Montag, 29. April 2024

Who reads poetry?


Zum Ende des Poetry Month müssen wir mal kurz über die Poesie nachdenken. Wer liest überhaupt noch Gedichte? Das fragte nicht nur das Poetry Magazin der Chicago University Press. Diese Frage hat sich der Australier Les Murray auch gestellt. Der war schon mehrfach in diesem Blog. In dem Post Marinechronometer habe ich geschrieben: Der nächste Australier, den ich kennenlernte, war der Dichter Les Murray. Als ich zu dem Leseabend ging, wusste ich schon einiges über ihn, denn ich hatte dieses gewaltige Versepos Fredy Neptune gelesen. Bevor ich es für drei Mark im Grabbelkasten fand, wusste ich nichts über Les Murray. Nach der Lektüre von Fredy Neptune, das es (glücklicherweise für viele Leser) zweisprachig gibt und dem Leseabend wusste ich mehr. Wenn Murray letztens statt Bob Dylan den Nobelpreis bekommen hätte, es wäre vielleicht nicht unverdient gewesen.

Es war nett, Les Murray zu treffen. Es gab leider an dem Abend kein Bier. Als Seamus Heaney hier war, gab es Guinness. Les Murray hat es zwar nicht zum Nobelpreis geschafft, aber er ist in Deutschland gut angekommen. Teile seines Werks gibt es auch in deutschen Ausgaben. Und sein Hauptwerk Fredy Neptune hat hier auch schon einen Post. Das Gedicht heute hat den Titel The Instrument, es geht darin um die Frage, wer heute noch Gedichte liest:

Who reads poetry? Not our intellectuals;
they want to control it. Not lovers, not the combative,
not examinees. They too skim it for bouquets
and magic trump cards. Not poor schoolkids
furtively farting as they get immunized against it.

Poetry is read by the lovers of poetry
and heard by some more they coax to the café
or the district library for a bifocal reading.
Lovers of poetry may total a million people
on the whole planet. Fewer than the players of skat.

What gives them delight is a never-murderous skim
distilled, to verse mainly, and suspended in rapt
calm on the surface of paper. The rest of poetry
to which this was once integral still rules
the continents, as it always did. But on condition now

that its true name’s never spoken: constructs, feral poetry,
the opposite but also the secret of the rational.
And who reads these? Ah, the lovers, the schoolkids,
debaters, generals, crime-lords, everybody reads them:
Porsche, lift-off, Gaia, Cool, patriarchy.

Among the feral stanzas are many that demand your flesh
to embody themselves. Only completed art
free of obedience to its time can pirouette you
through and athwart the larger poems you are in.
Being outside all poetry is an unreachable void.

Why write poetry? For the weird unemployment.
For the painless headaches, that must be tapped to strike
down along your writing arm at the accumulated moment.
For the adjustments after, aligning facets in a verb
before the trance leaves you. For working always beyond

your own intelligence. For not needing to rise
and betray the poor to do it. For a non-devouring fame.
Little in politics resembles it: perhaps
the Australian colonists’ re-inventing of the snide
far-adopted secret ballot, in which deflation could hide

and, as a welfare bringer, shame the mass-grave Revolutions,
So axe-edged, so lictor-y.
Was that moral cowardice’s one shining world victory?
Breathing in dream-rhythm when awake and far from bed
evinces the gift. Being tragic with a book on your head.

Auf der immer empfehlenswerten Seite Planet Lyrik findet sich eine deutsche Übersetzung, allerdings steht leider der Name des Übersetzers nicht dabei. Wahrscheinlich ist die Übersetzung von Margitt Lehbert, die viel von Murray übersetzt hat:

Das Instrument

Wer liest schon Poesie? Nicht unsere Intellektuellen;
sie wollen sie steuern. Nicht Liebende, nicht die Kampflustigen,
keine Prüflinge. Auch sie überfliegen sie nach Sträußen
und Zaubertrumpfkarten. Nicht die armen Schulkinder,
die heimlich furzen, während sie dagegen geimpft werden.

Poesie wird von den Liebhabern der Poesie gelesen
und von einigen anderen gehört, die man ins Café lockt
oder zu einer Bifokallesung in der Bezirksbibliothek.
Liebhaber der Poesie belaufen sich wohl auf eine Million
Menschen auf der ganzen Erde. Weniger als Skatspieler.

