhang nur eine Scheinheiligkeit. Hinter aller nach vorn gestellten Frömmigkeit lauern Sünde und Verbrechen, da sind sich die Helden der Romane von Georges Simenon, Nicolas Freeling und Janwillem van de Wetering einig. 

Kriminalromane haben auch eine religiöse Dimension, auf jeden Fall ist das die These des Theologen Erik Routley in seinem Buch The Puritan Pleasures of the Detective Story. In dem Roman Double Barrel beobacht Kommissar Van der Valk nachts eine Wohnung: the very conventional living room of an unmarried woman living alone . . . A calvinist interior, bare, impersonal, dull. No books to be seen, no frivolities. Die Frivolität kommt noch, wenn er die Bewohnerin im Negligé mit seinem Fernglas entdeckt, den Mund rot bemalt, bald wird sie sich ausziehen.

Hoogstratens aufgeräumte Bilder sind voller Symbole, die dargestellte Welt scheint uns vertraut, und doch verlangen die Alltagsgegenstände des kalvinistischen ➱Hollands nach Interpretation. Wie zum Beispiel die ➱Pantoffeln auf diesem Bild, das im Louvre hängt. Es ist das tägliche Brot für Kunsthistoriker, alles auf der Leinwand wieder zu dekodieren. Da ist man schon gut beraten, wenn man ein Symbollexikon griffbereit und den ➱Andreas Alciatus im Kopf hat.

Der Perspektivkasten von Hoogstraten, den die ➱Londoner National Gallery 1923 kaufte, macht uns zu Voyeuren. Es sind im 17. Jahrhundert noch andere gebaut und bemalt worden, aber der in London ist der berühmteste. Der Kauf bewirkt im übrigen auch, dass sich die Kunsthistoriker endlich einmal ein wenig mit Samuel van Hoogstraaten beschäftigten. Bis dahin war er nur im Gefolge der Rembrandtschüler behandelt worden. Als erste interpretierte die französische Kunsthistorikerin Clotilde Misme die holländische Besessenheit von realistisch gemalten Alltagsthemen:

Mais tandis que Pieter de Hooch et Vermeer exaltaient dans leur „Intérieurs‟ recueillis et vivants le culte d'une race patriarcale pour l'intimité. La boîte de Hoogstraten, comme les maisons de poupée du Rijksmuseum, flatte un fétichisme mesquin qui adore le simulacre de son objet. Ich sollte noch hinzufügen, dass Hoogstraten auch als trompe l'oeil Maler hervorgetreten ist. Sie können hier eine ➱Dissertation zu dem Thema lesen. Wenn Sie wollen. Die trompe l'oeil Malerei ist auch im Amerika des 18. und 19. Jahrhunderts sehr beliebt gewesen.  Schauen Sie doch einmal in den Post ➱Charles Willson Peale und in den Post ➱Samuel Colt.

Halbgeöffnete Türen lassen uns in Räume schauen, es ist nicht ganz verboten, sonst wäre die Tür geschlossen. Ich habe ➱hier eine wunderbare Seite voller Bilder zum Stichwort offener Türflügel gefunden (man kann auf der Seite auch nach anderen Motiven suchen). Auch ein Bild von ➱Anna Ancher, das ich auch schon gezeigt habe, ist hier zu finden. ➱Hammershoi natürlich auch. Besonders gefallen haben mir diese Türen von Félix Valloton, ein Bild, das das Kunsthaus Zürich besitzt.

Der Amerikaner ➱Jimmy Sanders hat in Florenz studiert und Europa bereist, besonders die niederländischen Meister des 17. Jahrhunderts haben ihn beeindruckt. Und dann sah den
Perspectiefkast von Samuel van Hoogstraten. Und dachte sich, dass er so etwas auch einmal malen sollte. Und malte dann sein ➱Atelier in Florenz, aufgeräumt wie ein holändisches Interieur, nur etwas moderner. Und vielleicht mit etwas weniger Symbolik.

