Sonntag, 6. November 2016

Marinechronometer


'Weshalb ich hier noch nie über ➱Captain Cook geschrieben habe, weiß ich nicht, aber das kommt vielleicht noch einmal', habe ich in dem Post ➱Georg Forster vor drei Jahren geschrieben. Ich mache das mal heute wahr und schreibe ein wenig über Captain James Cook. Ich habe natürlich alles gelesen, was Georg Forster und der Matrose Heinrich Zimmermann aus Wiesloch (Bild) über Cooks Reise um die Welt geschrieben haben. Und noch ein klein wenig mehr. Ich habe nämlich vor Jahrzehnten einmal ein Seminar über ➱Herman Melvilles Südseeabenteuer und die Südsee in der amerikanischen Literatur gemacht und hatte mich damals ordentlich vorbereitet. Das steht, zusammen mit Beleidigungen von Frau Schavan, schon in dem lesenswerten Post ➱Georg Forster. Ich schreibe heute auch noch über Herrn Zimmermann, aber das ist ein anderer, ich glaube die beiden sind nicht verwandt.

Dieser Herr hier ist ein klein wenig eleganter als unser Matrose aus Wiesloch, es ist niemand anderer als der Kapitän James Cook. Was wären Neuseeland und Australien ohne ihn? Wir alle kennen die Geschichte seiner Entdeckungen, und wenn nicht, dann kann ich den hervorragenden deutschen Ausstellungskatalog James Cook und die Entdeckung der Südsee sehr empfehlen. Wir sehen auf diesem Portrait von Nathaniel Dance-Holland (der schon einmal in ➱18th century: Fashion erwähnt wird), dass Cook keine Taschenuhr trägt. Und auch im ganzen Zimmer ist kein Zeitmesser zu sehen. Dabei haben Uhren im Leben von Captain Cook eine wichtige Rolle gespielt, wie der australische Dichter Kenneth Slessor wusste:

Two chronometers the captain had,
One by Arnold that ran like mad,
One by Kendal in a walnut case,
Poor devoted creature with a hangdog face.

Dieses Bild von John Olsen ist eine ➱Hommage an Kenneth Slessor, dessen Gedicht Five Bells ihn zu einem riesigen Wandgemälde inspirierte, das heute das Opernhaus von Sydney ziert. Es ist ein abstraktes Bild, obgleich der Künstler sagt: I have never painted an abstract painting in my life und das Bild lieber als an exploration of the totality of landscape sehen will. Das neue Opernhaus in Sydney können wir auch in den letzten Szenen von Promised Land, einer Folge der ➱Inspector Morse Krimis sehen. Wenn Sie das etwas weit hergeholt finden, so habe ich doch einen Grund auf den Chief Inspector Morse hinzuweisen. Wir wissen, dass er Endeavour heißt, wie das Schiff von Captain James Cook. Und Schiff und Kapitän spielen auch in Kenneth Slessors Gedicht ➱Five Visions of Captain Cook eine Rolle.

Aber zurück zu Five Bells, dem bekanntesten und berühmtesten Gedicht von Slessor, ich zitiere einmal die erste Strophe:

Time that is moved by little fidget wheels
Is not my time, the flood that does not flow.
Between the double and the single bell
Of a ship's hour, between a round of bells
From the dark warship riding there below,
I have lived many lives, and this one life
Of Joe, long dead, who lives between five bells.

Sie können das Gedicht ➱hier ganz lesen. Der Joe, der hier angesprochen wird, ist der Cartoonist Joe Lynch, der am 14. Mai 1927 betrunken von der Fähre im Hafen von Sydney fiel und ertrank. Wahrscheinlich wurde er in Tiefe gezogen, weil seine Manteltaschen voller Bierflaschen waren. Sie können ➱hier alles über diese Geschichte bei Lindsay Foyle lesen, einem australischen Cartoonisten, der an einem Buch über das Thema arbeitet.

Wenn ich heute über Kenneth Slessor (Bild) schreibe, dann muss ich vorausschicken, dass ich kein Fachmann für australische Literatur bin. Ich musste mal einen australischen Professor eine Woche lang betreuen, der von sich behauptete, dass er der größte Fachmann zum Thema australische Literatur sei. Aber das war eine Lüge. Ich erkannte sehr schnell, dass ich da einen veritablen Lügenbaron an der Backe hatte (ich habe das schon in den Post ➱Giovanni Morelli hinein geschrieben). Jahre später habe ich den Mann noch einmal wiedergesehen. Der Professor, bei dem ich damals Assistent war, stand eines Morgens käsebleich in meiner Bürotür und sagte: Jay, gehen Sie bitte mal vorsichtig auf den Flur und gucken Sie, wer da hinten auf dem Flur steht. Machte ich, und da hinten auf dem Flur war wieder unser Lügenbaron aus Australien. Mein Professor und ich verließen umgehend das Gebäude durch einen Hinterausgang.