Was diese Menschen erfreut, ist eine nie mörderische Essenz,
hauptsächlich zu Versen destilliert, die in verzückter Ruhe
auf der Oberfläche des Papiers schwebt. Der Rest der Poesie,
mit dem dies früher eine Einheit bildete, beherrscht noch heute
die Kontinente wie immer schon. Jetzt unter der Bedingung,

daß man den wahren Namen nicht nennt. Konstrukte, wilde Poesie,
das Gegenteil, aber auch das Geheimnis des Rationalen,
und wer liest sie dann? Ah, die Liebenden, die Schulkinder,
die Disputanten, Generäle, Mafiabosse, alle lesen sie:
Porsche, Rakentenstart, Gaia, Cool, Patriarchat.

Unter wilden Strophen verlangen viele nach deinem Fleisch,
um sich zu verkörpern. Nur die vollkommene Kunst,
frei vom Gehorsam gegenüber ihrer Zeit, kann dich quer
durch die größeren Gedichte tanzen lassen, in denen du lebst.
Außerhalb aller Poesie zu sein, ist unerreichbare Leere.

Warum Poesie schreiben? Für die bizarre Arbeitslosigkeit.
Für die schmerzlosen Kopfschmerzen, die man anzapfen muß,
um am Schreibarm den gesammelten Moment zu schlagen.
Für die Änderungen, wenn man Facetten eines Verbs ausrichtet,
bevor die Trance verblaßt. Um immer über die eigene Intelligenz

hinaus zu arbeiten. Dafür, sich nicht hochzuarbeiten und dabei
die Armen zu verraten. Für einen Ruhm, der nicht auffrißt.
In der Politik gleicht ihr nicht viel: womöglich
die Erfindung der australischen Kolonialisten, eine nun weit-
verbreitete geheime Wahl, in der sich Deflation verbergen kann,

um als Wohlfahrtsträger Massengrab-Revolutionen zu beschämen,
so axtschneidig, so liktorisch.
War das der einmalige, leuchtende Weltsieg moralischer Feigheit?
Traumrhythmen im Wachzustand und fern vom Bett einzuatmen zeigt
die Begabung. Tragisch sein mit einem Buch auf dem Kopf.


Es gibt das Gedicht auf der Seite des Griffin Poetry Prize vorgelesen. Die Zuhörer sind bei der Lesung immer am Lachen. Aber so lustig ist das Ganze eigentlich nicht.

Sonntag, 28. April 2024

Kinostadt


Am 28. April 1937 hat Benito Mussolini in Rom die Filmstadt Cinecittà eingeweiht. Für das Ereignis gab es hier vor sieben Jahren schon den Post Cinecittà. Es gibt aber noch einen zweiten Post über die römische Filmstadt. Das ist ein langer kuturhistorischer Post, der mehr als sechstausend Mal gelesen worden ist. Er heißt Cinecittà und die Mode und ist ein Post, den ich wirklich nur wärmstens empfehlen kann. Ob ich Roberta d'Angelos Abitare a Cinecittà wirklich empfehlen kann, das weiß ich nicht. Aber 1978 kam man an dem Lied der damals 22-jährigen nicht vorbei, das Lied lief überall. Ein Ohrwurm, wie man sagt. Es ist ein ironisches Lied über einen Vorort, der ein klein wenig heruntergekommen und kriminell geworden ist. Fellini dreht hier zwar noch, aber sonst ist hier für Zweiundzwanzigjährige nichts los. Roberta d'Angelo hatte Musik studiert und war mit ihren ersten Platten bei dem Label RCA. Die musikalische Dauerberieselung durch Cinecittà fand ich damals fürchterlich. Ich besitze keine einzige Platte von Roberta d'Angelo, obgleich Abitare a Cinecittà heute bei ebay schon einiges kostet. Aber ich habe mehrere Platten von der gleichaltrigen Gianna Nannini, die in ihrem Leben wahrscheinlich mehr Erfolg hatte als Roberta d'Angelo. Obgleich die an ihrer Platte gut verdient haben muss:
 
Cinecittà
Che bella città
Nella città, ah!
Cinecittà
Oh, oh, oh, Cinecittà
Che bella città
Nella città, ah!
Cinecittà

Qualcuno cammina sulle acque
Con un motorino rotto
Che ogni tanto fa un botto
Cambiano le carte in tavola
Con un asso nella manica
Moltiplicando i pesci e pure i fessi
Gli uni finiti in salamoia
Gli altri soffocati dalla noia

Cinecittà
Che bella città
Nella città, ah!
Cinecittà
Oh, oh, oh, Cinecittà
Che bella città
Nella città, ah!
Cinecittà