Sonntag, 16. Oktober 2016

holzgenagelt


Die Royal Navy bezog die Stiefel für ihre Matrosen aus Northampton. Holzgenagelt, um das Deck zu schonen. Die Army bekam sie stahlgenagelt. Alle Landarbeiter trugen genagelte Stiefel, der ziemlich steife Schuhboden ist bei Arbeitsschuhen ein großer Vorteil. Das ist jetzt hundert Jahre her, aber wir müssen noch ein wenig weiter zurückgehen in der Geschichte des genagelten Schuhs. Im Jahre 1790 hatte der englische Tischler Thomas Saint eine Nähmaschine für das Nähen von Leder erfunden (British Patent No. 1764), das wusste man lange nicht. Man hatte die Urkunde im Patentamt falsch abgelegt. Sie wurde erst 1873 von Newton Wilson, einem Pionier der englischen Nähmaschinenindustrie gefunden, der dann ein Replikat von Saints Maschine gebaut hat. Ob Thomas Saint jemals eine seiner Maschinen gebaut hat, weiß man leider nicht.

Dieser Herr hat den ersten Tunnel unter der Themse gebaut, es ist Sir Marc Isambard Brunel. Der Vater des berühmten Isambard Kingdom Brunel (der ➱hier einen Post hat) hatte als königstreuer Franzose sein Heimatland in der Revolution verlassen müssen. Jetzt verhalf er - neben tausend anderen Erfindungen - der englischen Armee zu besseren Stiefeln im Kampf gegen Napoleon. Seine Maschinen konnten Schuhe mit Stahlnägeln nageln, fünfhundert am Tag. Doch es ist ein Amerikaner namens ➱Nathaniel Leonard aus Merrimac (Massachusetts), der 1829 eine Holzpflock- und Holznagelmaschine erfand. Die machte es möglich, die Holznägel automatisch durch die Sohle zu stechen. So konnten die Holznägel gleichmäßig eingeschlagen werden, das löste viele Probleme bei holzgenagelten Schuhen. Und die holzgenagelten Schuhe zieht das Bürgertum vor, man möchte auf dem Parkett keine Kratzer machen.

Die genagelten Schuhe bleiben durch das Jahrhundert für Landbevölkerung, Arbeiter und Armee die Standardschuhe (für Armee und Feuerwehrleute noch länger). Es wird noch einige Jahrzehnte dauern, bis die genähten Schuhe en masse produziert werden. Es sind im 19. Jahrhundert immer wieder die Amerikaner, die die Erfindungen machen. Da ist zum Beispiel Gordon McKay, der sein Patent für eine angenähte Sohle an Lyman Reed Blake verkauft (hier kann man das Blake Verfahren sehen).

Und da ist natürlich Charles Goodyear Jr, der eine Maschine baut, mit der man rahmengenähte Schuhe herstellen kann (Jan Ernst Matzeliger sollten wir auch nicht vergessen). Die Geschichte der Erfindungen im Bereich der Schuhherstellung und die damit einhergehende Veränderung der Arbeitswelt scheint erstaunlicherweise niemanden wirklich zu interessieren. Symbolisch dafür ist Sigfried Giedion, der in seinem Standardwerk Die Herrschaft der Mechanisierung die Maschinen zur Schuhherstellung mit keiner Zeile erwähnt. Den sogenannten Rahmen eines rahmengenähten Schuhs können Sie hier sehen, es ist ein Lederband, das um den Schuh herumläuft. Das allerdings heute bei beinahe allen Schuhen, die als rahmengnäht bezeichnet werden, durch ein geklebtes Gemband ersetzt ist.

Als ich vor Jahren für die Firma IWC in Schaffhausen einen Artikel über ihren Firmengründer im Bürgerkrieg schrieb (Sie können den Artikel ➱hier lesen), stellte ich fest, dass Florentine Ariosto Jones nicht der einzige Uhrmacher im Regiment war. Das hätte ich mir denken können, Boston war die Metropole der amerikanischen ➱Uhrenindustrie. Ich konnte der Regimentsliste, die ich aufgetrieben hatte, auch entnehmen, dass das Regiment ungeheuer viel Schuhmacher in seinen Reihen hatte. Boston war auch das Zentrum der amerikanischen Schuhindustrie. Wenige Jahre vor dem Beginn des Bürgerkriegs hatte es einen Aufstand der Schuhmacher in Lynn gegeben, wobei die Arbeiter zur Melodie des Yankee Doodle sangen:

Starvation looks us in the face.
We cannot work so low.
Such prices are a sore disgrace.
Our children ragged go.


