Dienstag, 7. Februar 2017

Leo Spitzer


Heute vor 130 Jahren wurde Leo Spitzer geboren. Er war ein berühmter Romanist, der den Philologen weit über sein Fach hinaus Anregungen gegeben hat. Philologen kommen in diesem Blog nicht so häufig vor, obwohl Jay ja auch einmal Philologe war. Der Post ➱Rudolf Sühnel ist schon eine Ausnahme, erstaunlicherweise ist er x-tausendmal gelesen worden. Was natürlich zeigt, dass meine Leser Stil und Kultur haben. Zwei Begriffe, die ich immer mit Frankreich verband. Und ich hätte beinahe auch Romanistik studiert, wahrscheinlich nur mit dem Ziel, Flaneur in Paris zu werden und von schönen Frauen geküsst zu werden.

Andere aus meiner Generation hatten damals das Ziel, Clochard in Paris zu werden, aber die Phase des Existentialismus mit schwarzen Pullovern, abgeschabten Tweedjacketts, mit ➱Juliette Gréco, Sartre und Camus, die hatte ich schon hinter mir. Man kann das natürlich nicht wirklich hinter sich haben: ➱Juliette und ➱Camus bleiben immer. Auch wenn ich Kunstgeschichte und Englisch studierte, guckte ich im Vorlesungsverzeichnis immer in das Angebot der ➱Romanisten und hörte bei ihnen Vorlesungen. Damals rieten die Rektoren der deutschen Universitäten den Studienanfängern noch zu einem Studium Generale, was im Zeichen von Turboabitur und Bachelor/Master-Studiengängen zu einer schönen Illusion geworden ist.

Ich habe in dem Post ➱Sabbelkino geschrieben: Über die hiesigen Professoren in der Romanistik könnte ich jetzt einiges sagen, aber das lasse ich lieber. Ich meine damit natürlich nicht Hans Hinterhäuser, bei dem ich Vorlesungen hörte (und der sogar mal etwas zum ➱Dandy veröffentlicht hat), sondern eher diesen Rotweinsäufer, der routinemäßig seinen Führerschein verlor und einem Freund bei der Doktorprüfung übel mitgespielt hat. Es ist eine traurige Geschichte. Ich hatte schon früh ➱Franz Hessel gelesen, der als Flaneur die Maxime hatte: Man muß sich selbst vergessen, um glücklich spazieren zu gehen. Von meinem Freund Peter, der schon Kunstgeschichte und Romanistik studierte, als ich noch ➱Uniform trug, bekam ich unter vielen anderen Hinweisen die Empfehlung, Robert Minder zu lesen, was auch sehr fruchtbringend war. Vor allem, wenn Minder ➱Heidegger auseinandernimmt.

Andere Romanisten entdeckte ich durch Zufall, ein Nachbar aus unserer Straße drückte mir eines Tages einen kleinen Karton mit Büchern in die Hand und sagte: Musste mal sehen, ob Du was damit anfangen kannst. Es waren Bücher von Benedetto Croce und Karl Vossler. Ich konnte was damit anfangen. Dantes ➱Göttliche Komödie habe ich natürlich in der ➱Übersetzung von ➱Karl Vossler gelesen, über den Hugo Friedrich schrieb: Der hochgewachsene Schwabe mit dem bäuerlich kräftigen Kopf eines spanischen Caballero und den auffallend buschigen Augenbrauen blieb bis ans Ende den Erbtümern seiner Heimat treu: einem Idealismus, der hütet, was schön und nobel ist, und einer Nüchternheit, die alles Verstiegene, Übergescheite, Herausgeputzte mit dem Dolch des Sarkasmus erledigte. 

Leo Spitzer war 1925 ordentlicher Professor für Romanische Philologie in Marburg geworden, die Universität Köln wollte ihn gerne haben: Leo Spitzer eignet sich für die Kölner Verhältnisse besonders, weil er mit seinen umfangreichen Sprachkenntnissen auch den Bedürfnissen der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät entgegenkommt. Er kann alle Prüfungen in französischer, italienischer, spanischer und portugiesischer Handelskorrespondenz selbst abnehmen und braucht keinen Lektor als Stellvertreter in diesen Funktionen. [...] Spitzer hat ferner enge persönliche Kontakte mit führenden Persönlichkeiten Frankreichs und Spaniens. Aber es hat Jahre gedauert, bis man ihn berief (es gibt ➱hier eine hochinteressante Seite zu der Berufung, bei der Konrad Adenauer eine wichtige Rolle spielte).