Con un po' d'amore di nascosto
Con tanta paura addosso
Come un cane senza osso
Con la rabbia che ti scoppia
Con la voglia di tutto
Che ti prende di brutto
Al Quadraro che è un posto amaro
Ho tramutato là per là
Un bar in un baccalà
Ma tutto è rimasto lo stesso
Come fuori adesso

Ah, Cinecittà
Che bella città
Nella città, ah!
Cinecittà
Oh, oh, oh, Cinecittà
Che bella città
Nella città, ah!
Cinecittà

Le macchine e gli stereo
Passano di proprietà
Con molta facilità
A Cinecittà
Fioriscono i casermoni
Come tante prigioni
L'acqua si tramuta in buchi
Troppi negozi, troppe luci
Senza soldi a Cinecittà
Senza far niente a Cinecittà

Ah, Cinecittà
Che bella città
Nella città, ah!
Cinecittà
Oh, oh, oh, Cinecittà
Che bella città
Nella città, ah!
Cinecittà

Non c'è niente di divertente da fare
Se non stare ad aspettare
E guardare quelli che
Al centro prendono il tè
Affermando che
"Abitare a piazza Navona
È una questione di atmosfera
Specialmente la sera, la sera, la sera"

Abitare a Cinecittà
Invece è una questione di...
Abitare a Cinecittà
Invece è una questione di...
Fedeltà

Cinecittà, ah!
Che bella città
Nella città
Oh, oh, oh, Cinecittà
Che bella città
Ne-nella città, ah!
Cinecittà
Cinecittà
Che bella città
Ne-nella città
Cinecittà
Oh, oh, oh, Cinecittà
Che bella città
Ne-nella città
Cinecittà
Oh, oh, oh, Cinecittà
Che bella città
Ne-nella città, ah!
Cinecittà
Oh, oh, oh, Cinecittà
Che bella città
Ne-nella città
Cinecittà
Oh, oh, oh, Cinecittà
Che bella città
Ne-nella città
Cinecittà
Oh, oh, oh, Cinecittà
Che bella città
Ne-nella città
Cinecittà

Samstag, 27. April 2024

Untertitel


Heute vor zweihundertvierzig Jahren kam das  das Theaterstück Le mariage de Figaro (Der tolle Tag oder Figaros Hochzeit) von Pierre Augustin Caron de Beaumarchais auf die Bühne. Es hätte schon sechs Jahre früher auf die Bühne kommen sollen, aber die Zensur war dagegen. Beaumarschais war ja eigentlich Uhrmacher, er hat eine neuartige Hemmung für Taschenuhren erfunden. Aber davon besitzen wir leider kein einziges Exemplar. Was er geschrieben hat, das besitzen wir aber. Zwei Jahre nach dem großen Erfolg von Beaumarchais' Komödie kam Mozarts Oper Le nozze di Figaro auf die Bühne. Diese Oper ist in diesem Blog immer wieder vorgekommen, zum letzten Mal in dem Post Marie Fajtová

Wenn man heute den Text einer Arie aus der Oper sucht, findet man den mit ein paar Klicks auf dem Computer. In den 1950er Jahren war das noch nicht so einfach. Ich besaß eine Langspielplatte von Le nozze di Figaro, aber ich wusste nicht so genau, was die da sangen. Es ging um Liebe, das war mir klar, aber ich wollte gerne einen Text haben. Bei einer Abendeinladung bei Freunden meiner Eltern entdeckte ich, dass der Dr Köpp eine Platte besaß, auf der man die Texte der wichtigsten Arien fand. Ich beteiligte mich nicht an der Unterhaltung, ich saß in einer Ecke und schrieb die Arien ab. In ein winzigkleines Notizbuch. Die herausgerissenen Seiten habe ich immer noch. Und die Arie des Cherubino habe ich immer noch im Kopf. Was man einmal mit der Hand abschreibt, das bleibt.