Der nächste Australier, den ich kennenlernte, war der Dichter ➱Les Murray (Bild). Als ich zu dem Leseabend ging, wusste ich schon einiges über ihn, denn ich hatte dieses gewaltige Versepos Fredy Neptune gelesen. Bevor ich es für drei Mark im Grabbelkasten fand, wusste ich nichts über Les Murray. Nach der Lektüre von Fredy Neptune, das es (glücklicherweise für viele Leser) zweisprachig gibt und dem Leseabend wusste ich mehr. Wenn Murray letztens statt ➱Bob Dylan den Nobelpreis bekommen hätte, es wäre vielleicht nicht unverdient gewesen.

Von der neuseeländischen Literatur weiß ich ein klein wenig mehr, weil wir an unserem Seminar mehrmals die Dichterin und Literaturwissenschaftlerin Judith Dell Panny als Gastprofessorin hatten. Das habe ich schon in dem Post über den neuseeländischen Dichter ➱C.K. Stead geschrieben, ein Post, der leider überhaupt nicht gelesen worden ist. Deshalb preise ich den heute noch einmal an. Und dann gibt es im Blog auch noch einen Post zu ➱Katherine Mansfield, der ein wunderbares Aquarell (dies hier) von dem jungen Maler Robert Bohnstengel zum Thema Kiwi enthält.

Australiens bedeutendster modernistischer Dichter Kenneth Slessor (hier als australischer Kriegskorrespondent im Zweiten Weltkrieg) ist in Deutschland so gut wie unbekannt. Die Dichter von down under haben es schwer, da kennt man eher Waltzing Matilda als die australische Moderne. Patrick White war der erste und einzige, der den Nobelpreis erhielt. Aber redet noch jemand über den? Man muss einer Seite wie ➱Lyrikline schon dankbar sein, dass man hier zwei Gedichte von Slessor findet und noch 31 weitere ➱Autoren aus Australien finden kann.

Und man muss dem Mattes Verlag und dem emerierten Anglistikprofessor Hans-Joachim Zimmermann dankbar sein, dass sie jetzt den Band Kenneth Slessor: Gedichte Zweisprachig auf den Markt gebracht haben. 120 Seiten stark und in drei Teile geteilt: eine lange Einleitung zu Slessors Leben und Werk, zwanzig Gedichte mit deutschen Übersetzungen und ein Kommentar zu allen Gedichten. Es ist ein perfektes Buch, das kann man nicht besser machen. Man merkt, dass Zimmermann aus der Schule von Rudolf Sühnel kommt, das steht für Qualität in einer Zeit, in der es mit der Qualität von Hochschullehrern immer mehr abnimmt. Über ➱Rudolf Sühnel habe ich hier vor Jahren geschrieben, und zu meinem großen Erstaunen hat der Post viele tausend Leser gefunden. Das Buch zu Kenneth Slessor ist nicht das erste Buch, das Zimmermann über Australien geschrieben hat. 1999 hat er einen Band Schwarzaustralische Gedichte: Englisch-Deutsch herausgegeben, was sicherlich eine Pionierleistung war.

Ein Rezensent wäre kein Rezensent, wenn er nicht etwas zu mäkeln hätte. Der Titel Fünf Glockenschläge in der Übersetzung von Five Bells gefällt mir nicht, es sollte besser Fünf Glasen heißen. Das weiß Zimmermann auch, aber für ihn ist das nur ein terminus technicus der Seemannssprache, den er dem Leser nicht zumuten will. Im Gegensatz zu mir kommt er nicht aus einem Kaff an der Weser, das aus einem Hafen, Werften, Bootsbauern, Segelmachern und pensionierten Kapitänen bestand. Man muss dem Leser auch mal etwas Nautisches zumuten. Was hätten die Übersetzer von ➱Moby-Dick sonst tun sollen? Fritz Güttinger (der ➱hier einen Post hat) geht ja auf dieses Problem in seinem Buch ➱Zielsprache lang ein. Bevor ich weiter mäkle, schiebe ich mal eben dieses Gedicht von Slessor (es ist die Nummer 3 von Five Visions of Captain Cook) ein:

Two chronometers the captain had,
One by Arnold that ran like mad,
One by Kendal in a walnut case,
Poor devoted creature with a hangdog face.