Abraham Lincoln, der sich bekanntlich seine ➱Schuhe selbst putzte, war auf der Seite der Streikenden: I am glad to see that a system of labor prevails in New England Under which laborers can strike when they want to, where they are not obliged to labor whether you pay them or not. I like a system which lets a man quit when he wants to, and wish it might prevail everywhere. Und so sangen die Schuhmacher nach dem Streik:

We strikers once for higher pay
With crowded ranks did cram Lynn;
We come with fuller ranks to-day
For Lincoln and for Hamlin.

The Southerners at us did sneer
And fiercely curse and ban Lynn,
But wilder yet will be their fear
Of Lincoln and of Hamlin.

Bold Robin Hood won Lincoln green,
And his sweet minstrel Gamelyn,
Were they alive they’d go, I ween,
For Lincoln and for Hamlin.

Like Sherwood’s king, we strike down wrong,
And while our town’s no sham Lynn,
We’ll wave our flag and go in strong
For Lincoln and Hamlin.


Der Streik von Lynn im Jahre 1860 - übrigens der größte ➱Streik der damaligen amerikanischen Geschichte - lehrt uns auch, dass die Schuhmacherei im 19. Jahrhundert ein System der Ausbeutung ist. Unter den tausenden von Schuhmachern, die im Schnee marschieren, sind auch viele Frauen. Die man ja besser ausbeuten kann als Männer, sie tragen Transparente mit der Aufschrift: American ladies will not be slaves. Give us fair compensation and we will labour cheerfully. Das Jahrhundert der Schuhmacherinnen hat begonnen, aber niemandem scheint das aufgefallen zu sein. Am Anfang des 19. Jahrhunderts hatte das paternalistische Lowell System für die Textilproduktion in Massachusetts Aufsehen erregt, die jungen Arbeiterinnen sollten in reinlichen Neubauten wohnen, beaufsichtigt von moralischen Gouvernanten. Sie sollten nur einige Jahre in der Fabrik bleiben, bis sie genügend Geld für die Heirat gespart haben. Das waren schöne Gedanken, aber das System sah wenige Jahre schon ➱ganz anders aus. Auf dem Bild von ➱Winslow Homer ist die Arbeitswelt noch in Ordnung, das ist sie auf Bildern immer.

Im amerikanischen Bürgerkrieg sind die meisten Stiefel genagelt, es kommen aber auch schon die ersten genähten Schuhe zum Einsatz. Gordon McKay hatte einen Auftrag für 25.000 Stiefel erhalten. Die werden von den Soldaten zuerst spöttisch als fadeaways bezeichnet, weil sie nicht genagelt sind, halten sich aber erstaunlich gut. Der Süden verfügt nicht über die Schuhindustrie, die der Norden besitzt. Und so ist es kein Wunder, dass das Gerücht, dass es in Gettysburg eine ganze Zugladung Schuhe geben soll, die Truppen des Südens nach Gettysburg zieht. Das Ergebnis kennen wir.

Man beobachtet damals in Europa den Bürgerkrieg genau. Man beobachtet aber auch genau, was sich in der amerikanischen ➱Schuhindustrie tut. Der Sohn des Firmengründers der französischen Firma ➱J.M. Weston wird sich in Boston umschauen und in Amerika die ersten Maschinen kaufen. Und nicht nur das, auch der Firmenname kommt aus Boston, denn in Weston (Massachussetts) hatte Blanchard Jr in einer der zahlreichen Schuhfabriken gelernt. Die ersten großen europäischen Fabriken wie ➱Bally oder Bata (wo der Vater von ➱Tom Stoppard eines Tages Werksarzt sein wird) werden ihre Produktion auf Goodyear Maschinen umstellen. Und die beiden Macharten, Goodyear oder Blake (das die Italiener bevorzugen) beherrschen noch heute die Herstellung von Qualitätsschuhen. Von holzgenagelten Schuhen ist wenig zu hören.

Aber es gibt sie noch. Da wären zum Beispiel Firmen wie Fischer oder Handmacher, beide in Österreich zu Hause. Und generell kann man sagen, dass es das ehemalige KuK Österreich (oder wie es auf einer Internet Seite heißt: ➱The Savile Row of the East) ist, in dem der holzgenagelte Schuh überlebt hat. Noch heute bieten die feinen Wiener Schuhmacher wie zum Beispiel Balint, Materna und Maftei ganz selbstverständlich holzgenagelte Schuhe an. Über das Thema könnte ich jetzt noch länger schreiben, das lasse ich aber. Weil Sie jetzt den Post ➱Wiener Leisten anklicken, dann wissen Sie mehr.