Als lyrischen Text gibt es heute die Arie des Cherubino, der in die Gräfin verknallt ist, und von der Gräfin und Susanna gerne wissen will, was die Liebe ist. Wenn Sie das gesungen hören wollen, habe ich die Arie hier von Liliana Nikiteanu gesungen. Es gibt dabei englische Untertitel:

Voi che sapete che cosa e amor, 
Donne, vedete, s’io l’ho nel cor,
Donne, vedete, s’io l’ho nel cor.
Quello ch’io provo, vi ridiro,
E per me nuovo capir nol so.
Sento un affetto pien di desir,
Ch’ora e diletto, ch’ora e martir.
Gelo e poi sento l’alma avvampar,
E in un momento torno a gelar.
Ricerco un bene fuori di me,
Non so chi il tiene, non so cos’ e.
Sospiro e gemo senza voler,
Palpito e tremo senza saper,
Non trovo pace notte ne di,
Ma pur mi piace languir cosi.
Voi, che sapete che cosa e amor
Donne, vedete, s’io l’ho nel cor


Es ist bei fremdsprachigen Opern immer schön, wenn der Text über das Video läuft. Ich habe hier eine Aufnahme der Wundertütenfabrik, bei der Arie des Cherubino ein völlig sinnloser Text unterlegt wird: Ihr wolltet schon immer wissen, was Sachen heißen? Prima! Deshalb gibt es hier die echten Texte von Sachen. In dem Fall von Oper - also genauer gesagt von Wolfgang Amadeus Mozart - Voi che sapete. Der Text natürlich in Untertiteln mitgeliefert, dass ihr beim nächsten Kulturstammtisch endlich mal mitreden könnt. Den Spaß kann man sich einmal angucken. Vielleicht hätte Mozart über so etwas auch gelacht.


Noch mehr von Figaros Hochzeit in den Posts:, The marriage of Figaro, Opernhaus Hannovercontessa, perdono (per la seconda volta), Hochzeitsvorbereitungen, Flimm ist schlimm und Contessa, perdono

Freitag, 26. April 2024

The Birds of America

John James La Forest Audubon wurde am 26. April 1785 in Les Cayes, Haiti geboren. Er ist berühmt geworden, weil er alle Vögel Amerikas gemalt hat. Obgleich ich im Gegensatz zu meinem Freund Gert Börnsen keinerlei ornithologische Interessen hatte, besitze ich einen zweibändigen Nachdruck der Birds of America. Weil das Buch einfach so schön ist. Und John James Audubon hat hier natürlich schon einen Post. Er wird in vielen anderen Posts erwähnt, besonders in dem über Adam Gopnik, der bei dem Team des New Yorker mein Lieblingsautor ust. So etwas wie sein Audubon Essay, der sich 1992 in dem Buch The Best American Essays findet, das macht ihm keiner nach. Er ist neben Joan Didion eins meiner großen Vorbilder, ich habe das wahrscheinlich schon einmal gesagt. Audubon findet sich auch in dem Post Amerikanische Dandies und einigen anderen Posts.

Es gibt genügend Gedichte über Audubon, ich finde die Seite von Colin Morris sehr hübsch, aber ich nehme mir heute The Birds of America von Billy Collins. Der amerikanische Dichter, über den John Updike gesagt hat: Billy Collins writes lovely poems... Limpid, gently and consistently startling, more serious than they seem, they describe all the worlds that are and were and some others besides, war hier vor Jahren schon in den Post flinke Finger und Hart Crane

Early this morning
in a rumpled bed,
listening to birdsong
through the propped-open windows,

I saw on the ceiling
the figure of John J. Audubon
kneeling before
the pliant body of an expired duck.

I could see its slender, limp neck,
rich chestnut crown,
and soft grey throat,
and bright red bill,

even the strange pink legs.
And when I closed my eyes again
I could hear him whisper
in his hybrid Creole accent

I have taken your life
so that some night a man
might open a book
and run his hand over your feathers,

so that he could come close enough
to study your pale brown flecks,
your white chin patch,
and the electric green of your neck,

so that he might approach
without frightening you into the sky,
and wonder how strange
to the earth he has become,

so that he might see by his lamp light
the glistening in your eye
then take to the air
and fly alongside you.

Ich habe hier, falls Sie das brauchen sollten, eine Interpretation des Gedichts. Billy Collins war von 2001 bis 2003 Poet Laureate der Vereinigten Staaten. In seinem Heimatstaat New York wurde er 2004 zum New Yorker Staatsdichter ausgewählt. Er ist wahrscheinlich Amerikas beliebtester Dichter ist, und er mag Vögel. Er hat die schöne Anthologie Bright Wings: An Illustrated Anthology of Poems About Birds herausgegeben. Ich habe noch ein Gedicht von ihm, in dem auch John James Audubon drin vorkam; aber er hat es dann geändert und the way John Audubon might have wandered durch like some American of the nineteenth century who is wandering ersetzt. Das Gedicht heißt Questions about Birds, ich finde, er hätte Audubon in dem Gedicht lassen sollen:

I am going to sit down on a rock near some water
or lie supine on the grass under the trees
and under a high ceiling of white clouds

and I am going to stop talking
so I can wander there like some American
of the nineteenth century who is wandering

through a forest of speckled sunlight
and I am going to imagine him stopping
to lean against an elm to mop his brow

as he listens to the songs of birds
and wonders—like me—if they sleep with open eyes
and how they regard the songs of other species.