Benedetto Croce und Karl Vossler hatten großen Einfluß auf Leo Spitzer, jenen Romanisten, den die Nazis aus seinem ➱Professorenamt in Köln verjagten. Die ➱Johns Hopkins Universität war glücklich, dass er von 1936 bis 1956 in Baltimore blieb. Zwar hatte ihm die Universität Köln 1946 seinen Lehrstuhl wieder angeboten, aber Spitzer lehnte ab, er fühlte sich in Baltimore mittlerweile heimisch. Es ist auch sicherlich kein Zufall, dass der Romanist damals einen wichtigen Aufsatz über ein nicht romanistisches Thema schrieb, nämlich über den amerikanischen Dichter ➱Walt Whitman.

Sein Aufsatz 'Explication de Texte' Applied to Walt Whitman's Poem 'Out of the Cradle Endlessly Rocking' von 1949 (➱hier in Teilen zu lesen) war programmatisch für seine Methode, alles, aber auch alles, aus einem Text herauszukitzeln. Ungeheuer gelehrt und dazwischen immer wieder witzig: As for the songs of the birds, let us note first that Whitman has chosen to replace the hackneyed literary nightingale by a domestic bird of America, the mocking-bird, compared to which, Jefferson once declared, the European nightingale is a third-rate singer. The manner in which Whitman has "translated," to use his modest expression, the song of the mockingbird into words deserves boundless admiration. I know of no other poem in which we find such a heart-rending impersonation of a bird by a poet, such a welding of bird’s voice and human word, such an empathy for the joy and pain expressed by nature’s singers.

Diese explication de texte, das genaue Lesen eines Textes, wusste Leo Spitzer nicht nur auf die Literatur anzuwenden. Sein Aufsatz Amerikanische Werbung - verstanden als populäre Kunst hatte eine ungeheure Wirkung. Explication de texte heißt in diesem Fall Interpretation eines Werbeplakats, das, orangefarben, Gebirgszüge mit Orangenbäumen, dahinter eine Orangensonne, davor ein Riesenglas Orangensaft, daneben ein kleines Glas Orangensaft samt einer Orangenpresse und in der linken Ecke die Unterschrift zeigt: „From the sunkist groves of California. Fresh for you“, stand in der ➱Zeit. Besser kann man es kaum sagen. Oder vielleicht doch. So schreibt der Filmkritiker ➱Wolfram Schütte:

Das (für uns) Sensationelle & Originelle an diesem Aufsatz war das Unikum, dass hier eine internationale Koryphäe wie der vor den Deutschen nach den USA geflüchtete österreichische Romanist sich mit einem banalen kommerziellen Alltagsgegenstand beschäftigte. Mehr noch: das uns auch bekannte & vertraute Einwickelpapier behandelte er wie eine esoterisch-exotische Kostbarkeit aus der Kultur des Alten Europa. Leo Spitzer betrachtete die Ikonographie & den Text der »Sunkist«-Werbung wie (oder besser als) ein barockes Emblem, dessen Ästhetik er »entschlüsselte«, weil er eine längst vergessene mitteleuropäische poetische Kunstform auf ein millionenfach verbreitetes kommerzielles Objekt in den USA anwandte.
       Er verfuhr dabei gewissermaßen so bedachtsam, wie Walter Benjamin es vom »echten Polemiker« behauptet, der »sich ein Buch so liebevoll vornimmt, wie eine Kannibale sich einen Säugling zurüstet«. Spitzer war aber kein Polemiker sondern ein sensibler Interpret, gewissermaßen ein Roland Barthes ante. Vom »Strukturalismus« oder von Barthes´ Entschlüsselung der »Mythen des Alltags« ahnten, geschweige denn wußten wir damals noch nichts.

Das kleine Buch Eine Methode, Literatur zu interpretieren (zuerst bei Hanser, dann bei Ullstein als Paperback) ist heute leider so gut wie vom Markt verschwunden. Bei booklooker gibt es noch einige Exemplare, es lohnt sich unbedingt. Im Wikipedia Artikel zu Spitzer wird das Buch nicht erwähnt, dabei finden sich hier die besten und wichtigsten Aufsätze von Spitzer. Der Wikipedia Artikel für Leo Spitzer ist ebenso lang wie der für ➱Thea Dorn. Der für ➱Richard David Precht ist viel länger. Ach, da fehlt doch Karl Vosslers Nüchternheit, die alles Verstiegene, Übergescheite, Herausgeputzte mit dem Dolch des Sarkasmus erledigte.