Arnold always hurried with a crazed click-click
Dancing over Greenwich like a lunatic,
Kendal panted faithfully his watch-dog beat,
Climbing out of Yesterday with sticky little feet.

Arnold choked with appetite to wolf up time,
Madly round the numerals his hands would climb,
His cogs rushed over and his wheels ran miles,
Dragging Captain Cook to the Sandwich Isles.

But Kendal dawdled in the tombstoned past,
With a sentimental prejudice to going fast,
And he thought very often of a haberdasher’s door
And a yellow-haired boy who would knock no more.

All through the night-time, clock talked to clock,
In the captain’s cabin, tock-tock-tock,
One ticked fast and one ticked slow,
And Time went over them a hundred years ago.

In dieser witzigen Beschreibung ticken zwei Uhren um die Wette, die eine ist von Larcum Kendall, die andere von John Arnold (zwei weitere Uhren von Arnold werden auf Cooks Reise ihren Geist aufgeben). Kenneth Slessor hat sich vieles über Cook und Bougainville angelesen, bevor er sein Gedicht über Captain Cook geschrieben hat. Allerdings geht auch die Uhr von Larcum Kendall (Bild) zu schnell: eine 7/10 Sekunde am Tag. In ➱Greenwich ging sie noch 5/8 Sekunden am Tag zu langsam. Bevor wir jetzt meckern, moderne Armbanduhren mit Chronometerzertifikat seien sie von Patek oder ➱Rolex erreichen solche Werte nicht annähernd. Da sind drei Sekunden Fehlgang am Tag schon ein sehr guter Wert (einem anderen ➱Entdecker in der Südsee wird eines Tages eine Eterna Armbanduhr reichen). Was Cook mit sich führt, sind nicht einfache Uhren, es sind Navigationsinstrumente. Larcum Kendalls K1 sieht aus wie eine Taschenuhr, aber man kann sie nicht in die Tasche stecken wie die Uhren, die der geniale Arnold später der Royal Navy liefert. Die ➱K1 ist dreimal so groß wie eine Taschenuhr und wiegt beinahe anderthalb Kilo. Cook war zuerst skeptisch, ob man mit dieser Uhr den Längengrad bestimmen kann, aber er wird dann our trusty friend the Watch und our never-failing guide the Watch ins Logbuch schreiben.

Auf seiner ersten Reise hatte Cook keinen einzigen Chronometer (hier einer von John Arnold) an Bord gehabt. Es gibt zu der Zeit nur eine einzige transportable genaugehende Uhr auf der Welt, und das ist die sogenannte ➱H4 von John Harrison. Die gibt die Admiralität nicht her, sie lässt Larcum Kendall eine Kopie bauen. Die bekommt Captain Cook für seine zweite Reise. Er ist sozusagen ein Versuchskaninchen, die Admiralität will wissen, ob die Uhr wirklich auf einer so langen Reise funktioniert. Aber so gut H4 und K1 sind, sie sind eine technologische Sackgasse. Und sie sind zu teuer, für drei Kopien von Harrison 4 hätte man ein kleines Kriegsschiff bekommen können.

Kendall war nicht der Mann, eine neue Uhr zu entwickeln. Er war ein Handwerker, kein Genie wie Harrison oder Arnold. Bei seiner K2 ließ er aus Preisgründen das Herzstück von Harrisons H4 (und seiner eigenen K1) einfach weg. Dieses Teil hat den Namen remontoire (oder force constante), man kann es hier in einer neueren Uhr sehen. Harrison hatte es einst für seine H2 erfunden. Und dennoch funktionierte die K2 (sie ging eine bis drei Sekunden am Tag falsch, was immer noch ein phänomenaler Wert ist), Captain Bligh von der ➱Bounty hatte sie an Bord, Fletcher Christian hat sie ihm weggenommen und ist mit ihrer Hilfe zu den Pitcairn Inseln navigiert.