Would it be like listening to the rapid Chinese
of men bargaining over a stall?
Or do all the birds perfectly understand each other?

Donnerstag, 25. April 2024

Odysseus


Der Maler Friedrich Preller der Ältere wurde heute vor zweihundertzwanzig Jahren geboren, er war kein besonders guter Maler. Aber einige seiner Bilder sind von klein auf in meinem Kopf. Weil seine nackten Frauen so kugelig gedrechselte Brüste haben. Das hatte ich mit sechzehn in einem Bildband meines Opas entdeckt. Außer am Nacktbadestrand von Sylt gab es in den fünfziger Jahren ja wenige nackte Frauen zu sehen. Auf diesem Bild sind es die Sirenen, die Odysseus zu betören versuchen. Das Bild besitzt die Kunsthalle Kiel, aber sie hat es nicht ausgestellt, ebensoweig wie das Bild von Francesca da Rimini und Paolo Malatesta, das sich im Post Nackt findet. Entweder haben sie etwas gegen Aktmalerei oder etwas gegen zweitklassige Kunst. Wahrscheinlich ist es das Letztere. Ich habe das Bild von Odysseus und den Sirenen schon in dem Post Chanson abgebildet. 

Das Bild gehört zu einem ganzen Zyklus von Odysseusbildern, die Preller gemalt hat. Wobei der Höhepunkt der kitschigen Aktmalerei wohl das Bild ist, wo Leukothea dem Odysseus im Sturm erscheint. Das Bild gehört auch der Kieler Kunsthalle, ist aber auch nicht ausgestellt. Ist aber sowieso egal, die Kunsthalle ist für fünf Jahre geschlossen. Die machen plötzlich überall zu. Das Focke Museum in Bremen ist erst in zwei Jahren wieder offen, und wann der Neubau vom Stadtmuseum in Oldenburg fertig ist, weiß niemand so recht. Und die Berliner Museen haben ihre Öffnungszeiten verkürzt. Wenn Sie alles über den Odysseus Zyklus von Friedrich Preller wissen wollen, dann klicken Sie diese schöne Seite vom Goethezeitportal an.

Ein Gedicht über Odysseus habe ich natürlich, es ist das vielleicht berühmteste Gedicht von Lord Tennyson. Den mag ich zwar nicht besonders, ich habe in dem Post bêtes noires gesagt: Tennyson hat furchtbar lange und furchtbar langweilige Gedichte geschrieben, die von den langweiligen Viktorianern für große Lyrik genommen wurden. Aber Tennysons Ulysses, das T. S. Elio a perfect poem genannt hat, ist schon etwas Besonderes. Es ist auch etwas sehr Persönliches, Tennyson hat geschrieben: There is more about myself in 'Ulysses,' which was written under the sense of loss and that all had gone by, but that still life must be fought out to the end. It was more written with the feeling of his loss upon me than many poems. Das Gedicht ist in Blankversen geschrieben, dem seit Shakespeare bevorzugten Metrum der englischen Lyrik:

It little profits that an idle king,
By this still hearth, among these barren crags,
Match'd with an aged wife, I mete and dole
Unequal laws unto a savage race,
That hoard, and sleep, and feed, and know not me.

I cannot rest from travel: I will drink
Life to the lees: all times I have enjoyed
Greatly, have suffered greatly, both with those
That loved me, and alone; on shore, and when
Through scudding drifts the rainy Hyades
Vexed the dim sea: I am become a name;
For always roaming with a hungry heart
Much have I seen and known; cities of men
And manners, climates, councils, governments,
Myself not least, but honoured of them all;
And drunk delight of battle with my peers;
Far on the ringing plains of windy Troy.

I am a part of all that I have met;
Yet all experience is an arch wherethrough
Gleams that untravelled world, whose margin fades
For ever and for ever when I move.
How dull it is to pause, to make an end,
To rust unburnished, not to shine in use!
As though to breathe were life. Life piled on life
Were all too little, and of one to me
Little remains: but every hour is saved
From that eternal silence, something more,
A bringer of new things; and vile it were
For some three suns to store and hoard myself,
And this grey spirit yearning in desire
To follow knowledge like a sinking star,
Beyond the utmost bound of human thought.