Erstaunlicherweise findet sich in dem Prospekt der Firma Handmacher, den mir Michael Rieckhof mitgab, überhaupt nichts über die Technik des Nagelns, lediglich eine Überschrift wie In über 250 Arbeitsschritten zum fertigen holzgenagelten Lederschuh weist auf die Technik hin. Es gibt Informationen über die Rendenbach Sohlen (die man 6 oder 8 Millimeter dick bekommen kann), aber nichts über Vor- und Nachteile des holzgenagelten Schuhs. Und in dem eigenlich charmanten Buch von Laszlo Vass, Herrenschuhe handgearbeitet, kommen holzgenagelte Schuhe nicht vor.

Man scheint Vorbehalte und Ressentiments gegen diese alte Handwerkstradition zu haben. In den Internetforen, wo diese Fachleute sitzen, die die Flöhe husten hören, kommt der holzgenagelte Schuh schlecht weg. Als mir Michael Rieckhof die Teilnahme an einem ➱Seminar des Schuhpapstes Helge Sternke geschenkt hatte, zog der auch gegen holzgenagelte Schuhe her. Wofür er sofort von Frau Schade und Frau Ratzburg attackiert wurde, denn bei Kelly's gibt es (genau wie bei Höfer in der Holtenauer Straße) Handmacher Schuhe. Es war ziemlich undiplomatisch (um nicht zu sagen schlicht doof) von Sternke. Und ich sollte vielleicht auch noch anfügen, dass ihn viele echte Kenner der Welt des Schuhs nicht für den echten Schuhpapst halten.

Holzgenagelte Schuhe sind in der Herstellung preiswerter als rahmengenähte. Auch bei Balint, Materna und Maftei (Bild), nicht nur bei Handmacher. Aber schlechter? Ich zitiere einmal das österreichische Wirtschaftsblatt aus dem Jahre 2010: Holzgenagelt oder genäht, das ist die eine Frage, die die Konkurrenten Handmacher und Ludwig Reiter tief entzweit, der Endverbraucherpreis für ein Paar Ledermaßschuhe die andere. Handmacher-Chef Bernhard Kovar meint, Reiter-Schuhe seien zu teuer.

„Ich sage Ihnen, die sind ihr Geld nicht wert", meint der 63-jährige Welser. Er stellt im tschechischen Znaim holzgenagelte Herrenschuhe her, die auf 230 bis 360 € kommen. Der teuerste Reiter-Halbschuh kostet 500 €. „Wir produzieren ausschliesslich in Wiener Neudorf. Das kostet halt ein bissl mehr als in Niedriglohnländern", kontert Reiter-Sprecherin Teresa Wlk. Marktführer Reiter verkauft 20.000 Paar Herrenschuhe pro Jahr, der vor 14 Jahren angetretene Herausforderer Handmacher mittlerweile 12.000.

Unser Sommer war im September, jetzt ist Herbst. Jetzt trage ich nicht mehr elegante Schuhe von Aubercy oder scharfe Schuhe von Stefano Branchini, jetzt kommen die soliden Schuhe aus Wien oder Budapest dran. Dieser schöne Schuh (für 35 Euro bei ebay gekauft) ist übrigens ein Crockett & Jones. Könnte genau so gut von Ludwig Reiter, Alt Wien oder Laszlo Vass sein. Ist aber nicht holzgenagelt, in ➱Northampton macht man das nicht mehr. Sind rahmengenähte Schuhe besser als holzgenagelte?

Ich weiß es nicht, ich selbst merke keinen Unterschied. Ich habe vor vielen Jahren einmal ein Interview mit einem Engländer gelesen, der einmal rund um England gewandert war. Er trug dabei stahlgenagelte Shepherd's Boots. Mit normalen Schuhen hätte er das Ganze nicht geschafft, sagte er. Mir sagte einmal ein Schuhmacher: Wenn Sie mal 25 oder 30 Kilometer laufen müssen, dann werden Sie froh sein, wenn Sie genagelte Schuhe an den Füssen haben. Ich habe ihm gesagt, dass ich bei der Infantrie gewesen sei und freiwillig keinen überflüssigen Schritt mehr zu Fuss machen würde. 25 Kilometer schon gar nicht. Mein Rekord stand auf 73 Kilometer an einem Tag, und da hatte ich keine genagelten Stiefel an den Füßen.