Englands Helden sind jetzt ➱Uhrmacher, sie verhelfen der englischen Flotte, sicher auf den Weltmeeren zu navigieren. Sozusagen ein Vorsprung durch Technik, eine Phrase, die die englische Sprache schon assimiliert hat. Sie können die ganze Geschichte in dem wunderbaren Buch Längengrad von ➱Dava Sobel nachlesen, ein Buch, das Hans-Joachim Zimmermann in seinen Ausführungen über die Marinechronometer leider nicht zitiert. All through the night-time, clock talked to clock, in the captain’s cabin, tock-tock-tock. 

Erstaunlicherweise haben im Jahre 1802 nur sieben Prozent der Kriegsschiffe einen von der Admiralität gelieferten Chronometer. Die Admiralität ist geizig. Also kaufen die Marineoffiziere die preiswerteren Chronometer von Arnold (Bild) oder Earnshaw auf eigene Kosten. Die liegen im Jahre 1800 preislich bei 50 bis 100 Pfund, dazu kommen noch einmal 10 Pfund im Jahr für Reinigung und Reparatur. Das ist eine Menge Geld, wenn man bedenkt, dass ein Kapitän damals 28 Pfund im Monat verdient (ein Leutnant nur acht Pfund). Und es genügt ja nicht, dass ein Chronometer an Bord ist, es sollten schon mehrere sein. Erst in den 1840er Jahren wird die Admiralität ihre Kriegsschiffe mit genau gehenden Uhren ausstatten. Mit mindestens einer chronometer watch (oder einer H.S.2 Uhr) sowie mehreren H.S.3 und H.S.4 deck watches (H.S. steht für Hydographic Department Standard).

Arnold wird seine Uhren verbessern und verbessern. Beachten Sie einmal die wirklich exzentrische Form der Unruh dieser Uhr (sie wird schon in dem Post ➱Precision Class erwähnt). Arnold wird zum Hauptlieferanten der Royal Navy (beziehungsweise ihrer Kapitäne) werden. Und auch die Schiffe der East Indian Company werden mit seinen Uhren ausgestattet. Ich musste diese Geschichte, wie Uhrmacher dafür sorgen, dass Britannia rule the waves wahr wird, mal eben loswerden. Weil ich weiß, dass meine Leser das lieben. Als ich über meine amerikanische Eisenbahneruhr ➱Illinois Bunn Special schrieb, hat mir das tausende von Lesern beschert. Hätte ich diesen Post 'Kenneth Slessor' genannt, wer hätte ihn gelesen? Da zieht ein Titel wie 'Marinechronometer' schon mehr Leser an. Dachte ich mir so.

Während ich dies geschrieben habe, lag die ganze Zeit eine englische Taschenuhr neben mir auf dem Schreibtisch. Es ist eine Uhr, die englische Kapitäne im 19. Jahrhundert geliebt haben, weil sie eine Zentralsekunde (ungewöhnlich bei Taschenuhren) hat. Und noch dazu einen Sekundenstopp, das macht diese Beobachtungsuhr mit dem bullseye glass schon beinahe zur Rarität. Irgendjemand hat sie in den letzten 150 Jahren ihres Silbergehäuses beraubt, aber ein Uhrmacher hat ihr ein neues Messinggehäuse verpasst. Mit Glasboden. Uhren aus dem neunzehnten und achtzehnten Jahrhundert können bei richtiger Pflege immer noch laufen. Von wegen And Time went over them a hundred years ago. Keine Quarzuhr wird so lange halten wie Harrisons H4. Die berühmtesten Uhren der Royal Navy sind in Greenwich zu finden, aber auch im Mathematisch-Physikalischen Salon in Dresden können sie Thomas Mudges blauen Chronometer anschauen.

Wenn Sie dies gelesen haben, dann werden Sie den Post ➱Larcum Kendalls K2 lesen wollen, der ist richtig spannend (und ich habe damals auch schon das Gedicht von Kenneth Slessor in dem Post erwähnt). Und vergessen Sie nicht: Das Buch Kenneth Slessor: Gedichte Zweisprachig von Hans-Joachim Zimmermann ist gerade im Mattes Verlag Heidelberg erschienen. Es kostet 18 Euro und lohnt den Kauf unbedingt. Slessors Collected Poems sind 1994 bei Angus & Robertson erschienen, sind aber leider vergriffen.


Noch mehr Chronometer in diesem Blog in den Post: Constellation de Luxe, Officially Certified, Precision Class, Larcum Kendalls K2, Rolex, Sommerzeit, drei, zwei, eins, Hemmungen, Max Bill, Elgin, 18th century: Georgian EraIllinois Bunn Special

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