This is my son, mine own Telemachus,
To whom I leave the sceptre and the isle -
Well-loved of me, discerning to fulfil
This labour, by slow prudence to make mild
A rugged people, and through soft degrees
Subdue them to the useful and the good.
Most blameless is he, centred in the sphere
Of common duties, decent not to fail
In offices of tenderness, and pay
Meet adoration to my household gods,
When I am gone. He works his work, I mine.

There lies the port; the vessel puffs her sail:
There gloom the dark broad seas. My mariners,
Souls that have toil'd, and wrought, and thought with me -
That ever with a frolic welcome took
The thunder and the sunshine, and opposed
Free hearts, free foreheads - you and I are old;
Old age hath yet his honour and his toil;
Death closes all: but something ere the end,
Some work of noble note, may yet be done,
Not unbecoming men that strove with Gods.

The lights begin to twinkle from the rocks:
The long day wanes: the slow moon climbs: the deep
Moans round with many voices. Come, my friends,
'Tis not too late to seek a newer world.
Push off, and sitting well in order smite
The sounding furrows; for my purpose holds
To sail beyond the sunset, and the baths
Of all the western stars, until I die.
It may be that the gulfs will wash us down:
It may be we shall touch the Happy Isles,
And see the great Achilles, whom we knew.

Tho' much is taken, much abides; and though
We are not now that strength which in old days
Moved earth and heaven; that which we are, we are;
One equal temper of heroic hearts,
Made weak by time and fate, but strong in will
To strive, to seek, to find, and not to yield.


Die letzte Strophe ist immer wieder zitiert worden. Sie ist auch in die Populäre Kultur gewandert. Der Chief Inspector Morse zitiert sie in der Folge Death is now my neighbour. Und James Bond Freunde wissen, dass Judi Dench als Geheimdienstchef M die Strophe in Skyfall rezitiert.

Mittwoch, 24. April 2024

Min Modersprak


Der Dichter Klaus Groth war von Anfang an in diesem Blog. Er gehörte gewissermaßen zu meinem Heimatort, weil er in den Sommermonaten häufig in unserer Straße wohnte. Seine Schwiegereltern hatten dort eine Villa. Es ist auch viel Plattdeutsch in meinem Blog. Mein Opa sprach das Platt aus dem Osnabrücker Land, mein Vater sprach das Platt der Gegend, aus der Klaus Groth kam. Ich bin noch mit der Sprache aufgewachsen, und in weit über fünfzig Posts kommt das Plattdeutsche vor. Wenn das bisher an Ihnen vorbeigelaufen sein sollte, dann empfehle ich Ihnen die Lektüre des Posts Mandalay, in dem sich eine wunderbare plattdeutsche Übersetzung von Kiplings berühmten Gedicht findet. So sehr ich das Plattdeutsche mag, es ist nicht meine Muttersprache. Aber es war die Muttersprache von Klaus Groth, und der soll er heute an seinem Geburtstag mal wieder in den Blog kommen. Mit seinem Gedicht Min Modersprak:

Min Modersprak, wa klingst du schön!
Wa büst du mi vertrut!
Weer ok min Hart as Stahl un Steen,
du drevst den Stolt herut.

Du bögst min stiwe Nack so licht
as Moder mit ern Arm,
du fichelst mi umt Angesicht –
un still is alle Larm.

Ik föhl mi as en lüttjet Kind,
de ganze Welt is weg.
Du pust mi as en Vaerjahrswind
de kranke Boss torecht.

Min Obbe folt mi noch de Hann'
un seggt to mi: »Nu be!«
Un »Vaderunser« fang ik an,
as ik wul fröher de.

Un föhl so deep: dat ward verstan,
so sprickt dat Hart sik ut.
Un Rau vunn Himmel weiht mi an,
un allns is wedder gut!

Min Modersprak, so slicht un recht,
du ole frame Red!
Wenn blot en Mund »min Vader« seggt,
so klingt mi't as en Bed.

So herrli klingt mi keen Musik
un singt keen Nachdigal;
mi lopt je glik in Ogenblick
de hellen Thran hendal.