Kurz nachdem Amerikanische Werbung - verstanden als populäre Kunst erschienen war, kam Roland Barthes' Buch ➱Mythologies auf den Markt. Je crois que l’automobile est aujourd'hui l'équivalent assez exact des grandes cathédrales gothiques : je veux dire une grande création d'époque, conçue passionnément par des artistes inconnus, consommée dans son image, sinon dans son usage, par un peuple entier qui s'approprie en elle un objet parfaitement magique, schrieb da der französische Philosoph über das Citroen Modell DS19.

Was für Leo Spitzer und ➱Roland Barthes vielleicht nur kleine Kabinettstückchen gewesen waren, wurde für viele 68er zu einem Lebensinhalt. Da erschienen dann Aufsätze wie Zur Metasprache der Werbung – Analyse einer Doornkaat- Reklame in einem Buch, das gelb und gewalttätig daherkam. Der Doornkaat Aufsatz war ein kleiner Bastard der Aufsätze von Leo Spitzer und Roland Barthes, aber in Deutschland gab man sich damit zufrieden. Ich gab damals meine Germanistikstudium auf, weil für mich Philologie etwas anderes sein sollte, als die Analyse von Todesanzeigen. Das habe ich schon in dem Post ➱Heinrich Hannover geschrieben, der viel über ➱1968 sagt. Aber die Titel der Aufsätze von Leo Spitzer wanderten immer auf die liebevoll getippten Literaturlisten, die ich nach jeder Stunde verteilte. Wenn der ➱Dr Hilarius, der mich als Dozenten über den grünen Klee gelobt hat, seine Listen noch haben sollte, wird er dort bestimmt auch Leo Spitzer wiederfinden. Und ➱Robert Curtius und andere Romanisten.

Besonders französisch elegant sieht der Professor Hans Hinterhäuser hier ja nicht aus. Seine Kleidung stammt definitiv nicht von ➱José Camps oder ➱Francecso Smalto, aber er war ein guter Professor. Und gucken Sie mal, was da für hübsche Romanistinnen zu dem Fackelzug gekommen sind, um ihren Professor zu bitten, in Kiel zu bleiben. Ist er leider nicht, sein Nachfolger war der oben erwähnte rechtsradikale Rotweinsäufer. Wenn es für den einen Fackelzug gegeben hätte, dann wären wohl keine hübschen Frauen gekommen, höchstens jemand vom Schlag Marie le Pen. Seine Studenten hassten ihn; als er sie mit illegalen Mitteln zu kriminalisieren versuchte, haben sie alle Feuerlöscher, die sie in der Uni finden konnten, zusammengetragen und damit das Romanische Seminar ausgeschäumt.

Ich möchte diese kleine Hommage an den großen Philologen Leo Spitzer mit einer ➱Anekdote beschließen. Sie stammt aus der Zeit, als er noch Professor für europäische Philologie in Istanbul (1933-1936) war: Einen der Lehrstühle bekleidete damals der große Romanist Leo Spitzer, der 1933 von den Nazis aus Köln verjagt worden war. Spitzer war ein strenger Lehrer, und als seine Studenten wieder einmal zu spät ins Seminar kamen und auch den zu besprechenden Text nicht vorbereitet hatten, fragte er verärgert, was denn los sei. Die Studenten antworteten, das liege an den schlimmen Südwinden, die ab und zu die Stadt heimsuchten. Man komme morgens nicht aus dem Bett, weil man unter Migräne leide, weswegen man auch den Text nicht habe vorbereiten können. Und außerdem verkehrten die Fähren dann nicht, weil es zu gefährlich sei. Deswegen die Verspätung. Dem konsternierten Spitzer blieb nur zu erwidern, dass er von solchen Südwinden noch nie etwas gehört oder gemerkt habe.
       Einige Monate später zogen die Winde wiederum durch die Stadt, doch die Studenten wollten sich vor ihrem Professor nicht noch einmal blamieren. Sie waren gut vorbereitet und pünktlich zum Unterrichtsbeginn im Seminarraum. Wer fehlte, war Spitzer. Nach einer halben Stunde endlich tauchte er auf, etwas außer Atem und mit zerzauster Frisur. Die Studenten fragten ihn, was geschehen sei, denn bis dahin war er noch nie zu spät erschienen. Ach, sagte er, diese schlimmen Südwinde. Man wacht morgens auf und hat heftige Kopfschmerzen, kann sich nicht richtig auf sein Seminar vorbereiten, und die Fähren verkehren auch nicht.

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