Ich suchte bei YouTube jemanden, der das Gedicht vorträgt, fand aber nur Leute, die das Gedicht sangen. Das ist erstaunlich. Hören Sie doch hier einmal hinein. Gibt es sogar als Chor, irgendwie ist das ziemlich komisch. Natürlich gibt es Lieder von Groth, zum Beispiel, die, die Johannes Brahms vertont hat, Aber Min Modersprak ist vom Dichter bestimmt nicht für einen gemischten Chor bestimmt gewesen. Und da ich bei Chören bin, möchte ich noch anmerken, dass die Geschichte Chorprobe, die ich am 7. März erwähnte, endlich fertig geworden ist. Die schöne Buchhändlerin wird hier irgendwann im Mai stehen.

Das Gedicht Min Modersprak findet sich in Klaus Groth: Quickborn: Volksleben in plattdeutschen Gedichten ditmarscher Mundart; mit einer wortgetreuen Übersetzung und einem Vorwort für hochdeutsche Leser. - unter Autorität des Verfassers herausgegebene 5. verm. u. verb. Aufl., 1. mit e. Übers. Hamburg: Perthes-Besser & Mauke, 1856. Aus dem Titel geht nicht hervor ob die wortgetreue Übersetzung von Klaus Groth stammt. Aber ich habe sie natürlich für Sie:

Meine Muttersprache

Meine Muttersprache, wie klingst du schön!
wie bist du mir vertraut!
Wär´ auch mein Herz aus Stahl und Stein,
du triebst den Stolz heraus.

Du beugst meinen starren Nacken so leicht,
wie Mutter mit ihrem Arm,
du kosest mir ums Angesicht
und still ist aller Lärm.

Ich fühle mich wie ein kleines Kind,
Die ganze Welt ist fort.
Du hauchst mir wie ein Frühlingswind
Die kranke Brust gesund.

Mein Opa faltet mir noch die Hände
Und sagt zu mir: Nun bete!
Und 'Vaterunser' fang ich an
Wie ichs wohl früher tat.

Und fühle tief: Das wird verstanden.
So spricht das Herz sich aus,
Und Ruhe vom Himmel weht mich an,
Und alles ist wieder gut.

O Muttersprache, schlicht und recht,
Du alte sanfte Rede! 
Wenn bloß ein Mund 'min Vader' ! sagt , 
So klingt mir's wie Gebet. 

So herrlich klingt mir keine Musik , 
Singt keine Nachtigall, 
Mir fließen ja sogleich  
Die hellen Tränen nieder.

Dienstag, 23. April 2024

Robert Desnos


Am 23. April 1965 wurde in Paris der Peugeot 204 vorgestellt, das erste Auto von Peugeot mit Frontantrieb (und Scheibenbremsen). Ich kenne den Wagen, ich hatte einen, das steht schon in dem Post Traumwagen. Als ich mir einen neuen 204 kaufen wollte, gab es das Modell nicht mehr. Da habe ich mir meinen ersten Golf gekauft. Der hatte zwar auch ein Schiebedach, aber er besaß natürlich nicht die Armaturen von Jaeger-LeCoultre, die der Peugeot hatte. Mein Gedicht kommt heute von dem Franzosen Robert Desnos, einem Dichter der Avantgarde. Er war ein Vertreter des Surrealismus. Hier ist er mit anderen Surrealisten (André Breton und Paul Éluard sind auch dabei) bei einem Jahrmarktbesuch, Desnos ist der zweite von links. Er liebte Sprachspielereien. Wie in diesem Gedicht über die Ameise:

Une fourmi de dix-huit mètres
avec un chapeau sur la tête
ça n'existe pas, ça n'existe pas.
Une fourmi traînant un char
plein de pingouins et de canards
ça n'existe pas, ça n'existe pas.
Une fourmi parlant français
parlant latin et javanais
ça n'existe pas, ça n'existe pas.
eh ! et pourquoi pas !


Juliette Gréco hat das gesungen, sogar auf deutsch. Das war auf der Platte, die der Twen 1965 herausgebracht hatte. Die habe ich immer noch. Robert Desnos, dessen geistige Väter Baudelaire und Rimbaud waren, kann auch andere Dinge als die Sache mit der Ameise und die vielen wortspielerschen Kindergedichte. 

Wenn Desnos nicht dichtete, nicht für das Radio und den Film arbeitete, schrieb er Werbesprüche, so etwas bringt Geld, Gedichte bringen nicht so viel. Mehr als hundert Werbesprüche hat er für Cinzano, Nivea und für die Seifenfirma Cadum verfasst. Und auch für die Automobile von Peugeot. Deren erfolgreichstes Modell war damals der Peugeot 201. Desnos war der Meinung, dass seine Kindergedichte das Einzige wären, was von ihm überleben würde: Ce que j'écris ici ou ailleurs n'intéressera sans doute que quelques curieux espacés au long des années. Tous les vingt-cinq ou trente ans on exhumera dans quelques publications confidentielles mon nom et quelques extraits, toujours les mêmes. Les poèmes pour enfants auront survécu un peu plus longtemps que le reste. J'appartiendrai au chapitre de la curiosité limitée. Es ist mehr von ihm geblieben, nicht nur die Ameise und die Kindergedichte. In der französischen Wikipedia hat er einen erstklassigen Artikel, so etwas wünschte man sich auch im deutschen Teil der Wikipedia.

Mit dem Einmarsch der Deutschen geht es mit dem Surrealismus zu Ende, von dem hatte sich Desnos längst getrennt. Breton emigriert in die USA, Éluard und Desnos gehen in die Résistance. Im Februar 1944 wird Desnos von der Gestapo verhaftet und kommt in das Lager Royallieu, ein Sammellager für Deportationen. Dann folgen die Stationen Auschwitz, Buchenwald und Flossenbürg. Von dort kommt er in das Lager Flöha in Sachsen, wo er für die dort ansässige Tarnfirma Fortuna G.m.b.H. mit sechshundert anderen Häftlingen Flugzeugteile für die Messerschmidt Bomber herstellen muss. Da denkt er wahrscheinlich nicht mehr an das Pappflugzeug auf dem Jahrmarkt, in dem er mit den anderen Surrealisten posierte. Obgleich ihn sein Lebensmut und seine Kreativität nie verlassen hat, er schreibt noch im KZ Gedichte. Und er erfindet seltsame Dinge, um den Mithäftlingen das Leben zu erleichtern. Aber er infiziert sich mit Typhus und stirbt am 8. Juni in Theresienstadt, wenige Wochen nach der Befreiung des Konzentrationslagers. Jusqu’à la mort, Robert Desnos a lutté pour ce qu’il avait à dire et pour l’idée de la liberté, qui tout au long de ses poèmes, court comme un feu terrible, claque comme un drapeau parmi les images les plus neuves, les plus violentes aussi. La poésie de Desnos, c’est la poésie du courage. Il a toutes les audaces possibles de pensée et d’expression. Il va vers l’amour, vers la vie, vers la mort sans jamais douter, wird Paul Éluard nach dem Krieg sagen.

In seinem Gedichtband Contrée, in dem seine Gedichte aus der Zeit von 1942 und 1943 gesammelt sind, findet sich das Gedicht L’épitaphe, das, im Ton von François Villon geschrieben, seinen Tod schon vorwegnimmt:

L’épitaphe

J’ai vécu dans ces temps et depuis mille années
Je suis mort. Je vivais, non déchu mais traqué.
Toute noblesse humaine étant emprisonnée
J’étais libre parmi les esclaves masqués.

J’ai vécu dans ces temps et pourtant j’étais libre.
Je regardais le fleuve et la terre et le ciel
Tourner autour de moi, garder leur équilibre
Et les saisons fournir leurs oiseaux et leur miel.

Vous qui vivez qu’avez-vous fait de ces fortunes?
Regrettez-vous les temps où je me débattais?
Avez-vous cultivé pour des moissons communes?
Avez-vous enrichi la ville où j’habitais?

Vivants, ne craignez rien de moi, car je suis mort.
Rien ne survit de mon esprit ni de mon corps.


Paul Celan hat das Gedicht ins Deutsche übersetzt:

Ich bin der Tote, der durch jene Zeiten schritt.
Vor tausend Jahren. Aufrecht und gejagt.
Das Menschliche, von Mauern war’s umrangt.
Vermummte Sklaven rings – ich lebte mit.

In jenen Zeiten lebt ich – lebt ich frei.
Mein Auge sah die Erde, es sah zum Himmel auf,
Ich sah, wie alles kreischte, ich sah den Wasserlauf.
Die Blüte gab den Honig, der Vogel zog vorbei.

Mit alledem, ihr Menschen, was fingt ihr damit an?
Die Zeit, in der ich’s schwer hatt’, tragt ihr sie noch im Sinn?
Sät ihr die Saat gemeinsam und erntet jedermann?
Ist sie durch euch jetzt schöner, die Stadt, aus der ich bin?

Ihr Lebenden, ich leb nicht, ihr braucht nicht bang zu sein.
Mein Leib, er lebt nicht weiter, mein Geist nicht, nichts, was mein.


Ich weiß nicht, warum ich immer, wenn ich so etwas lese, an Björn Höcke denken muss.